Mamma Carlotta warf die Tür der Spülmaschine zu, griff nach dem Spültuch und wischte den Tisch ab. Dann sah sie sich um. Die Küche war blitzblank, es gab nichts mehr für sie zu tun. Sie konnte sich allenfalls Gedanken über das Abendessen machen, mehr fiel ihr nicht ein. Das Basilikumtöpfchen auf der Fensterbank konnte ein wenig Wasser gebrauchen, aber als auch das erledigt war, stand sie da und schaute aus dem Fenster. Staub wischen? Das Bad putzen? Die Nachbarin ging vorbei, und Mamma Carlotta überlegte kurz, ob sie Frau Kemmertöns hereinbitten sollte, unterließ es dann aber. Erstens, weil die Nachbarin mit Fifi beschäftigt war, der sich mal wieder in seiner Leine verheddert und sie um Frau Kemmertöns’ rechtes Bein gewickelt hatte, und zweitens, weil sie bereitstehen wollte für den Fall, dass Carolin die Absicht erkennen ließ, ein Gespräch mit ihrer Großmutter zu führen. Vielleicht wollte das Kind über sein Leben in Hamburg reden? Über die Liebe zu Maximilian Witt? Womöglich wollte sie sogar offenbaren, dass sie unglücklich in Hamburg war und längst bereute, für einen Mann, in dem sie sich getäuscht hatte, das Leben bei ihrer Familie aufgegeben zu haben? Dann wollte Mamma Carlotta parat stehen und nicht durch eine Plauderei mit einer Nachbarin abgelenkt sein. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Carolin eine richtige Entscheidung getroffen hatte, als sie Wenningstedt verlassen hatte und nach Hamburg gezogen war. Sie war doch immer ein so braves Mädchen gewesen, und dann plötzlich diese Rebellion!
Schrecklich, was der falsche Mann so alles anrichten konnte! Auch in ihrem Dorf war es schon häufig vorgekommen, dass eine Hochzeit, von der jeder gewusst hatte, dass sie ein großer Fehler war, in einer Katastrophe geendet hatte, Untreue, Gewalt oder Scheidung. Wenn sie da an die Tochter des Schneiders dachte! Die kam jeden Monat, wenn es Geld gegeben hatte, mit einem geschwollenen Auge zu ihren Eltern, weil ihr Mann wieder stundenlang in der Kneipe gesessen hatte und später gewalttätig geworden war. Dabei hatten es ihr alle vorhergesagt! Aber sie hatte ja auf niemanden hören wollen.
Mamma Carlotta bewegte sich Richtung Küchentür und schob sie leise auf. Dann machte sie ein paar lautlose Schritte in den Flur und lauschte. Carolins Stimme war aus ihrem Zimmer zu hören. Sie telefonierte und ging dabei hin und her. Ihre Schritte knarrten auf dem Holzfußboden, manchmal so heftig, als wäre sie entschlossen aufzubrechen, die Tür aufzureißen und die Treppe hinunterzulaufen.
Mamma Carlotta stieg die ersten drei Stufen hinauf, blieb stehen und lauschte erneut, aber sie konnte Carolins Worte nicht verstehen, konnte nur den Klang ihrer Stimme hören, ungeduldig, ärgerlich. Redete sie überhaupt mit Maximilian? Oder war jemand anderes am Apparat? Carlotta nahm die nächsten drei Stufen, lauschte wieder und erklomm schließlich auch den Rest der Treppe. Nun waren es nur noch zwei Meter bis zur Tür von Carolins Zimmer.
»Das kriege ich raus«, hörte sie ihre Enkelin nun klar und deutlich sagen. »Da kannst du Gift drauf nehmen.«
Bevor Mamma Carlotta sich fragen konnte, was Carolin herausbekommen wollte und wer das Gift schlucken sollte, wurde die Tür aufgerissen, und Carolin erschien vor ihr, noch mit dem Handy am Ohr. Sie stutzte nur kurz, als sie ihre Großmutter sah, dann sagte sie ins Telefon: »Lass uns später darüber reden. Meine Nonna hat ihr Ohr am Schlüsselloch.«
Mamma Carlotta gab sich alle Mühe, empört zu sein. Selbstverständlich hatte sie nicht die Absicht gehabt zu lauschen, sie hatte nur hören wollen, ob die Enkelin besondere Wünsche fürs Abendessen habe.
Carolins Züge entspannten sich. »Mir schmeckt alles, was du kochst.« Sie ging an Carlotta vorbei und sprang die Treppe hinab. »Ich gehe zu Nele und Ella, die beiden habe ich Ewigkeiten nicht gesehen. Sie wollten mich ja in Hamburg besuchen, aber …«
Carolin beendete den Satz nicht, ihre Oma tat es heimlich und unhörbar: Aber die Zwillinge wollten nichts mit Maximilian zu tun haben, den sie genauso wenig mochten wie Carolins Familie. Natürlich wusste sie nicht, ob es sich wirklich so verhielt, aber sie wollte es unbedingt glauben.
Carolin warf sich ihre Jacke über. »Die beiden wohnen in der Nähe von Sandra Lührsen. Ich schaue mich dort mal um. Bin gespannt, wann sie da wieder einzieht.«
Schon war sie aus dem Haus. Mamma Carlotta hörte die Tür des Schuppens und anschließend das Klappern ihres Fahrrads. Seufzend stieg sie die Treppe hinab. Nun waren alle unterwegs, und sie war ganz allein. Ein unerträglicher Zustand für Mamma Carlotta. Sie musste unter Menschen!
Wenige Minuten später hatte sie ihre Pantoletten gegen feste Halbschuhe getauscht, die sie in Panidomino in den Weinbergen während der Lese trug, dann zog sie sich die wind- und wasserdichte Jacke über, die Erik ihr immer zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt war. Ein Kleidungsstück, das sie in ihrer Heimat nie benötigte. Sie spannte über der Brust, mehr als im letzten Jahr, sogar so sehr, dass sie schon glaubte, sie nicht schließen zu können. Aber dann war es doch geschafft, und sie redete sich ein, dass Erik die Jacke zu heiß gewaschen hatte, sodass sie eingelaufen war.
Die Luft schlug ihr kalt entgegen, eisig in den Windspitzen, von breiter, gelassener Kälte dort, wo es windstill war. Sie liebte diesen Wirbel aus zustechender Eiseskälte und Schneeluft, die durch die Kleidung kroch, für klamme Finger und rote Nasenspitzen sorgte.
Die Tür des Schuppens stand noch offen. Mamma Carlotta wollte das Fahrrad ihrer Tochter herausholen, das sie auf Sylt immer benutzte. Aber es war nicht da. Carolin hatte es genommen. Ihr eigenes Rad stand mit plattem Vorderreifen da. Also würde Mamma Carlotta zu Fuß in den Hochkamp gehen, es war ja nicht weit. Ihr gefiel der Gedanke, dass Carolin mit dem Fahrrad ihrer verstorbenen Mutter unterwegs war. Solange noch so vieles im Hause war, was Lucia gehört hatte, war sie noch unter ihnen. Mamma Carlotta blickte in den Himmel, während sie auf die Westerlandstraße zuging. In den Monaten nach ihrem Tod hatten die Kinder oft den Wolken nachgesehen, weil sie dort irgendwo ihre Mutter vermuteten. Das war nun vorbei. Aber Lucia war noch immer bei ihnen, in den Erinnerungen, den Erzählungen oder einem hingeworfenen Nebensatz. Carolin und Felix waren beinahe erwachsen geworden, aber ihre Mutter vermissten sie immer noch. Erik hatte sich neu verliebt, aber Carlotta wusste, dass Lucia nach wie vor einen Platz in seinem Herzen hatte, den keine andere Frau würde erobern können.
Auf den Gehwegen war nicht viel los, sie begegnete keinem Menschen. Bei diesem Wetter bewegten sich alle auf vier Rädern fort, auch die Touristen, die im November gern mit ihren Autos die Insel erkundeten. Tove Griess, der Wirt von Käptens Kajüte, hatte die beiden Tische, die während der Saison vor seiner Tür standen, hereingeholt. Im Freien wollte niemand mehr sitzen, nicht einmal die Raucher. Die Tür der Imbissstube war fest verschlossen, dennoch drang die Musik heraus, mit der Tove seine Gäste anzulocken versuchte. »Ein Bett im Kornfeld …«
Mamma Carlotta riss die Tür auf, statt sie langsam und vorsichtig zu öffnen, wie Tove sie schon oft gebeten hatte. Aber das fiel ihr schwer. Wenn ihr eine angenehme Unterhaltung winkte, erst recht. Und wenn sie etwas zu erzählen hatte, war sie unfähig, bedächtig auf ihre Zuhörer zuzugehen. Die Ungeduld packte sie jedes Mal. So geschah diesmal das, was Tove schon lange befürchtete und ihr immer wieder prophezeit hatte: Der hölzerne Kapitän, der über der Tür hing, das Geschenk eines Freundes zur Eröffnung der Imbissstube, löste sich von seinem Haken und fiel herab. Allerdings nicht auf Mamma Carlottas Kopf, wie Tove es seit Jahren ankündigte, dazu war sie zu flott. Sie hatte bereits einen Schritt in die Imbissstube gemacht, als der hölzerne Kapitän sich nach Augenblicken des Zitterns und Hin-und-her-Wackelns dann doch nicht vom Haken löste, sondern mitsamt dem Haken zu Boden fiel. Er landete hinter Mamma Carlottas Füßen und blockierte damit die Tür, die sie hinter sich zuwerfen wollte. Natürlich mit viel Schwung und einem lauten Knall.
Beides war Tove von seinen überwiegend friesischen Gästen nicht gewöhnt. Wütend kam er hinter der Theke hervor, schob Carlotta zur Seite und hob den hölzernen Kapitän auf, als wäre er seine seltene Kostbarkeit. »Hoffentlich ist er nicht kaputtgegangen.«
Mamma Carlotta stand betreten da, betrachtete das verblichene Figürchen, dessen Farbe schon lange abgesplittert war und das Sonne, Wind und Regen früh hatten altern lassen. Am liebsten hätte sie gesagt, dass dieses hölzerne Ding schon lange kein Schmuck mehr sei und längst ausgetauscht gehört hätte, aber sie traute sich nicht. Wenn Tove Griess seine Brauen vorwölbte, sodass seine kleinen Augen kam noch zu sehen waren, musste man sich in Acht nehmen.
Dieser Ansicht war auch Fietje Tiensch, der Strandwärter von Wenningstedt, der sich in die Imbissstube drückte, als hätte er Angst, in einen Streit verwickelt zu werden, ohne zu wissen, auf wessen Seite er sich am besten schlug.
»Moin«, murmelte er, zog seine Bommelmütze noch tiefer in die Stirn und ging zu seinem Stammplatz am schmalen Ende der Theke, während Tove noch immer lamentierte, weil ihn das mörderische Tempo einer Italienerin um sein Liebstes gebracht hatte.
Fietje tippte sich an die Stirn. »Das olle Ding? Bei dir piept’s wohl.« Nun hatte er sich doch auf eine Seite geschlagen.
Tove lamentierte noch lauter über den Verlust und ließ auch Fietjes Vorschlag nicht gelten, einfach einen neuen Nagel zu nehmen und »den blöden Kapitän« wieder aufzuhängen.
Damit fühlte Tove sich sogar beleidigt, denn schließlich war seine Imbissstube Käptens Kajüte genannt worden, weil er selbst mal als Kapitän zur See gefahren war. Wer Toves Holzfigur einen blöden Kapitän nannte, der wertete auch ihn selbst, den Wirt von Käptens Kajüte, ab. Es sah schlecht aus um Fietjes Nachmittagsbier …
Carlotta traute sich erst wieder, etwas zu sagen, als Tove den hölzernen Kapitän zur Seite legte, schließlich doch zum Zapfhahn griff und auf ihre Bitte um einen Cappuccino hin nickte. Sie amtete auf. Nun war es am besten, wenn sie schleunigst das Thema wechselte. »Kennen Sie eigentlich Sandra Lührsen?«, fragte sie vorsichtig.
Zustimmendes Gebrumm war die Antwort. Dann fiel Fietje ein, dass er etwas von einem Wiederaufnahmeverfahren gehört hatte. »War das nicht heute?«
Carlotta war froh, dass sie nun die ungeteilte und vor allem freundliche Aufmerksamkeit der beiden hatte. Endlich konnte sie loswerden, was sie beschäftigte. Ein mürrischer Wirt mit einem Gesicht wie ein schlecht gelaunter Gorilla und ein schmuddeliger Strandwärter in einem viel zu weiten Troyer, mit ungepflegtem Bart und Haaren, die unter seiner Mütze hervorlugten, waren besser als gar keine Zuhörer.
»Sie hat fünf Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen! Dio mio!«
»Ich kannte den Mann von Witta Lührsen«, sagte Tove. »Der ist schon lange tot. Vor seiner Heirat war er Künstler. Was der aus Treibholz alles gemacht hat! Irre! Skulpturen nannte er das.«
»Sculture?« Mamma Carlotta konnte es nicht glauben. »Treibholz ist doch … Abfall.«
»Nicht bei Paul Lührsen. Der hat tolle Sachen aus Treibholz gemacht. Blöde nur, dass es nicht viele Leute gab, die sie kaufen wollten. Im Marketing war er schlecht. Aber dann hat er ja Witta geheiratet, und die verdiente gut. In ihrer Praxis standen auch einige von Pauls Skulpturen. Da machten die sich richtig gut.«
»Praxis? War sie una dottoressa?«
»Krankengymnastik«, korrigierte Tove.
Aber Fietje wusste es noch besser. »Physiotherapie nennt man das heute.« Er winkte das Bier herbei, das Tove mittlerweile gezapft, aber noch nicht vor ihm abgestellt hatte. Ein letzter Schuss aus dem Zapfhahn vervollständigte die Krone, dann war Fietje zufrieden und trank genüsslich einen Schluck.
»Witta hat immer so getan, als wäre sie mit einem zweiten …« Tove sah Fietje Tiensch fragend an. »Wie hieß der noch?«
»Donatello«, antwortete Fietje.
»Genau! Als wäre sie mit einem zweiten Donatello verheiratet.«
Diesen Namen hatte Mamma Carlotta schon einmal gehört. »Un italiano. In Firenze geboren.«
»Kennen Sie den etwa?«, fragte Tove misstrauisch. »Sind Sie vielleicht sogar mit dem verwandt? Sie haben ja ziemlich merkwürdige Verwandte. Wenn ich da an Ihre Cousine denke …«
»Döskopp«, sagte Fietje. »Donatello hat im 14. und 15. Jahrhundert gelebt.«
Das wollte Tove nicht glauben. Er vermutete, dass Fietje ihm mal wieder zeigen wollte, dass er für ein paar Jahre ein Gymnasium besucht hatte und unter Berufung auf diese Bildung etwas behauptete, das Tove nicht widerlegen konnte. »Klugscheißer!«
Mamma Carlotta griff ein, ehe der Streit eskalieren konnte. »Also war Witta Lührsen der Meinung, ihr Mann wäre un grande artista?«
»Quatsch! Kein Artist! Habe ich gesagt, dass Paul Lührsen Seiltänzer oder Feuerspucker war?«
Mamma Carlotta hielt es für klüger, darauf nicht einzugehen, sondern erneut das Thema zu wechseln. »Witta Lührsen war also stolz auf ihren Mann?«
Tove sah zwischen Fietje und Mamma Carlotta hin und her, als könnte er nicht glauben, dass die beiden endlich vernünftig mit ihm redeten. »Jedenfalls hatte die in der ganzen Bude seine Skulpturen stehen«, brummte er. »Bei Jesko und Sandra standen die natürlich auch herum. Ob den beiden das gefiel, weiß ich nicht. Aber wehe, sie hätten sich geweigert! Da wäre dann natürlich wieder Sandra dran schuld gewesen. Die konnte ja machen, was sie wollte, richtig war es nie.«