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Erik fühlte schon während des Aufstehens, dass ihm der rechte Schwung für einen erfolgreichen Arbeitstag fehlte. Der Gedanke, im Fall Witta Lührsen herumzustochern wie ein Austernfischer im Nebel, behagte ihm gar nicht. Die Kette, von der Dr. Hillmot gesprochen hatte, war sein einziger neuer Hinweis. Dem würde er nachgehen. Aber wenn er nichts brachte? Dann würde er sich mit dem Immobilienmakler Dombrowsky auseinandersetzen, aber vermutlich ebenfalls vergeblich, und schließlich Maart Bleicken suchen müssen. Wenn der noch immer obdachlos war, würde das schwierig werden und vermutlich genauso erfolglos verlaufen wie alles andere. Es gab keine neuen Indizien und keine alten Hinweise, die ihn weiterführen konnten. Der Verdacht, den Adrian Halliger geäußert hatte, war viel zu vage, um von einer neuen Spur reden zu können. Der Tatort war weg, das Haus von Witta Lührsen abgerissen, ihr Sohn gestorben. Es war nicht viel übrig geblieben.

Seufzend ging er ins Bad und starrte eine Weile in den Spiegel, ohne zu seiner Zahnbürste zu greifen. Der Abend war schön gewesen. Noch immer freute er sich daran, wie seine Schwiegermutter einen Abend genießen konnte, der mit einem Essen außer Haus begann. So etwas erhielt bei ihr nach wie vor die Überschrift »Luxus«. Das Essen bei Gosch hatte ihr geschmeckt, der Blick aufs Meer hatte sie entzückt, die Leute um sie herum waren allesamt interessant für sie gewesen. Es war schon erstaunlich, wie schnell sie glücklich zu machen war, während andere, die so viel mehr hatten als Carlotta Capella, stets unzufrieden waren.

Und auch die Kinder hatten fröhlich gewirkt. Felix hatte bereitwillig seine Gitarre zurückgestellt und auf einen Abend im Proberaum verzichtet, um mit seiner Familie essen zu gehen, und Carolin hatte unter ihnen gesessen, als wäre sie nie weg gewesen. Maximilian Witts Name war kein einziges Mal gefallen. Während Erik sich die Zähne putzte, spürte er, dass die Hoffnung in ihm keimte, Carolin könne nach Sylt zurückkehren. Ob er schon mal vorsichtshalber mit Gravenaar, dem Direktor des Horizont, Kontakt aufnehmen sollte, um zu hören, ob Carolin ihre Ausbildung im Hotel fortsetzen konnte?

Die Kinder waren nach ihrer Rückkehr in ihre Zimmer gegangen, er hatte noch eine Weile bei einem Glas Rotwein mit seiner Schwiegermutter in der Küche gesessen. Sie hatten über Lucia gesprochen, Erinnerungen an sie waren wach geworden, die oft in der Hektik des Alltags untergingen, viel Trauer war wieder aufgestiegen, aber auch eine Menge Dankbarkeit, dass Lucia in ihren Kindern weiterleben durfte. Dann hatten sie natürlich auch von Violetta geredet, und während Erik sich nun anzog, schüttelte er den Kopf, ohne es recht zu merken. Wenn er sich Violetta in dieser winzigen Wohnküche vorstellte! Nur gut, dass Elke Hillmot den ganzen Tag im Geschäft stand. Wenn Violetta währenddessen den Haushalt erledigte und Elke Hillmot am Abend mit einem guten Essen empfing, konnte es möglich sein, dass die beiden miteinander auskamen. Doch dann fiel ihm das Essen ein, das Violetta gekocht hatte, als sie auf Sylt zu Besuch gewesen war. Nein, gutes Essen würde die beiden Frauen wohl nicht verbinden.

Sören betätigte die Klingel, als Erik gerade die Treppe herunterging. »Ich mache auf«, rief er in Richtung Küche, wo schon die eiligen Schritte seiner Schwiegermutter zu hören waren. Noch bevor der Schneewalzer geendet hatte, trat Sören ein und hängte seine Jacke an die Garderobe. Eine Weile hielt er sich damit auf, der Schwiegermutter seines Chefs zu huldigen und sich selbst und auch sie zu fragen, warum sie es auf sich nahm, ihn jeden Morgen zum Frühstück einzuladen. Wie erwartet behauptete Mamma Carlotta dann, alles andere wäre für sie undenkbar, woraufhin beide hochzufrieden waren und selbstverständlich beschlossen, an der bisherigen Gewohnheit nichts zu ändern. Sören ließ sich am Frühstückstisch nieder, und Mamma Carlotta tat ihm eine besonders große Portion Rührei auf.

Erik setzte sich an Sörens Seite. »Ich habe da was Interessantes von Dr. Hillmot gehört …«

Sören war genauso froh wie sein Chef, dass sie nicht das wieder aufwärmen mussten, was sie fünf Jahre zuvor ermittelt hatten, sondern einem neuen Fakt nachgehen konnte. Er wurde nachdenklich. »Nein, neu ist das eigentlich nicht. Dr. Hillmot hat damals schon den Verdacht geäußert. Wir müssen gleich in den Protokollen nachsehen. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir Jesko und auch Sandra Lührsen befragt, aber das war noch, bevor Sandra Lührsen in Verdacht geriet.«

Als sie im Büro ankamen, nahmen sie sich sofort die Akten vor, die damals angelegt worden waren. Es dauerte nicht lange, da tippte Sören auf ein Protokoll. »Hier! Der Schmuck, der in Witta Lührsens Haus gefunden wurde, ist erst ihrem Sohn vorgelegt worden. Aber Jesko konnte nicht sagen, ob das alles war oder ob etwas fehlte.« Sören grinste schief. »Männer haben ja für so was keinen Blick. Ich habe auch keine Ahnung, was meine Mutter für Schmuck besitzt.«

Erik kam nach kurzem Überlegen zu einer ähnlichen Ansicht. Dann fiel ihm ein, was Sandra Lührsen damals ausgesagt hatte. »Sie wusste, dass kein Schmuckstück fehlte.«

Sören wanderte mit dem rechten Zeigefinger unter den Zeilen entlang, dann nickte er. »Alles noch da, hat sie gesagt.« Mit einer heftigen Bewegung klappte er den Ordner wieder zu. »Also keine heiße Spur!«

»Es sei denn«, überlegte Erik, »die Schwiegertochter hat sich geirrt. Es fehlte vielleicht doch eine Kette, aber sie hat es nicht gemerkt. Damals haben wir angenommen, dass diese kleine Abschürfung anderweitig entstanden ist. Witta Lührsen konnte mit einer Kette irgendwo hängen geblieben sein, die sie dann später abgelegt hat. Bevor sie ermordet wurde.«

Niedergeschlagen saßen sie eine Weile schweigend da. Dann sagte Erik ohne jeden Elan: »Schauen Sie mal, ob Sie Maart Bleicken irgendwo finden. Ich sehe mir derweil die Vernehmungsprotokolle von Norbert Dombrowsky an.«

Aber eine Stunde später waren sie nicht klüger als zuvor. Sören hatte keine Ahnung, wo Maart Bleicken abgeblieben war, und Erik war nichts aufgefallen, was gegen Norbert Dombrowsky sprach und ein weiteres Verhör rechtfertigte. »Wo sollen wir ansetzen?«

»Wir hatten diese drei Verdächtigen«, überlegte Sören, »bis sich Sandra Lührsen in Widersprüche verstrickte, falsche Zeitangaben machte …«

»Wir hielten sie für falsch«, korrigierte Erik.

»… und ihr Mann sie beschuldigte«, vollendete Sören seinen Satz. »Vielleicht gibt es noch einen Verdächtigen, den wir nicht kennen? Den wahren Mörder?«

»Jesko Lührsen! Halliger könnte recht haben.«

Sie beschlossen, nach unten in die Wache zu gehen und dort vor dem Kaffeeautomaten weiterzudenken. Ein Ortswechsel wirkte manchmal Wunder.

Während Erik einen Espresso und Sören einen Latte macchiato schlürfte, fiel Erik wieder ein: »Maart Bleicken hat sich damals sehr merkwürdig verhalten. Wäre der Verdacht nicht auf Sandra Lührsen gefallen, hätten wir ihn in die Zange genommen. Er hat behauptet, ein Fenster hätte offen gestanden und er wäre eingestiegen, um sich nach Geld oder irgendwelchen Wertsachen umzusehen. Dabei ist er über die tote Witta Lührsen gestolpert. Angeblich ist er danach sofort getürmt, weil er mit Mord natürlich nichts zu tun haben wollte.«

»Genauso gut«, sagte Sören, »könnte er von Witta Lührsen erwischt worden sein. Er musste sie daran hindern, die Polizei zu rufen, und hat zugeschlagen. Aber selbst wenn er es nicht getan hat, könnte er zumindest das Geld im Schrank gefunden haben. Vielleicht war er gar nicht so erschrocken und ist nicht Hals über Kopf getürmt. Maart Bleicken war ja kein Sensibelchen. Dem traue ich zu, dass er in aller Seelenruhe über die Tote steigt und ihre Schränke durchsucht. Danach war er verschwunden. Vielleicht hat er das Geld irgendwo gut angelegt. Jesko meinte, dreißigtausend müssen es gewesen sein. Mindestens!«

Erik winkte ab. »Wir suchen keinen Dieb, wir suchen einen Mörder.«

»Ich wollte ja auch nur sagen … wenn Bleicken das Geld gefunden hat, wird er nicht mehr auf Sylt sein, sondern irgendwo, wo er was mit der Kohle gemacht hat.«

»Eine Strandbar?«

»Zum Beispiel.«

»Der war eher der Typ, der das Geld versäuft und anschließend ein genauso armer Schlucker ist wie vorher.«