Sören Kretschmer kam als Erster im Süder Wung an, mit rosigen Wangen und aufgeplusterten Haaren, als er die Mütze vom Kopf gezogen hatte. Er war knapp dreißig Jahre alt, durchtrainiert und schlank. Wer allerdings nichts anderes als sein kugelrundes Gesicht sah, konnte ihn für untersetzt halten, denn es war dick und apfelbäckchenrot. Mamma Carlotta hätte ihm die schütteren blonden Haare am liebsten geglättet, die um seinen Kopf herum abstanden wie das Gefieder eines Gänsekükens. Sie hatte das Klappern seines Schlosses gehört, mit dem er sein Rennrad am Gartenzaun befestigte, und riss schon die Tür auf, kaum dass die Melodieklingel mit dem Donauwalzer begonnen hatte. Kükeltje, die rabenschwarze Katze der Wolfs, stolzierte die Treppe herunter, um nachzusehen, wer zu Besuch kam, hatte sich aber längst damit abgefunden, dass sie selten als Erste die Tür erreichte. Gegen Mamma Carlottas Tempo kam selbst eine gesunde Katze in besten Jahren nicht immer an.
»Buon giorno, Sören!« Carlotta stieß die Küchentür auf und schob den Mitarbeiter ihres Schwiegersohns hindurch. »Siediti! Nehmen Sie Platz, Sören! Un espresso? Un acqua minerale? Enrico ist noch nicht da.« Während sie darüber lamentierte, dass es für eine Köchin sehr unangenehm sei, nicht zu wissen, wann die Familie zu erwarten war, die dann aber, wenn sie heimkam, den Anspruch hatte, sofort beköstigt zu werden, gelang es Sören nicht, sie zu unterbrechen. Erst als er ein Glas vor sich stehen hatte und die Schwiegermutter seines Chefs ihm einen Limoncello eingoss, obwohl er eigentlich um einen Espresso hatte bitten wollen, schaffte er es zu sagen: »Er muss bald kommen. Die Staatsanwältin auch.«
Dem Wirbel, der auf seine Worte folgte, entzog er sich, indem er sich ausgiebig dem Limoncello widmete. Ein weiteres Gedeck musste her! Carlotta hatte ja keine Ahnung gehabt, dass die Staatsanwältin mitkommen würde! Hoffentlich reichte das Essen! Sie würde gleich die Anzahl der Mortadellaröllchen überprüfen müssen! Und wie gut, dass sie immer ein oder zwei Schweinerouladen mehr machte, als es der Personenzahl entsprach! »Dio mio!«
Bei solchen Gelegenheiten vermied Sören es, die Schwiegermutter seines Chefs zu beobachten. Ihm wurde dann immer ganz schwindelig. Dieses Tempo! Und diese Lautstärke! Manchmal war er schon versucht gewesen, sich die Ohren zuzuhalten, aber sein Taktgefühl hatte es ihm bisher verboten, so deutlich zu zeigen, wie sehr ihn ihre schrillen Schreie erschreckten, die sie häufig, und nach Sörens Meinung fast immer grundlos, ausstieß.
So wie in diesem Augenblick. Mamma Carlotta war zum Fenster gegangen, weil sie gehört hatte, dass ein Auto vorgefahren war. Zufrieden hatte sie festgestellt, dass es tatsächlich Eriks Wagen war, und wollte sich gerade umdrehen, um zur Tür zu gehen – da kam dieser Schrei. Sören fuhr zusammen, das Glas rutschte ihm aus der Hand. In dem Bemühen, es nicht auf die Erde fallen zu lassen, griff er nach und erwischte es direkt über seinem Knie, wo es sich entleerte, sodass Sören nun mit einer Jeans dasaß, die mit klebrigem Gelb bekleckert war. Menschen mit Fantasie würden bei diesem Anblick mit Würgereiz zu kämpfen haben.
Entsetzt sah er Mamma Carlotta an und wartete auf eine Erklärung, zum Beispiel dass sein Chef von der Bremse gerutscht war und den neuen Wagen eines Nachbarn gerammt hatte, dass ein Radfahrer in die geöffnete Tür gerauscht war oder eine Möwe tot vom Himmel gefallen war, direkt in das hochgesteckte Haar der Staatsanwältin. Aber Mamma Carlotta schluchzte nur den Namen ihrer Enkelin, taumelte zur Haustür und gebärdete sich dort wie jemand, der einen Angehörigen empfing, nachdem er jahrelang in Grönland verschollen gewesen war.
Mamma Carlotta riss Carolin an ihre Brust, die offenbar nichts anderes erwartet hatte und sich wehrlos der Umarmung ihrer Nonna ergab. Als sie sich daraus löste, war zu erkennen, dass sie ihr sogar gefallen hatte. »Hey, Nonna.«
Sie wurde mit einem Schwall italienischer Liebkosungen übergossen, die Jacke wurde ihr vom Körper gerissen, als sei sie selbst nicht in der Lage, sie auszuziehen, dann wurde sie in die Küche geschoben und lächelte, als sie Sören sah. »Hey.« Sie krauste die Stirn und blickte auf seine Jeans. »Was ist das? Eiter? Igitt!«
Sören erlaubte sich den Scherz, erst zu nicken und dann mit dem Zeigefinger über das klebrige Gelb zu fahren und ihn abzulecken.
»Iiiii!«, kreischte Carolin.
Ihre Oma kreischte vorsichtshalber mit und erkundigte sich erst anschließend, warum ihre Enkelin sich ekelte. Als sie hörte, dass Sören gelber Eiter auf der Jeans klebte, stürzte sie sich auf ihn, um ihn zu untersuchen, während sie in kürzester Kurzform einen Großonkel erwähnte, der Tage vor seinem Ende aus einer Körperöffnung geeitert hatte, die unmöglich beim Namen genannt werden konnte. Dann erst war es Sören gelungen, den Irrtum richtigzustellen, woraufhin noch einmal gekreischt wurde, diesmal vor Empörung.
Carlotta hörte, wie Tilla leise zu Erik sagte: »Das liebe ich so an deiner Familie.«
Erik antwortete nicht, was auch gut war, denn Zustimmung wäre sicherlich nicht über seine Lippen gekommen.
Als endlich alle am Tisch saßen und die Mortadellaröllchen in der Mitte prangten, fiel Mamma Carlotta auf, dass Carolin lediglich einen Rucksack dabeihatte, also offenbar nicht die Absicht hegte, wieder am Süder Wung einzuziehen. Das dämpfte ihre Euphorie gewaltig. Dennoch schaffte sie es, diesen Umstand unkommentiert zu lassen, nahm sich aber vor, die Zeit, die vor ihr lag, mochte sie auch noch so kurz sein, gründlich zu nutzen, damit das Kind daran erinnert wurde, wie wunderbar es war, zu Hause zu sein und sich verwöhnen zu lassen.
Momentan sah es wirklich so aus, als genösse Carolin den Küchentisch und die Anwesenheit derer, die neben ihr saßen. Dass Felix ein Praktikum bei einem Immobilienmakler machte, fand ihren Beifall. »Dann lernt er endlich mal, was Arbeit ist.«
Diese Aussage fand ihre Großmutter bemerkenswert, der es jedoch wiederum gelang, sich eines Kommentars zu enthalten. Offenbar hatte Carolin eine neue Einstellung zur Erwerbstätigkeit bekommen, seit sie sich mühsam mit Kellnern über Wasser hielt.
Carolin wandte sich an ihren Vater. »Du kennst doch die Adresse von Sandra Lührsen? Gibst du sie mir, damit ich sie wegen des Interviews fragen kann?«
Erik sah aus, als würde er Carolin jeden Wunsch erfüllen, sofern er in der Lage dazu war, aber dann ging ihm wohl auf, dass er damit auch Maximilian Witt einen Wunsch erfüllte. So fiel seine Zustimmung verhalten aus. »Lass ihr Zeit«, meinte er. »Wer weiß, ob sie überhaupt wieder nach Sylt zurückkommt. Könnte ja auch sein, dass sie von der Insel die Nase voll hat.«
»Aber ihr Haus steht hier«, warf Carolin ein. »Wo soll sie sonst hin?«
Erik zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie Verwandte oder Freunde, die sie für eine Weile aufnehmen. Jedenfalls bis Gras über die Sache gewachsen ist.« Seine Miene wurde anzüglich. »Ich könnte verstehen, wenn sie sich vor Zeitungsleuten erst mal in Sicherheit bringen will.«
Carolin wollte sich gerade an die Verteidigung aller Journalisten machen, insbesondere eines Journalisten namens Maximilian Witt, aber die donnernd ins Schloss fallende Haustür hielt sie davon ab. Felix erschien in der Küche und begrüßte seine verloren gegangene Schwester hocherfreut.
»Lässt du dich auch mal wieder bei uns blicken?« Er umarmte sie fest, was seit seiner Konfirmation nicht mehr vorgekommen war. »Mensch, Caro! Wurde aber auch Zeit!« Mannhaft versuchte er, sich seine Rührung nicht anmerken zu lassen, sondern warf sich auf einen Stuhl und konzentrierte sich auf die Mortadellaröllchen. »Bleibst du hier?«, fragte er so beiläufig wie möglich.
Es entstand eine Pause, so lange wie ein Atemanhalten. Alle warteten auf Carolins Antwort, dann machte jeder aus der Tatsache, dass sie nicht kam, das, was ihm am besten gefiel. Mamma Carlotta war sicher, dass Carolin sich noch keine Blöße geben wollte und erst allmählich damit herausrücken würde, dass sie sich nach ihrer Familie sehnte. Ein Blick in Eriks Gesicht zeigte ihr, dass er skeptischer war, während Tilla und Felix ihr Bestes gaben, so zu tun, als wüssten sie nicht, wovon die Rede war. Und Sören kratzte an den Limoncello-Flecken auf seiner Jeans herum. Er zog sich immer raus, wenn die Probleme familiär wurden.
Carolin antwortete schließlich mit einem Themenwechsel. »Was wäre aus Sandra Lührsen geworden, wenn ihr Mann gesund geblieben wäre?«
Erik zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hätte er sich irgendwann besonnen und die Wahrheit gesagt. Vielleicht hätte sich Sandra Lührsens Unschuld aber auch nie herausgestellt.«
»Jesko Lührsen hätte ja auch einen Autounfall haben können«, warf Felix ein. »Oder einen Herzinfarkt. Tot von jetzt auf gleich! Dann hätte er keine Gelegenheit mehr gehabt, diesen Brief zu schreiben.«
Mamma Carlotta griff sich ans Herz. »Che fortuna! Fünf Jahre unschuldig im Gefängnis ist ja schon schrecklich genug.« Sie wusste, dass es problematisch war, eine konkrete Frage zu Eriks Fall zu stellen. Dann reagierte er meistens ungehalten und gab ihr mehr oder weniger deutlich zu verstehen, dass sie sich in seine Arbeit nicht einmischen solle und sie das Ganze sowieso nichts anging. Deswegen richtete sie ihre Frage vorsichtshalber an die Staatsanwältin. »Wie war das mit dem Brief, Tilla?«
Die Staatsanwältin gab bereitwillig Auskunft. Der Brief von Jesko Lührsen war in seinem Nachlass gefunden worden. Auf dem Umschlag hatte die Anschrift des Gerichts gestanden und der Name des Richters, der Sandra Lührsen vor fünf Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Der war erschüttert gewesen, als sich herausstellte, dass Jesko Lührsen seine Frau mit seiner Aussage schwer belastet hatte. So schwer, dass der Richter von Sandra Lührsens Schuld überzeugt gewesen war. »Erik auch, und ich ebenfalls. Aber es war eine Falschaussage gewesen, um Sandra Lührsen zu schaden!« Nun aber hatte Jesko Lührsen in seinem letzten Brief, der nach seinem Tod gefunden wurde, bekannt, dass er seine Frau für ihre Untreue hatte bestrafen wollen. Als seine Mutter Witta Lührsen ermordet wurde, hatte Jesko gerade herausbekommen, dass seine Frau ihn schon lange betrog. Und er rächte sich, indem er dafür sorgte, dass Sandra ins Gefängnis kam. Er hatte eine falsche Uhrzeit genannt, zu der sie angeblich an jenem verhängnisvollen Abend heimgekommen war, und behauptet, er habe beobachtet, wie sie sich Blut von den Händen wusch. Das war eine glatte Lüge gewesen. Da vor allem Jeskos Aussagen zu der Verurteilung geführt hatten, musste natürlich ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet werden. »Nun geht alles wieder von vorne los«, endete Tilla Speck.
»Madonna!«, stöhnte Mamma Carlotta. »Weiß man überhaupt, ob es stimmt, was dieser Jesko behauptet hat? Hat die Frau ihren Mann wirklich betrogen?«
Sie sprang auf und ging zum Herd, um die Suppe zu erhitzen. Sören folgte ihr mit den Blicken und murmelte: »Das wäre der Gipfel, wenn Jesko Lührsen ein eifersüchtiger Ehemann war, der sich die Untreue seiner Frau nur eingebildet hat.«
»Er hat während des Prozesses kein einziges Mal davon gesprochen, dass seine Frau ihn betrügt«, meinte Erik.
Tilla lachte trocken. »So was gibt kein Mann gerne zu. Das kratzt am Selbstbewusstsein, wenn die Frau einem Hörner aufsetzt.«