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Erik hatte Tilla zum Bahnhof gebracht und ihr nachgewinkt. Nun ging er zu seinem Wagen zurück und fragte sich, wie er den Rest des Sonntags verbringen sollte. Seine Schwiegermutter war mit Carolin zum Flughafen gefahren, Felix mit seinen beiden Freunden unterwegs. Eigentlich erschien es ihm sehr verlockend, sich die kommenden Stunden in seiner ältesten und bequemsten Cordhose auf das Sofa vor dem Fernseher zu lümmeln. Aber Mamma Carlotta hatte ihm dringend geraten, einen Krankenbesuch bei Dr. Hillmot zu machen, dem die Zeit des Wartens auf seine geliebte Violetta sicherlich lang wurde. »Das macht man so, Enrico.«

Erik beschloss also, nach Hörnum zu fahren und mit Dr. Hillmot ein wenig über den Fall Witta Lührsen zu reden. Natürlich bekam ein Gerichtsmediziner nicht viel von der Ermittlungsarbeit mit, aber bei seinem Besuch im Hause Wolf hatte Dr. Hillmot doch großes Interesse gezeigt. Erik hatte jedenfalls das Bedürfnis, darüber zu reden, damit er sich klar werden konnte, wie er am Montag mit der Arbeit beginnen sollte.

»Nach fünf Jahren!« Das stöhnte er hervor, als er sich ins Auto fallen ließ. Er würde die gleichen Verhöre noch einmal führen und diesmal sogar akzeptieren müssen, wenn die Verdächtigen behaupteten, sich nicht erinnern zu können. Wie sollte er da zu neuen Erkenntnissen kommen?

Die Schwester von Dr. Hillmot wohnte an der Rantumer Straße, in der Nähe des Fischgeschäfts, in dem sie arbeitete. Als Erik vor der Haustür stand, um zu klingeln, zögerte er. Wäre er nicht den weiten Weg bis in den Süden der Insel gefahren, hätte er womöglich wieder kehrtgemacht. Das Haus wirkte nicht einladend, die Anzahl der Klingelschilder zeigte an, wie viele Wohnungen es hier gab und wie klein sie sein mussten. Die Vorstellung, den dicken Gerichtsmediziner, wenn er auch vierzig Kilo schlanker geworden war, in einer winzigen Wohnküche vorzufinden, behagte Erik nicht. Und dann auch noch Violetta? Er spürte, dass er gar nicht wissen wollte, ob die Cousine seiner Schwiegermutter und Dr. Hillmot eine echte Chance hatten, in derart beengten Wohnverhältnissen miteinander auszukommen.

Während er noch zauderte, wurde die Tür von innen aufgerissen, ein junger Mann wäre beinahe mit ihm zusammengeprallt. »Moin!« Er machte zuvorkommend einen Schritt zurück, damit Erik eintreten konnte. Unmöglich, nun wieder umzukehren und zu behaupten, sich in der Tür geirrt zu haben. Erik grüßte also ebenso höflich, bedankte sich, trat ein, und dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Gleich links vor der Tür einer der beiden Erdgeschosswohnungen fand er das Schild mit der Aufschrift Elke Hillmot . Dahinter roch es nach gebratenem Fischfilet.

Er brauchte nicht lange zu warten, nachdem er geklingelt hatte. Elke Hillmot öffnete unverzüglich. Sie war ihrem Bruder sehr ähnlich. Dick und vierschrötig, nicht ganz so dick, wie Dr. Hillmot vor seiner Bekanntschaft mit Violetta gewesen war, aber um einiges vierschrötiger als der Gerichtsmediziner, der immer Wert darauf legte, wie ein Mann von Welt zu wirken. Groß und breit stand sie im Türrahmen, bereit, jeden unerwünschten Eindringling hinauszujagen.

Aber zum Glück erkannte sie Erik Wolf und lächelte einladend. »Das wird meinen Bruder aber freuen. Kommen Sie rein!«

Einen Eingangsbereich hatte die Wohnung nicht, Erik stand, nachdem er einen Schritt über die Schwelle gemacht hatte, in der Küche, die der zentrale Ort der Wohnung war. Von dort gingen drei Türen ab, vermutlich ins Wohn- und Schlafzimmer sowie ins Bad. Mittendrin saß Dr. Hillmot, in einem Sessel in der Nähe des Fensters, an einer Stelle, wo er seiner Schwester am wenigstens im Wege war. Davor stand ein Hocker, auf dem sein rechtes Bein lag, das in einem monströsen Gipsverband steckte. Sein linkes Handgelenk war eingegipst, der rechte Mittelfinger geschient. Der Bruch seines Nasenbeins zeigte sich nur durch eine Schwellung und ein Hämatom. Offenbar sollte es ohne Hilfe wieder zusammenwachsen.

Er strahlte, als er Erik erkannte. »Was für eine Freude!« Er sorgte dafür, dass Erik seine Jacke an die Innenseite der Küchentür neben zwei andere Jacken hängte, sich einen Stuhl heranzog und ihn so positionierte, dass er in Dr. Hillmots Gesichtsfeld stand, und bat seine Schwester, ein weiteres Fischfilet aus dem Kühlschrank zu nehmen. »Wenn ich bei dem Hauptkommissar zu Besuch bin, bekomme ich auch immer was zu essen. Italienische Küche!«

»Ach so.« Elke Hillmot hatte schon davon gehört. »Von der Schwiegermutter.« Sie zwinkerte Erik zu. »Damit kann ich nicht dienen.« Sie wendete die Fischfilets, ehe sie ein weiteres dazuholte, es panierte und in die Pfanne legte, obwohl Erik beteuerte, er sei nicht hungrig. »Aber Kartoffelsalat kann ich. Vielleicht sogar besser als eine Italienerin.«

Den konnte sie wirklich. Eine halbe Stunde später freute Erik sich, dass er die Einladung angenommen hatte, und ließ sich den Fisch und vor allem den Kartoffelsalat schmecken. »Ich hoffe, ich habe nicht Violettas Portion gegessen«, sagte er scherzhaft. »Sie müsste bald ankommen. Meine Tochter wird sie bringen.«

Aber Elke Hillmot wehrte ab. »Kartoffelsalat mache ich immer in größeren Mengen. Davon kann man ja auch noch kurz vorm Schlafengehen etwas essen.« Sie lachte. »Damit man nachts nicht vor Hunger aufwacht.«

Dr. Hillmot erzählte in schillernden Farben, wie es zu dem Unfall gekommen war, schilderte, wie verzweifelt er gewesen sei, als ihm klar wurde, dass aus der Reise nach Kalabrien nichts wurde, und pries seinen Einfallsreichtum, als er die Idee hatte, Violetta nach Sylt kommen zu lassen, wenn er nicht zu ihr kommen durfte. »Der Flug lässt sich nachholen.«

Elke Hillmot schien damit auch zufrieden zu sein. »So ist er versorgt, wenn ich arbeiten muss. Schwester Heike kann ja nur morgens und abends nach ihm sehen.«

Dr. Hillmot sah Erik vielsagend an. »Heike Schrunz! Sie erinnern sich? Sie arbeitet für den Pflegedienst Asmussen.«

Erik erinnerte sich sofort. »Sie meinen …?«

Elke Hillmot erhob sich. »Ich gehe mal eben zum Flaschencontainer und zum Getränkedienst. Hier wird jetzt mehr getrunken als sonst. Meinen Bruder weiß ich ja in guten Händen.«

Erik wartete nur, bis Elke Hillmot aus der Tür war, dann fragte er: »Die Heike Schrunz, die bei dem Mord an Witta Lührsen in Verdacht stand?«

»Genau die«, tuschelte Dr. Hillmot, obwohl niemand ihn hören konnte. »Aber die weiß natürlich nicht, was ich beruflich gemacht habe, dass ich den Fall Witta Lührsen kenne. Trotzdem habe ich mal so ganz unauffällig das Gespräch auf den Fall gebracht.« Er winkte ab, ehe Erik Bedenken äußern konnte. »Davon redet hier auf Sylt doch zurzeit sowieso jeder, das fällt nicht weiter auf.« Er versuchte eine Bewegung, verzog aber das Gesicht gleich zu einer schmerzhaften Grimasse. »Sie hat mir erzählt, dass sie Witta Lührsen gekannt hat. Sie hat die alte Dame mal versorgt, als die einen Unfall gehabt hatte. So wie ich. Dass sie in ihrem Testament bedacht worden ist, davon hat sie allerdings nicht geredet.«

Erik fand das nicht weiter verdächtig. Über so etwas würde er auch nicht sprechen, schon gar nicht mit völlig Fremden.

»Warum wurde sie damals eigentlich beschuldigt?«, fragte Dr. Hillmot.

»Weil es den Anschein hatte«, antwortete Erik, »dass sie es nicht abwarten konnte. Sie wusste, dass Witta Lührsen ihr zehntausend Euro hinterlassen wollte, weil sie ihr dankbar für ihre Hilfe war. Heike Schrunz hatte wohl neben der Pflege, für die sie bezahlt wurde, noch einiges für sie erledigt. Und die Schrunz brauchte Geld für den Pflegedienst, den sie mit ihrer Schwester betrieb. Die beiden waren ja zunächst selbstständig. Pflegedienst Schrunz. Aber das hat nicht gut geklappt, auch deswegen nicht, weil sich rumgesprochen hat, dass sie gern mal in die Portemonnaies der ihr Anvertrauten greifen. Leider war weder ihr noch ihrer Schwester jemals etwas nachzuweisen.«

»Mir ist da was aufgefallen.« Nun flüsterte Dr. Hillmot sogar. »Sie trägt eine Kette, die nicht zu ihr passt. Und die scheint wertvoll zu sein. Ich verstehe was davon. Und ich erinnere mich, dass ich damals am Hals der Ermordeten eine Abschürfung gesehen habe. So, als hätte man ihr etwas vom Hals gerissen.« Vielsagend blickte er Erik an, dann sprach er so leise, dass Erik ihn kaum verstehen konnte: »Eine kostbare Kette vielleicht.«