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Sie hatte Dr. Hillmot lange nicht gesehen. Vor seiner Pensionierung war er häufiger ins Haus gekommen, vornehmlich dann, wenn er wusste, dass Eriks Schwiegermutter zu Besuch war, und er darauf hoffen durfte, zum Essen eingeladen zu werden. Aber seit Dr. Mikkelsen sein Amt übernommen hatte, war Dr. Hillmot nicht mehr im Süder Wung erschienen. Allerdings wusste Mamma Carlotta trotzdem eine Menge über ihn. Zum Beispiel, dass er endlich seinen Vorsatz wahr gemacht hatte, gesünder zu leben und abzunehmen. Schließlich telefonierte sie regelmäßig mit ihrer Cousine Violetta, auf die Dr. Hillmot zum Erstaunen aller ein Auge geworfen hatte, als sie zu Besuch auf Sylt gewesen war.

»Dottore!« Sie sah ihn an, als müsse sie sich vergewissern, wirklich den dicken, schwerfälligen Gerichtsmediziner vor sich zu haben. »Sie sind ja nicht wiederzuerkennen.«

Dr. Hillmot legte kokett die Hände in die Taille oder vielmehr dorthin, wo er eine Taille vermutete, die jedoch trotz aller positiver Veränderungen noch nicht sichtbar war, und drehte sich vor Mamma Carlottas Augen, um ihr zu zeigen, dass aus seinem fetten Leib ein Bauch geworden war, der nur noch beim Schuheschnüren im Wege war, aber beim Treppensteigen kaum noch störte. Dann machte er ein paar Trippelschritte auf Zehenspitzen, um anzudeuten, dass er viel beweglicher war als früher. In seinem jetzigen Zustand würde er sich womöglich sogar zu einer Leiche hinabbeugen können, ohne zu stöhnen, aber er war dennoch froh, dass es damit vorbei war.

»Fast vierzig Kilo weniger«, betonte er und ließ sich von Mamma Carlotta loben und bewundern. Er beugte sich zu ihr und raunte: »Aber das wissen Sie natürlich längst, Signora.« Dann zwinkerte er ihr zu, als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis, von dem niemand wissen dürfe.

Ja, Mamma Carlotta war im Bilde. Violetta hatte ihr in langen Telefonaten berichtet, wie sehr Dr. Hillmot sich anstrengte, damit sein Arzt ihm das Okay für eine Reise nach Süditalien gab. Tatsächlich konnte man es jetzt für möglich halten, dass er seine Leibesfülle auf einem Platz im Flugzeug unterbrachte und den Klimawechsel ohne akuten Kreislaufzusammenbruch überstand. Vorsichtshalber hatte er aber doch den November für seinen ersten Besuch in Kalabrien gewählt, denn große Hitze wäre wohl immer noch ein Problem für ihn gewesen. Zurzeit aber herrschte in Tropea, wo Violetta wohnte, die angenehme Temperatur von achtzehn Grad, die Dr. Hillmot sich zutraute.

Carlotta war dennoch ein wenig in Sorge, weil sie wusste, dass Violetta einen wichtigen Aspekt ihrer Wohnverhältnisse verschwiegen hatte. Zwischen dem Strand, auf den Dr. Hillmot gespannt war, weil er sich natürlich wesentlich vom Sylter Strand unterschied, und dem Ortskern von Tropea, in dem Violetta wohnte, gab es einen gewaltigen Höhenunterschied, der durch hundertzwanzig steile Stufen zu überwinden war. Carlotta hatte Violetta mehrfach ermahnt, Dr. Hillmot darauf vorzubereiten, aber ihre Cousine glaubte fest daran, dass er damit zurechtkommen würde, wenn ihm nichts anderes übrig blieb. Sie wollte einfach nicht das Risiko eingehen, dass er angesichts dieser bevorstehenden Strapazen auf den Besuch bei ihr verzichtete.

Dr. Hillmot war entzückt, die Staatsanwältin anzutreffen, der er einen Handkuss aufdrängte, dem sie sich nicht rechtzeitig entziehen konnte. Carolin jedoch pfiff auf jede Höflichkeit und versteckte ihre Rechte unter dem Tisch, ehe Dr. Hillmot sich über sie beugen konnte. Dass von dem Rhabarberkuchen noch drei Stücke übrig waren, beglückte ihn sehr, und Mamma Carlotta gab den Kindern zu verstehen, indem sie kurz warnend die Augen aufriss, dass sie darauf verzichten sollten, sich ein weiteres Stück Rhabarberkuchen auf den Teller legen zu lassen. Trotz seiner neuen Ernährungsgewohnheiten waren drei Stück Kuchen für Dr. Hillmot nach wie vor kein Problem. Angeblich hatte er mittags nichts zu sich genommen und rechnete sich flugs aus, dass Kuchen mit Obstbelag beinahe kalorienfrei sei. Dafür verzichtete er auf den Zucker, den er sich früher löffelweise in den Kaffee rührte, und hatte sich zurechtgelegt, dass es doch schrecklich unhöflich sei, der Schwiegermutter des Hauptkommissars einen Korb zu geben, wenn sie ihn an den Tisch einlud. Er bekannte sogar, dass ihm ein wenig verschmitzt und leichtsinnig zumute sei und seine derzeitige Gemütslage geradezu ausgelassen genannt werden könne, weswegen er an diesem Tag alles ein wenig großzügiger sehen wollte als sonst. Er wurde verlegen und lief rot an, als er bekannte, dass die Liebe ihn komplett verändert habe und die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Violetta ihn zu Luftsprüngen verleiten könnte, wenn er denn fähig sei, sie zu versuchen.

Alle Anwesenden gaben sich große Mühe, Verständnis für ihn zu zeigen. Aufbringen konnte es niemand, denn jedem, der Violetta kannte, war es rätselhaft, wie Dr. Hillmot sich in diese durchgeknallte Italienerin hatte verlieben können, die der kompletten Verwandtschaft schrecklich auf die Nerven ging. Dass er immer dann, wenn alle sich mit Fluchtgedanken trugen, Violetta mit besonders verliebten Augen betrachtete, würde wohl für immer und für alle ein Mysterium bleiben.

Dr. Hillmot gab vor, sich verabschieden zu wollen, ehe er nach Kalabrien flog, und bot an, Violetta Grüße von der ganzen Familie Wolf zu überbringen. Dann aber kam er schnell auf den Fall Lührsen zu sprechen, weil er natürlich von dem Wiederaufnahmeverfahren gehört hatte. Sein Gesicht, das nicht mehr ganz so prall war wie früher, produzierte eine Menge Sorgenfalten, als er laut und wortreich darüber nachdachte, ob er vor fünf Jahren einen Fehler gemacht haben könnte. Selbstverständlich erwartete er, dass ihm diese Befürchtung ausgeredet wurde, was auch auf der Stelle geschah.

»Natürlich haben Sie nichts falsch gemacht«, erklärte die Staatsanwältin kategorisch und hätte dafür beinahe einen weiteren Handkuss kassiert. »Zu dem Urteil ist es durch die Aussage des Ehemanns gekommen. Eine Falschaussage, wie wir jetzt wissen.«

Dr. Hillmot atmete erleichtert auf. »Es war nicht einfach, den Todeszeitpunkt festzulegen. Witta Lührsen war ja schon viele Stunden tot, als sie gefunden wurde.« Umständlich berichtete er vom sogenannten Henssge-Nomogramm, mit dem der Todeszeitpunkt durch Messen der Rektal- und der Umgebungstemperatur festgelegt werden konnte. »Aber schon über einen Zeitraum von zwanzig Stunden kann sich eine Unsicherheit von mehreren Stunden ergeben.«

Zum Glück hatte es jedoch Hinweise gegeben, die dabei geholfen hatten, den Zeitpunkt einzukreisen. Eine Nachbarin war an dem Haus vorbeigekommen und hatte Witta Lührsen mit jemandem streiten hören, womöglich mit dem Mörder, und konnte genau sagen, wann das gewesen war. Ihr Handy hatte einen Alarm ausgelöst, den sie eingestellt hatte, um pünktlich bei ihrer Gymnastikgruppe zu erscheinen. Somit war klar, dass Witta Lührsen um zwanzig Uhr noch gelebt hatte, was durch die Aussage eines anderen Nachbarn bestätigt wurde, der kurz vor der Tagesschau gelüftet und ebenfalls Wittas Stimme gehört hatte.

»Sandra Lührsen hatte behauptet«, sagte Erik nachdenklich, »sie sei schon vor einundzwanzig Uhr nach Hause zurückgekehrt. Zu wenig Zeit, um ihre Schwiegermutter umzubringen und das Haus zu durchsuchen, um ihr Geld zu finden.«

»Jetzt wissen wir, dass sie wohl die Wahrheit gesagt hat«, ergänzte Tilla. »Wenn Witta Lührsen mit ihrem Mörder gestritten hat, muss sie ihn gekannt haben.«

»Wir wissen nicht«, erwiderte Erik, »ob Witta Lührsen den Streit, den die Nachbarin gehört hat, mit ihrem Mörder geführt hat.«

»Möglicherweise war vorher noch jemand anderes bei ihr«, ergänzte Sören. Er beugte sich vor und sah Dr. Hillmot eindringlich an. »Können Sie sich noch erinnern, wie Sie die Tote vorgefunden haben?«

Dr. Hillmot ließ sich Zeit mit der Antwort und schob sich zunächst den Rest des Kuchenstücks in den Mund. »Sie lag im Schlafzimmer, bäuchlings, vor dem geöffneten Kleiderschrank. Mit einer sehr, sehr hässlichen Kopfwunde. Da hatte jemand kräftig zugeschlagen. Zweifellos mit dem Ziel, die Frau für immer zum Schweigen zu bringen.«

Carlotta warf Felix, der an Dr. Hillmots Lippen hing, einen besorgten Blick zu und blieb dann auf Carolins Gesicht haften, die aussah, als machte sie sich gedanklich Notizen. Ob Erik vergessen hatte, dass alles, was seine Tochter hier zu hören bekam, für Maximilian Witt ein gefundenes Fressen sein würde? Mamma Carlotta kam mit einem Mal der Verdacht, dass die Behauptung, er habe mit anderen Reportagen zu tun, eine faule Ausrede gewesen war. Womöglich hatte Maximilian Witt sich genau das ausgerechnet, was nun geschah: Carolin erfuhr wesentlich mehr, als ihm selbst jemals zu Ohren gekommen wäre. Und sie würde ihm alles haarklein erzählen, sodass er demnächst eine Reportage anbieten konnte, die mit Insider-Wissen gespickt sein würde.

Dr. Hillmot kam nicht auf die Idee, in Gegenwart der Kinder und der Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars zu schweigen, was sowohl von Mamma Carlotta als auch von Felix und Carolin begrüßt wurde. »Es gab noch mehrere Verdächtige, wenn ich mich recht erinnere?«, fragte er.

Leider fiel Erik zu Carlottas Enttäuschung rechtzeitig ein, dass Gespräche dieser Art im Büro geführt werden sollten und nicht am Esstisch unter den Augen und Ohren von Neugierigen. Er rückte seinen Stuhl zurück, um anzuzeigen, dass es Zeit wurde, aufzustehen und sich an die Arbeit zu machen. »Ich hoffe, Sie haben eine tolle Zeit mit Violetta in Tropea.« Er sah Dr. Hillmot an, als bedauerte er ihn von Herzen, während dieser mit einem glücklichen Strahlen antwortete.

»Ich hätte nie gedacht«, sagte er, »dass mir noch mal die Liebe begegnen würde.« Dr. Hillmot blickte um sich, als erwartete er, dass in den mitleidigen Gesichtern endlich Zustimmung erschien. Aber er hoffte vergeblich. Dass er sich ausgerechnet in Mamma Carlottas Cousine, die größte Nervensäge der Verwandtschaft, verguckt hatte, rief nichts als Verständnislosigkeit hervor. Erik schüttelte sogar den Kopf.

»Eine so schöne, temperamentvolle Frau«, ergänzte Dr. Hillmot und schien nicht zu bemerken, dass Felix die Küche verließ und Carolin sich plötzlich in das Zählen der Espressotassen vertiefte, die auf einem Bord über dem Kaffeeautoamten standen. Auch dass Mamma Carlotta unbedingt auf der Stelle das Geschirr in die Spülmaschine packen wollte, machte ihn nicht stutzig. Er erhob sich mit Tilla, Erik und Sören, ließ sich von Mamma Carlotta eine gute Reise wünschen, sagte ihr zu, ihrer Cousine herzliche Grüße auszurichten, und nickte brav, als sie ihn vor zu großen Anstrengungen warnte und ihn bat, gut auf seinen Kreislauf achtzugeben.

Dass Felix murmelte: »Sex soll ja sehr gesund sein«, überhörte sie, bis Dr. Hillmot aus dem Haus war. Dann erst bedachte sie ihren Enkel mit einem Klaps auf den Hinterkopf und schimpfte ihn so lange aus, bis sie merkte, dass er längst aus der Küche geflohen war.