Die Schweinerouladen waren gegessen, und Erik spürte, wie Müdigkeit in seinen Körper zog. »Wir müssen ins Büro«, sagte er lahm und war froh, dass weder Sören noch Tilla zustimmten.
Seine Schwiegermutter durchschaute ihn. »Ihr braucht erst mal einen Espresso. So eine Gerichtsverhandlung ist sicherlich sehr anstrengend.«
Damit fand sie einhellige Zustimmung, obwohl Erik sich heimlich eingestand, dass es alles andere als anstrengend gewesen war, auf einer Bank zu sitzen und einer Verhandlung beizuwohnen, deren Ende sehr bald abzusehen gewesen war. Eventuell konnte man von emotionaler Anstrengung sprechen, mit dieser bequemen Erklärung gab er sich zufrieden. Tilla nickte, Sören blickte hocherfreut, Carolin lehnte sich zufrieden zurück, und sogar Felix blieb Teil der Tischrunde, als wollte er die Zeit mit seiner Schwester genießen. Er, der sonst nie Espresso und viel lieber Kakao trank, nickte ebenfalls.
Als der Rhabarberkuchen auf den Tisch kam, war es mit Eriks trägem Vorsatz, sich unverzüglich in den dafür vorgesehenen Räumlichkeiten um die Ergreifung von Witta Lührsens Mörder zu kümmern, sowieso vorbei. Die Pläne, wie sie vorgehen wollten, konnten sie genauso gut schmieden, während sie Espresso tranken und Rhabarberkuchen aßen.
»Sandra Lührsen war damals nicht die einzige Verdächtige«, sagte Erik langsam, »wenn auch von Anfang an die Hauptverdächtige.«
Tilla fragte: »Warum eigentlich?« Sie war damals nicht die zuständige Staatsanwältin gewesen. In dem Prozess gegen Sandra Lührsen hatte ein Kollege die Anklage vertreten, der kurz darauf durch einen Autounfall ums Leben gekommen war.
Erik zählte die Gründe auf: »Sie war zusammen mit ihrem Mann die Nutznießerin von Witta Lührsens Tod. Ihre Schwiegermutter war ziemlich vermögend, und Jesko und Sandra waren ständig in Geldnot. Außerdem gab es viel Streit zwischen Witta und Sandra. Die Alte war überhaupt nicht einverstanden mit der Wahl ihres Sohnes, sie mochte ihre Schwiegertochter nicht. Das war kein Geheimnis.«
»Und ihr Sohn?«, fragte Tilla. »Der war doch ebenfalls Nutznießer.«
Sören war es, der die Antwort gab: »Der hatte ein Alibi. Ein Nachbar hatte ihm geholfen, Kaminholz aufzustapeln.«
Erik nickte bestätigend. »Es war allgemein bekannt, dass Witta Lührsen den Banken seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr traute und viel Bargeld zu Hause aufbewahrte. Das wusste natürlich auch die Schwiegertochter.«
»Und das Geld war weg«, stellte Tilla fest. »Aber es wurde nicht bei Sandra Lührsen gefunden.«
Erik bestätigte es. »Es wurde überhaupt nicht gefunden. Wir dachten damals, dass sie es eben sehr gut versteckt hat.«
Dass Mamma Carlotta schwieg, fiel ihm nicht auf. Dass sie immer dann schwieg, wenn sie viel erfahren wollte, wusste er eigentlich, aber es war immer dasselbe, er bemerkte es jedes Mal zu spät. Auch Carolin sagte nichts. Die Frage, ob sie sich in ihren Gedanken bereits Notizen machte, die sie später an Maximilian Witt weitergeben würde, wischte Erik einfach zur Seite. Seiner Schwiegermutter würde er leichten Herzens den Vorwurf machen, neugierig und an Dingen interessiert zu sein, die sie nichts angingen, bei seiner Tochter war das etwas anderes. Mit ihr wollte er sich unter keinen Umständen anlegen, sie sollte sich hier, in ihrem Zuhause, rundum wohlfühlen. Er musste nur darauf achten, nicht mehr preiszugeben als das, was ohnehin bekannt war. »Die Tatzeit war nicht ganz klar«, sagte er, »weil die Leiche von Witta Lührsen erst Tage später entdeckt wurde. Der Todeszeitpunkt ließ sich dann aber durch Zeugenaussagen einkreisen: Witta Lührsen musste zwischen 20:00 und 21:30 Uhr gestorben sein. Sandra Lührsen hat behauptet, sie sei zwischen halb neun und neun nach Hause gekommen. Wenn ihr Mann das bestätigt hätte, wäre sie aus dem Schneider gewesen. Um acht die Schwiegermutter erschlagen und dann gleich ins Auto, um nach Hause zu fahren, das ist unwahrscheinlich. Außerdem ist Witta Lührsens Haus gründlich durchsucht worden. Dafür hätte sie garantiert noch mal eine Stunde gebraucht, nach Geld, nehme ich an. Ihr Mann jedoch sagte vor Gericht aus, es sei schon 22:30 Uhr gewesen, als sie heimkam. Und dann will er beobachtet haben, wie seine Frau sich Blut von den Händen wusch. Das hat er sehr glaubhaft geschildert.«
»Dann müsste es Blutspuren gegeben haben«, sagte Tilla Speck prompt. »An den Möbeln, in den Schränken, überall dort, wo Sandra Lührsen angeblich nach Geld gesucht hat.«
Erik schüttelte den Kopf. »Nein, Vetterich hat nirgendwo Blut gefunden. Aber auch dafür gab es eine Erklärung. Jesko Lührsen hat ausgesagt, er hätte ein paar Tage später, als er im Garten Büsche beschneiden wollte, seine Gummihandschuhe vermisst.«
»Dann wäre es Mord mit Vorsatz gewesen«, ergänzte Sören. »Der Richter war davon überzeugt, dass Sandra Lührsen die Gummihandschuhe eingepackt hat und mit der Absicht zu ihrer Schwiegermutter gefahren ist, sie umzubringen.«
»So hat es ausgesehen«, lenkte die Staatsanwältin ein. »Aber so war es ja offenbar nicht.«
Erik wurde nervös. »Es ist bekannt, dass Jesko Lührsen seine Frau sehr geliebt hat. Niemand ist auf die Idee gekommen, er könnte gelogen haben, um sie ins Gefängnis zu bringen.«
Sören schob sich ein Stück Rhabarberkuchen zwischen die Lippen und sagte mit vollem Mund: »Aber kurz vor seinem Tod hat er das zurückgenommen.«
Erik nickte. »Er hat in seinem Brief zugegeben, dass er gelogen hat. Seine Frau hat sich nie Blut von den Händen gewaschen. Und sie war schon vor neun zu Hause.«
In diesem Augenblick ging die Türklingel. Diesmal ertönte Marmor, Stein und Eisen bricht. Erik hob der Form halber seinen Unterkörper an, als wollte er zur Tür gehen, aber natürlich war Mamma Carlotta auch diesmal schneller. Kükeltje machte gar nicht den Versuch, als Erste an der Tür zu sein. Sie sah nur den Platz, der nun unbesetzt war, und den Teller mit dem Rhabarberkuchen davor, und sprang auf den Stuhl, den Mamma Carlotta soeben frei gemacht hatte.
»Dottore!«, hörte man sie rufen. »Prego! Treten Sie ein!«