Carlotta Capella kochte gern. Vor allem, wenn sie viel Zeit hatte, wenn sie in aller Ruhe einkaufen, Gemüse putzen, sich während des Schnippelns unterhalten oder zumindest mit dem Radiomoderator diskutieren konnte. Das tat sie, wenn niemand da war, der für einen Meinungsaustausch zur Verfügung stand. In ihrem Dorf in Umbrien war sie zwar selten allein, aber häufig war ihre Gesellschaft ein schlafendes Baby oder ein Kindergartenkind, das mit Teigausrollen, Plätzchenausstechen oder Supperühren bei Laune gehalten werden musste. Keine echten Gesprächspartner also, noch ungeeigneter als der Radiomoderator, der genauso wenig auf Carlottas Einwände einging wie ein Kleinkind, aber wenigstens beim Thema blieb.
Auf Sylt war alles anders. Hier fehlte auch oft ein Gesprächspartner, aber vor allem die Zeit, sich in aller Ruhe den Antipasti, dem Primo, Secondo und Dolce zu widmen. Immer musste alles schnell gehen, oft zwischen Tür und Angel, ständig war etwas zu erledigen, in das sich das Kochen manchmal nur mühsam einfügte. Carlotta fragte sich häufig, wie ihre Tochter es früher hinbekommen hatte, neben Eriks aufregendem Beruf noch den Haushalt zu führen. Möglich natürlich, dass Lucia sich nie mit den Fällen ihres Mannes beschäftigt hatte, das war die einzige Erklärung. Aber sich aus einer Sache raushalten, das war nicht Mamma Carlottas Ding. Auch in Panidomino interessierte sie sich für die Arbeit des Dorfpolizisten, erst recht, seit sie regelmäßig nach Sylt fuhr und viel von Polizeiarbeit gelernt hatte. Das hatte sogar Francesco eingesehen, der noch nie in die Lage gekommen war, einen Mord aufklären zu müssen. Ladendiebstahl, Betrug oder üble Nachrede war das Äußerste. Dann holte er gern Carlottas Meinung ein, sie war für ihn so etwas wie eine Expertin geworden. Jemand, der schon bei der Aufklärung von mehreren Morden geholfen hatte, erledigte solche Kleinigkeiten ja nebenbei. Allora … immer hatte es mit der Aufklärung leider nicht geklappt, aber trotzdem hatte Francesco nie an ihren Fähigkeiten gezweifelt. Er wusste dann nur: Was Carlotta Capella nicht herausbekam, konnte man getrost zu den unerledigten Fällen legen, von denen es viele in der Polizeistation von Panidomino gab. Auf einen mehr oder weniger kam es da wirklich nicht an.
An diesem Tag war Mamma Carlotta nervös. Auch das kam in Panidomino selten vor. Aber dass sie kochte, ohne zu wissen, ob und wann jemand hungrig heimkehren würde, das passierte nur auf Sylt und wurde dort sogar nach und nach zur Regel. »Molto noioso!«
Sie strich ihre dunklen Locken aus dem Gesicht, die nach wie vor nur wenige graue Strähnen aufwiesen, und wischte sich über die feuchte Stirn. Obwohl es in der Küche nicht warm war, schwitzte sie. Voller Ingrimm dachte sie an die Worte der mageren Verkäuferin auf dem Markt von Panidomino. Die hatte doch tatsächlich behauptet, dass dicke Leute nun mal mehr schwitzten als dünne. Mamma Carlotta kaufte ihr Gemüse seitdem immer an dem Stand direkt nebenan, um der mageren Verkäuferin zu zeigen, wie unverschämt sie diese Bemerkung gefunden hatte. Sie trug Größe 44! Das war für eine italienische Mamma in ihrem Alter völlig normal. Während ihr Dino gepflegt werden musste und sie gezwungen gewesen war, Tag und Nacht bei ihm zu wachen und ihr Leben mit viel Schokolade erträglicher zu machen, hatte sie Kleidung in Größe 48 gebraucht. Als Witwe war sie dann schlanker geworden und sehr stolz darauf. Und dann kam so eine Verkäuferin … Aber sie wischte diesen Gedanken beiseite. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun: ein Essen vorbereiten, das später schnell und ohne Qualitätsverlust aufgewärmt werden konnte. In Panidomino kam das Essen Tag für Tag zur selben Zeit auf den Tisch, und die ganze Familie fand sich immer pünktlich in der Küche ein. Aber die Familie ihrer verstorbenen Tochter war aus den Fugen geraten. Carolin lebte mit einem Mann, vor dem ihre Nonna sie gründlich gewarnt hatte, in Hamburg, und Felix machte zurzeit ein Praktikum bei einem Immobilienmakler, der es mit geregelten Arbeitszeiten nicht so genau nahm. Manchmal erschien Felix pünktlich bei Tisch, mal verspätet, dann wieder gar nicht. Und wenn Erik in einem Kapitalverbrechen ermittelte, wusste man nie, ob er Zeit zum Essen finden würde. Andererseits war es natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass Erik und sein Mitarbeiter Sören Kretschmer von ihrer schweren Ermittlungsarbeit erschöpft in den Süder Wung zurückkehrten und zu hören bekamen, dass kein Essen für sie bereitstand. Dieses Risiko ging Mamma Carlotta niemals ein. Etwas gekocht zu haben, ohne dass jemand Zeit fand, auch nur einen Löffel davon zu probieren, war zwar höchst ärgerlich, aber doch längst nicht so schlimm wie der Hunger eines Angehörigen, der sich genötigt sah, ihn mit einem Fischbrötchen an einer Straßenecke zu stillen.
An diesem Tag war mal wieder alles unklar. Erik war nach Flensburg gefahren, zu einem Prozess, dem er mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte. Wann er zurückkommen würde, war völlig offen. Möglich, dass das Essen erst am Abend auf den Tisch kommen konnte. Aber das hatte Carlotta bedacht. Die Mortadellaröllchen lagen schon im Kühlschrank und würden am Abend noch gut schmecken, die Kichererbsensuppe war gekocht und musste nur erhitzt werden, wenn die Familie heimkam, ob mittags oder abends, spielte keine Rolle. Den Schweinerouladen mit den Aprikosen konnte sie, wenn alle am Tisch saßen, noch den letzten Schliff geben, und der Rhabarberkuchen war längst aus dem Ofen geholt worden. Den konnte sie auch servieren, wenn Erik und Sören am Nachmittag zurückkamen und einen starken Kaffee brauchten, zu dem der Rhabarberkuchen gut passen würde.
Sie strich die Mischung aus klein gehackten Aprikosen und angebratenem Speck auf die Rouladen, rollte sie auf und steckte sie mit spitzen Holzstäbchen fest, damit sie nicht auseinanderfielen. Wie mochte dieser Prozess ausgehen? Erik litt sehr darunter, dass an diesem Tag womöglich eine Frau freigesprochen werden würde, die vor fünf Jahren immer wieder ihre Unschuld beteuert hatte. Er war dennoch fest davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Schwiegermutter erschlagen hatte, und die Richter waren ebenfalls zu diesem Schluss gekommen. Ein Indizienprozess! Mamma Carlotta hatte dieses neue Wort lange üben müssen, bis es ihr über die Lippen floss.
»Indizien.«
Natürlich war auch »processo indiziario« kein leichtes Wort, aber das rollte ihr nur so von der Zunge. Klar, für eine echte Italienerin war das eben kein Problem. Aber mit den spitzen Lauten von »Indizien« hatte sie ihre liebe Mühe gehabt, selbst wenn sie den Sinn des Wortes natürlich sofort verstanden hatte. Gestand ein mutmaßlicher Täter nicht, wurde er manchmal anhand der vorhandenen Indizien verurteilt, sofern sie ausreichten, um von seiner Schuld überzeugt zu sein. Ein Prozess, der immer einen schalen Beigeschmack hatte.
War Sandra Lührsen die Mörderin, oder war sie es nicht? Diese Frage war nach der Urteilsverkündung vor fünf Jahren noch lange gestellt worden, auch wenn Richter und Staatsanwalt von ihrer Schuld überzeugt gewesen waren. Die Frage, ob vielleicht die Falsche ins Gefängnis gegangen war, wurde auf Sylt noch immer gestellt, und jeder hatte eine andere Meinung. Für Mamma Carlotta war es jedoch das Schlimmste, dass Erik sich Vorwürfe machen würde. Hatte er damals gründlich genug ermittelt? Hätte er andere Schlüsse ziehen müssen? Hatte er nichts unversucht gelassen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen? Sie wusste, dass ihn keine Schuld traf, aber er selbst zweifelte, seit der Ehemann der verurteilten Mörderin gestorben war und einen Brief hinterlassen hatte, der alles infrage stellte …