Die Frage war den ganzen Samstag über diskutiert worden: Wer holt Violetta vom Flughafen ab? Erik war zunächst der Meinung gewesen, dass die Familie Wolf das nichts anging, dass Dr. Hillmot es war, der Carlottas Cousine eingeladen hatte, dass dieser also auch dafür sorgen müsse, dass sie zu ihm nach Sylt kam. Dann aber trug Dr. Hillmot diese Frage sehr konkret per Telefonat ins Haus, erklärte ausgiebig, dass er selbst natürlich nicht in der Lage sei, Violetta abzuholen, dass seine Schwester keinen Führerschein besäße und Violetta fest davon ausging, von einem Verwandten abgeholt zu werden. Von da an war die Frage nichts Theoretisches mehr, was so oder anders entschieden werden konnte, sondern etwas, was ein klares Ja oder Nein erforderte, mit der Konsequenz, zu dem Ja zu stehen oder das Nein gut zu begründen. Selbstverständlich hatte Mamma Carlotta sofort zugesagt, weil es undenkbar war, die Bitte eines Unfallopfers abzuschlagen, und schließlich sei Violetta ja eine Verwandte. Aber dann folgte die unangenehme Aufgabe, aus ihrer leichtfertigen Zusage, die aus purer Höflichkeit entstanden war, etwas zu machen, was hinterher nicht mit allergrößtem Bedauern und durchsichtigen Argumenten wieder zurückgenommen werden musste.
Erik blieb unzugänglich, Tilla war raus, weil sie erstens nicht mit Violetta verwandt war und zweitens am Sonntagnachmittag nach Flensburg zurückfahren wollte, da sie montags einen Termin vor Gericht hatte. Felix hatte noch keinen Führerschein, kannte aber jemanden, der soeben einen gemacht hatte und bereit sein würde, gegen einen entsprechenden Obolus nach Hamburg zu fahren und Violetta auf dem gesamten Rückweg zu ertragen. Für Mamma Carlotta kam das aber nicht infrage. Eine Verwandte ließ man nicht durch einen Wildfremden abholen, erst recht nicht, wenn dieser keine Gefälligkeit erwies, sondern damit Geld verdienen wollte. Nein, es blieb nur Carolin, die sich allerdings genauso beharrlich weigerte wie ihr Vater. Sie hatte Violetta bei ihrem letzten Besuch auf Sylt vom Flughafen abgeholt und erinnerte sich noch gut an deren Ankunft. Sie glaubte sogar, dass auch andere völlig Unbeteiligte sich noch daran erinnerten. »Zum Beispiel der Mann mit dem Hund, in dessen Leine sich Violetta verheddert hat. Und die Frau, der sie auf die Zehen getreten ist, weil sie vor Begeisterung eine Pirouette drehen musste.«
Ein paar Stunden vor Violettas Ankunft war immer noch nicht klar, wie Carlottas Cousine von Hamburg nach Sylt kommen sollte. Alles sah mittlerweile danach aus, als müsste das Angebot von Felix’ Bekannten doch angenommen werden. Aber dann änderte sich die Lage …
Carolin war am Sonntagmorgen gleich nach dem Frühstück erneut zu Sandra Lührsens Haus gegangen und hatte festgestellt, dass dort Licht brannte. Sie hatte auch eine Bewegung hinter dem Küchenfenster ausgemacht und war sicher, dass Sandra Lührsen wieder in ihr Haus eingezogen war. »Wahrscheinlich am späten Samstagabend, bei Dunkelheit, damit niemand sie sehen konnte.«
Den Rest erzählte sie nicht ihrer Nonna, sondern Maximilian am Telefon. Aber zum Glück so laut und vernehmlich, dass es vollkommen ausreichte, die Treppe zur ersten Etage zu putzen, um den vollen Wortlaut mitzubekommen und anschließend informiert zu sein. Carolin hatte bei Sandra Lührsen geklingelt und um ein Interview gebeten, war aber abgewiesen worden. »Zunächst tat sie ganz erfreut, aber dann stellte sich heraus, dass sie eine Putzfrau erwartete. Sie dachte, ich wollte mich bewerben, weil sie wohl irgendwo inseriert hat. Als sie hörte, dass ich ein Interview wollte, war Schluss mit ihrer Freundlichkeit.«
Danach entspann sich ein kleiner Streit zwischen Carolin und Maximilian. Er machte ihr scheinbar zum Vorwurf, dass sie nicht hartnäckig genug gewesen sei und sich zu schnell habe abweisen lassen, sie schlug ihm vor, seine Angelegenheit selbst zu regeln, wenn sie es ihm nicht recht machte. Zu Mamma Carlottas Bedauern klangen die Abschiedsworte zwischen den beiden dann wieder versöhnlich. Aber das Gute war, dass Carolins Erwartungen, an diesem Sonntag mit einem Interview beschäftigt zu sein, sich nicht erfüllt hatten. Da konnte sie genauso gut zum Flughafen fahren und die nervige Violetta abholen. »Aber nur, wenn du mitkommst«, erklärte sie ihrer Nonna.
Mamma Carlotta sagte erfreut zu, diese Absicht hatte sie ohnehin gehabt.
»Ich muss was mit dir bereden«, fügte Carolin geheimnisvoll an. »Während der Fahrt haben wir Gelegenheit dazu.«
Bereden? Das musste etwas mit Maximilian Witt zu tun haben. Vermutlich wollte das Kind aus dem Schatz der Erfahrungen schöpfen, die ihre Großmutter in ihrem langen Leben angesammelt hatte, wenn es auch nicht nur ihr eigener Schatz war, sondern zusätzlich der von Nachbarn, Freundinnen und nahen Verwandten, die gerne ihr Erlebtes bei Carlotta Capella abluden. Selbstverständlich würde sie ihrer Enkelin gerne mit Rat und Tat zur Seite stehen und unter Beweis stellen, wie einfach es war, ihre Ratschläge derart zu gestalten, dass sich am Ende alles so löste, wie sie, die Großmutter, es für richtig hielt. Dann würde hoffentlich die Erkenntnis in Carolin gewachsen sein, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatte, als sie Hals über Kopf zu Hause ausgezogen und dem windigen Journalisten nach Hamburg gefolgt war.
Carolin begann das Gespräch schon auf dem Autozug, allerdings anders, als Mamma Carlotta gedacht hatte: »Ich war gestern bei Sandra Lührsen. Sie ist wieder zu Hause.«
Mamma Carlotta versiegelte ihre Lippen und ließ nicht erkennen, dass sie davon gehört hatte, weil Carolins Telefonat mit Maximilian bis zur Treppe gedrungen war.
»Aber sie war nicht bereit, mir ein Interview zu geben.«
Aha, es gab also Probleme mit Maximilian! Sicherlich erwartete er von Carolin, dass sie es trotzdem schaffte, Sandra Lührsen ein paar lästige Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, die sich zurechtbiegen ließen, damit die Leser etwas bekamen, was Herz und Gemüt beschäftigte. Und wenn sie es nicht schaffte, würde es zum Streit kommen. Und dann … Mamma Carlotta mochte nicht einmal vor sich selbst gestehen, wie gut ihr ein Streit zwischen Carolin und Maximilian gefallen würde.
»Sie hat gesagt, ich soll ihr eine Putzfrau besorgen. Auf Sylt wären Reinigungskräfte seltener als Traummänner oder billige Wohnungen. Sie hat keine Lust, den Mist ihres verstorbenen Mannes wegzuräumen, und außerdem könne sie jetzt eine Putzfrau bezahlen.«
Mamma Carlotta sah noch immer nicht, was das mit Carolins Beziehung zu Maximilian Witt zu tun hatte, und blickte ihre Enkelin nur erwartungsvoll an.
»Wenn ich ihr eine Putzfrau besorge, bekomme ich im Gegenzug ein Interview.«
Jetzt erhielt Mamma Carlotta einen intensiven Blick, aus dem hervorzugehen schien, dass Carolin erwartete, ihre Nonna würde nun verstehen, worum es ging. Aber Mamma Carlotta begriff gar nichts. Und das, wo sie sich doch sonst viel darauf einbildete, auch zwischen den Zeilen und Sätzen lesen und hören zu können.
»Menno Koopmann hat auch bei ihr geklingelt. Aber der ist gleich rausgeflogen, das habe ich mitbekommen. Der hat scheinbar nach der Verurteilung einen richtig fiesen Artikel über Sandra Lührsen gebracht. Der hat keine Chance. Aber ich – ich habe eine.«
»Wenn du ihr eine Putzfrau besorgst«, ergänzte Mamma Carlotta hilflos und ging sämtliche Sylter Bekanntschaften durch, um nach Haushaltshilfen zu forschen, die womöglich für einen Einsatz abzuwerben waren. Viele waren es nicht. Der Bäcker hatte eine Hilfe, die am Abend den Laden putzte, die Apothekerin ebenfalls, aber da hörte es auch schon auf. Sogar Tove putzte seine Imbissstube selbst.
»Mensch, Nonna!«, kam es da von Carolin. »Kapierst du wirklich nicht, was ich meine? Du bist doch die reinste Bohnerelfe.«
»Bohnerelfe?«, wiederholte Mamma Carlotta mühsam. »Cos’è questo?«
»Wenn du das ganze Haus putzt, kannst du einen Hunni kassieren und dir in Annanitas Modestübchen eine Bluse kaufen.« Carolin sah ihre Großmutter Beifall heischend an. »Na? Interesse?«