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Sie hatten Glück. Von Flensburg bis Niebüll brauchten sie keine Stunde, und als sie an der Verladestation ankamen, dauerte es nur zehn Minuten bis zur Abfahrt des nächsten Autozugs. Die Ladefläche war nicht voll, im November war keine Saison. Erik stellte die Rückenlehne zurück, Tilla und Carolin schnallten sich ab, als der Zug das Festland verließ und auf den Hindenburgdamm fuhr. Es war ein sonniger, wenn auch kalter Tag. Eine silbrige Wintersonne wurde von schleierhaften Wolken garniert, die den ganzen Himmel überzogen, ohne ihm sein Blau zu nehmen. Das Wasser stieg, die Flut war aber noch von ihrem Höhepunkt entfernt. Kleine, muntere Wellen sprangen auf den Damm zu, als wollte eine die andere überholen, um als erste zu dem Zug zu kommen, der Richtung Sylt fuhr.

Erik genoss es, Carolin auf dem Rücksitz zu wissen, und die Frage schoss durch seinen Kopf, ob es ihm lieber wäre, sie säße auf dem Beifahrersitz und er könnte allein mit ihr sein. Aber ihm wurde schnell klar, dass die Überfahrt dann schwieriger würde. Er sollte froh sein, dass er nicht in Versuchung kommen würde, Carolin nach ihren Zukunftsplänen zu fragen. Das war viel zu früh. Seine Tochter würde sich nur wieder in die Familie einfügen, wenn ihr die Rückkehr leicht gemacht wurde. Und dabei half die Anwesenheit der Staatsanwältin.

Erik seufzte auf. »Hätte ich damals merken müssen, dass Sandra Lührsen unschuldig war?«

Die Frage hatte er an Tilla gerichtet. Sie nahm den Kopf nicht von seiner Schulter, während sie antwortete: »Wie denn? Es gab keinen Grund, der Aussage des Ehemanns nicht zu vertrauen.«

»Er hat eiskalt gelogen«, sagte Carolin, und Erik war froh, dass sie ihn von jeder Schuld freisprach. Er hatte tatsächlich Angst davor gehabt, dass sie ihm vorwarf, daran schuld zu sein, dass Sandra Lührsen fünf Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen hatte.

»Weil sie ihn eiskalt betrogen hat«, meinte Tilla. »Sie kann froh sein, dass er so früh verstorben ist. Sonst hätte sie noch länger gesessen.«

»Was hatte er?«, fragte Carolin. »Krebs?«

Erik nickte. »Magenkrebs. Er wusste wohl ziemlich bald nach der Diagnose, dass er nicht lange überleben würde, und hat den Brief rechtzeitig geschrieben.«

Jetzt setzte Tilla sich aufrecht hin. »Ein starkes Stück.« Sie zupfte ihren Rock zurecht und kontrollierte den Knopfverschluss ihrer Bluse, als ginge es darum, in die Rolle der Staatsanwältin zu schlüpfen und gut gekleidet zu sein, wenn sie die Anklage vorlas. »Als ihr Mann damals die Aussage gemacht hat, muss sie gewusst haben, dass er sie ans Messer liefern wollte. Und auch, warum.«

»Ich weiß noch, dass sie ihren Mann angeschrien hat.« Erik schüttelte sich, als er sich an die Szene im Gerichtssaal erinnerte. »Du lügst! Warum lügst du? Willst du mich loswerden?« Er senkte seine Stimme. »Man hat sie aus dem Saal gebracht, weil sie nicht aufhörte zu schreien und zu toben.«

Tilla blieb sachlich. »Aber sie hat nicht erwähnt, dass sie einen Geliebten hatte? Dann hätte sie Jesko vor Gericht unterstellen können, dass er sich an ihr rächen wollte.«

Erik schüttelte den Kopf. »Vermutlich ist sie davon ausgegangen, dass ihr das mehr schaden als nützen könnte. Wahrscheinlich hat sie auch nicht gewusst, dass er ihr längst auf die Schliche gekommen war. Sie hatte Angst, etwas auszuplaudern, was niemand ahnte. Und wenn er sich unwissend gestellt hätte, wäre seine Aussage weiterhin glaubwürdig gewesen.«

»Aber schlimmer, als es dann gekommen ist, hätte es für sie nicht werden können.«

»Als das Urteil gesprochen war, konnte sie nichts mehr machen.« Es blieb eine Weile still im Auto, bis Erik leise fragte: »Hätten wir das erkennen können?«

»Du hast nicht gewusst, dass sie einen Liebhaber hatte. So konnte auch keiner auf die Idee kommen, dass ihr Mann sich rächen wollte. Es gab mehrere Zeugen, die übereinstimmend erklärt haben, dass Jesko Lührsen seine Frau sehr geliebt hat. Er hat viel für sie getan und sie immer gegen seine Mutter verteidigt. Als sie wegen eines Rückenleidens nicht mehr arbeiten konnte, hat er Schulden aufgenommen und ihr ein Atelier gebaut. Sie wollte dann ja Malerin werden. Sie soll schon als junges Mädchen gern gemalt haben. Aber in ihrem Elternhaus gab es selten Geld für so was wie Farben und gute Pinsel.«

»Hat sie jemals ein Bild verkauft?«, fragte Carolin neugierig.

Erik zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber sie hat Zeichenkurse gegeben, um ein bisschen Geld zu verdienen.«

»Eine erfolglose Künstlerin zeigt anderen, wie man erfolgreich malt?« Tillas Stimme war voller Spott.

»Ihre Kurse waren bei Touristen wohl sehr beliebt. Vor allem die Aktmalerei. Vielleicht versteht sie ja wirklich etwas von der Sache, ich weiß es nicht.« Erik wischte dieses Thema unwirsch aus der Luft. »Jedenfalls gab es für niemanden einen Zweifel, dass Jesko Lührsen in seine Frau geradezu vernarrt war. Das hat jeder betont, der das Ehepaar kannte. Dass er ihr derart schaden könnte, hat niemand für möglich gehalten.«

Carolin beugte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorn. »Das gibt eine tolle Story. Hoffentlich kann ich mit ihr reden. Kennt ihr den Namen des Liebhabers?«

Erik war erleichtert gewesen, dass er während der kurzen Verhandlung nicht genannt worden war, obwohl Jesko Lührsen ihn in seinem Brief erwähnt hatte. Aber da die Verhandlung öffentlich gewesen war, hatte der Richter den Brief nicht Wort für Wort vorgelesen.

»Der Name ist unbekannt«, antwortete Erik und merkte, dass Tilla fast unmerklich nickte. Sie war also auch der Ansicht, dass Carolin diesen Namen nicht erfahren sollte. Das fehlte noch, dass er Maximilian Witt zu einer Story verhalf, in der er eine Sensation verkündete, die den nächsten Prozess wegen Rufmords nach sich zog. Er kannte diesen Kerl doch! Der würde nicht erst herausfinden wollen, ob eine Behauptung der Wahrheit entsprach. Der würde den Namen des Liebhabers raushauen, auch wenn er damit eine Ehe zerstörte und einen Mann verunglimpfte.