18

Carlotta lief unruhig hin und her. Dass Carolin so lange schlafen konnte! Ein aufregender Tag stand bevor, da musste man doch früh aus den Federn, um sich auf das einzustimmen, was bevorstand! Diese jungen Dinger! Mamma Carlotta verstand es nicht. Oder hatte Carolins innere Uhr sich bereits auf die veränderten Verhältnisse eingestellt? In Hamburg verdiente sie ihr Geld als Kellnerin, musste also bis spät in die Nacht arbeiten und durfte dann natürlich morgens länger schlafen. Dummerweise hatte sie ihre Enkelin nicht gefragt, wann Sandra Lührsen sie erwartete. Am Ende würden sie sich verspäten, und Carolin würde ihre Chance verlieren, für die Reportage zu recherchieren, die Maximilian später schreiben wollte.

Vorsichtshalber bereitete sie vor, was Carolin zum Frühstücken brauchte, damit später alles ganz schnell ging. Und natürlich auch, damit Carolin merkte, wie warm und weich das Nest war, aus dem sie geflohen war. Mamma Carlotta seufzte schwer. Wie konnte ein Kind dieses Zuhause verlassen, dieses gemütliche Haus am Süder Wung, diese großartige Insel, die Geborgenheit dieser Familie! Sie spürte, wie der Zorn auf Maximilian Witt wieder in ihr zu brodeln begann. Wäre dieser Kerl, dieser windige Reporter nie auf Sylt aufgetaucht, hätte Carolin ihre Ausbildung zur Hotelkauffrau beendet und gut verdient, vielleicht sogar in einem der Luxushotels der Insel. Dort hätte sie dann bald einen netten jungen Mann kennengelernt, der zu den Wolfs passte, und würde demnächst dafür sorgen, dass ihre Nonna, wenn sie zu Besuch nach Sylt kam, einen Kinderwagen mit einem Urenkel spazieren schob. Vielleicht gemeinsam mit der Nachbarin, die gerade mit Fifi vorbeiging, aber leider nicht bemerkte, dass Carlotta am Fenster stand und ihr zuwinkte.

Sie musste unbedingt mit jemandem reden. Mit Tove und Fietje in Käptens Kajüte? Besser als gar nichts. Die beiden hatten keine Familie, ihnen waren die Probleme, unter denen Mamma Carlotta litt, fremd, aber immerhin konnte sie sich bei ihnen alles von der Seele reden und während des Redens vielleicht zu Ergebnissen und neuen Plänen kommen. Blieb nur noch, Carolin nach Kräften zu verwöhnen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und ihr zu zeigen, wie schön es zu Hause war. Dafür war sie sogar bereit, Sandra Lührsen das Haus zu putzen.

Endlich rührte sich in der ersten Etage etwas. Carolins Schritte schlappten Richtung Badezimmertür.

Augenblicklich stand Mamma Carlotta in der Diele. »Wann hast du den Termin bei Sandra Lührsen?«

Carolin öffnete nur das linke Auge, während sie antwortete: »Erst um elf.«

Mamma Carlotta atmete auf. »Ich gehe schnell zu Feinkost Meyer, während du dich fertig machst. Dann kann ich das Essen vorbereiten, während du frühstückst.«

»Meinetwegen.« Die Badezimmertür fiel ins Schloss, Mamma Carlotta griff nach der Jacke und der Einkaufstasche. Was sie kochen wollte, wusste sie noch nicht. Sie würde sich etwas auf dem Weg überlegen oder sich von dem reichhaltigen Angebot bei Feinkost Meyer inspirieren lassen.

Während sie über den Osterweg lief, fiel ihr ein, dass sie als Antipasti mal wieder Tartine mit Gurke machen konnte und als ersten Gang Grüne Suppe. Also brauchte sie eine Salatgurke und Mangold. Als Hauptgericht reichte etwas Einfaches, der Fisch, den sie im Vorraum von Feinkost Meyer in Augenschein nahm, war ihr zu teuer. Zwar hatte Erik ihr am Abend zuvor noch Haushaltsgeld hingelegt, aber an diesem Tag wurde kein Besuch erwartet, Tilla hatte in Flensburg zu tun, da konnte sie mal wieder einfache Hausmannskost auftischen. Frikadellen mit Sardellen und dazu Spinat in Sahne! Als Dessert dann Äpfel im Nest – basta. Also würde ihr Einkauf nicht besonders aufwendig werden. Für die Frikadellen benötigte sie Rinderhack, frische Petersilie und in Öl eingelegte Sardellenfilets. Den Spinat würde sie wieder aus der Tiefkühltruhe nehmen. Auf Sylt machten das alle, während es sich in ihrem Dorf, in Panidomino, eine fleißige Hausfrau niemals mit Tiefkühlkost einfacher machen durfte. Für das Dessert war alles im Haus. Ein Nachbar hatte Äpfel zum Einlagern gebracht, und Himbeerkonfitüre hatte sie im Sommer eingekocht.

Als sie heimkam, saß Carolin mit nassen Haaren am Frühstückstisch, vor sich einen Zettel, auf dem sie sich eifrig Notizen machte. »Ich muss mir viele Fragen für Sandra Lührsen überlegen. Das könnte auch eine Fortsetzungsgeschichte werden. Stoff genug bietet so eine Sache. Aber ob sie damit einverstanden ist?«

Mamma Carlotta hätte sich gern beteiligt, aber leider ging in diesem Augenblick Carolins Handy. Maximilian war am anderen Ende, und Mamma Carlotta stellte höchst befriedigt fest, dass er nicht besonders freundlich begrüßt wurde. »Was heißt hier Faulpelz?«, blaffte sie ihn an. »Ich bin deinetwegen auf Sylt! Schon vergessen? Die Kohle, die ich verliere, weil ich eine Woche Urlaub nehmen musste, erstattest du mir. Hast du das etwa auch vergessen?«

Maximilian schien eine Menge Beschwichtigendes von sich zu geben, jedenfalls entspannte sich Carolins Miene allmählich wieder. Das sah Mamma Carlotta genau, obwohl sie sich damit beschäftigte, den Mangold für die Grüne Suppe zu putzen. Sie nahm zwei Panini aus dem Brötchenkorb, die sie einweichen und später unter das Hackfleisch kneten wollte, und verzog keine Miene, als Carolin ihren Freund anmaulte, weil er für eine total interessante Reportage nach München fliegen durfte, während sie dazu ausersehen war, für ihn Handlangerdienste zu erledigen. »Ich glaube, ich werde auch Journalistin. Das ist ein spannender Job.« Sie wirkte genervt, während sie Maximilians Argumentation lauschte. »Ja, stressig auch. Aber eben auch interessant. Ich muss mir ja was überlegen. Oder soll ich etwa für den Rest meines Lebens kellnern?«

Was Mamma Carlotta gefiel, war, dass das Kind sich Gedanken über die Zukunft machte, was ihr weniger gefiel, war die Tatsache, dass sie Maximilian in ihre Überlegungen einband. Der würde ihr doch nur das raten, was für ihn selbst das Bequemste war. Eine Freundin, die ihm Konkurrenz machte, wollte er sicherlich nicht haben.

»Wieso? Ich habe Abi. Ein Studium braucht man nicht unbedingt. Ich weiß genau, dass der Chefredakteur von unserem Inselblatt auch nicht studiert hat.« Carolin biss von ihrem Panino ab und ergänzte mit vollem Mund: »Außerdem könnte ich ein Studium nachholen.«

Mamma Carlotta zeigte ihrer Enkelin wortlos, mit fragend hochgezogenen Brauen zwei Eier und schlug sie auf, als Carolin zustimmend nickte. Mit großem Gepolter holte Carlotta eine Pfanne hervor und goss Öl hinein.

»Nein, ich bin nicht allein«, hörte sie Carolin sagen. »Die Nonna ist hier.«

Maximilians Antwort hätte Mamma Carlotta nun besonders gern gehört, aber leider konnte sie nicht einmal von Carolins Gesicht ablesen, ob er eine despektierliche oder freundliche Bemerkung machte. Sie befürchtete Ersteres. Zornig verrührte sie die Eier und schob sie, als sie fertig waren, so erregt auf den Teller, dass ein Teil auf der anderen Seite herunter auf die Arbeitsfläche rutschte. Aber nach einer flinken Bewegung des Pfannenwenders befand sich wieder das komplette Rührei auf dem Teller.

»Ich weiß«, fauchte Carolin nun und bedankte sich nickend bei ihrer Nonna. »Ich bin hier nur zum Recherchieren. Aber du könntest ruhig mal honorieren, dass ich es geschafft habe, einen Termin bei Sandra Lührsen zu bekommen. Dem Chefredakteur vom Inselblatt hat sie nämlich die Tür vor der Nase zugeschlagen.« Sie warf ihrer Oma einen Blick zu und zwinkerte. »Aber ich war überzeugend, mir wird sie ein Interview geben.« Sie ließ Maximilian kaum zu Wort kommen. »Ja, ich mache nur Notizen. Selbstverständlich wirst du die Reportage schreiben. Ich werde mir nicht erlauben, in deine Arbeit reinzupfuschen.«

Mamma Carlotta hatte währenddessen die Brötchen eingeweicht, sie ausgedrückt, mit dem Hackfleisch verknetet und die Kräuter und fein gehackten Sardellenfilets hinzugefügt. Nun formte sie mit Hingabe die Frikadellen und tat so, als könnte sie sich ausschließlich darauf konzentrieren und bekäme nichts davon mit, was Carolin mit Maximilian beredete.

Carolin warf das Handy zur Seite und widmete sich dem Rührei. »Maximilian hat Angst, dass ich besser bin als er«, sagte sie abfällig. »Ich hätte ihm nicht sagen sollen, dass ich auch Journalistin werden will. Nun hat er Angst, dass ich von ihm abschreibe, dass ich seine Beziehungen nutze, dass ich ihn nicht mehr bewundere, weil mir längst klar geworden ist, dass Reportagen keine hohe Kunst sind. So was kann ich auch.«

Mamma Carlotta beeilte sich, Carolin in dieser Ansicht zu bestärken. Vor allem ließ sie vorsichtig durchblicken, dass ein Mann, der seine Freundin wirklich liebte, ihr auch den Erfolg gönnte. Ob Carolin diese Äußerung, die raffiniert in einen Nebensatz verpackt worden war, verstanden hatte, wusste Mamma Carlotta allerdings nichts. Doch sie hielt sich mit weiteren Erklärungen zurück. Es war wichtig, Carolin nicht zu bedrängen, sonst würde sie am Ende aus lauter Trotz wieder nach Hamburg zurückgehen und bei Maximilian bleiben, obwohl sie mit ihm unglücklich war. Fingerspitzengefühl war gefragt! Nur gut, dass Mamma Carlotta davon überzeugt war, ausreichend Takt und Sensibilität zu besitzen.

Carolin zögerte, als sie das Haus verlassen wollten. »Ich finde, wir sollten für uns behalten, dass wir mit dem leitenden Ermittler verwandt sind. Sonst hält sie mein Interview am Ende für eine Finte und meint, mein Vater hätte mich geschickt, um mich bei ihr umzusehen. Und wenn sie weiß, dass du die Schwiegermutter bist, lässt sie dich womöglich nicht allein arbeiten. Sie denkt dann, du hättest den Auftrag, bei ihr zu schnüffeln, weil Papa noch nicht von ihrer Unschuld überzeugt ist.«

Mamma Carlotta überlegte kurz, dann nickte sie bestätigend. »Ja, das ist wohl besser.«

»Ich nenne mich bei ihr deshalb Carolin Witt.«

»So, als wärst du verheiratet?« Mamma Carlotta war entsetzt.

»Ist doch egal. Später wird unter dem Artikel Maximilians Name stehen, dann passt ja alles.«

Sie machten sich rechtzeitig auf den Weg. »Renn doch nicht so«, beschwerte sich Carolin, als sie am Osterweg angekommen waren.

»Io? Ich renne nicht. Madonna! Es geht nicht bergauf, nicht bergab, da muss man doch nicht schleichen wie una chiocciola. Eine Schnecke!«

Die Wege, die Mamma Carlotta in ihrem Dorf zurücklegte, zwangen meistens dazu, sich langsam zu bewegen. Entweder gingen die Gassen steil aufwärts oder ebenso steil abwärts. Da musste man manchmal sogar verschnaufen und die Einkaufstaschen eine Weile abstellen, bis der Weg geschafft war. Aber auf Sylt? Alles eben, keine einzige Steigung, nichts, was die Oberschenkelmuskulatur besonders beanspruchte. Mamma Carlotta bemühte sich, so langsam zu gehen wie Carolin, die sich neben der Fortbewegung mit ihrem Handy beschäftigte, und dafür zu sorgen, dass kein Autofahrer ihrer Enkelin zu nahe kam, was Carolin selbst nicht auch noch erledigen konnte.

Sie überquerten den Parkplatz von Feinkost Meyer und den Kreisverkehr und bogen in die Braderuper Straße ein. Bald ging es links ab in die Flurstraße, dann in die Alte Dorfstraße. Es war still hier. Ein paar Autos standen vor den Eingangstüren, aber nichts regte sich.

Das Haus war das älteste in dieser Straße. Kein gepflegtes Haus. Wer wusste, dass Jesko Lührsen lange krank gewesen war, bevor er starb, erkannte auf den ersten Blick, dass er nicht mehr die Kraft gehabt hatte, den Garten zu pflegen, die Fenster zu putzen, vertrocknete Blumen zu entfernen, Reparaturen vorzunehmen. Warum hatte Jesko Lührsen das Geld, das er aus dem Verkauf des Hauses seiner Mutter bekommen hatte, nicht genutzt, um sein eigenes Anwesen auf Vordermann zu bringen? Er musste viel Geld dafür bekommen haben, er hätte die Möglichkeit gehabt, sein eigenes Haus von Grund auf zu renovieren und zu modernisieren. Aber scheinbar war alles beim Alten geblieben, als Sandra nicht mehr bei ihm lebte. Er war vermutlich ein Mann gewesen, dem es auf eine schöne Umgebung nicht ankam. Sören hatte ihn näher gekannt, er wohnte ja in der Nähe. Er sei schwach und antriebslos gewesen, hatte er erzählt, weder leistungsfähig noch erfolgreich. Und sicherlich war er unglücklich gewesen, als Sandra ins Gefängnis gekommen war, obwohl er selbst dafür gesorgt hatte. Trotzdem hatte er vermutlich nicht gewusst, warum er dafür sorgen sollte, es in seinem Heim schön zu haben. Und dann war er ja krank geworden und noch weniger leistungsfähig als vorher. Mamma Carlotta musste sich zusammenreißen, um mit diesem Mann, der seiner Frau so übel mitgespielt hatte, kein Mitleid zu bekommen. Nein, das hatte er wahrlich nicht verdient.

Der Garten sah verwahrlost aus, der Zaun, der den Vorgarten umgab, war an mehreren Stellen eingebrochen. Das Haus sah sogar unbewohnt aus. Aber das war ja kein Wunder, Sandra war erst am Tag zuvor eingezogen. Es hatte längere Zeit leer gestanden, war vermutlich im Inneren kalt, brauchte lange, bis die Feuchtigkeit aus den Räumen heraus war und Wärme einziehen konnte.

Mamma Carlotta blieb in einiger Entfernung stehen und betrachtete das Haus. »Schön sieht es nicht aus. Aber sicherlich ist es besser als im Prigione.«

Carolin runzelte die Stirn. »Alles ist besser als ein Gefängnis.« Dann griff sie erschrocken zum Arm ihrer Nonna und nickte aufgeregt zur Haustür. »Mein Gott! Schau dir das an!«

Mamma Carlotta blieb der Mund offen stehen. Neben der Tür, unter einem Erdgeschossfenster, hatte jemand in grellroten Buchstaben das Wort »Hure!« aufgesprüht.

»Was für eine Gemeinheit!«

Mamma Carlotta kam nicht zum Antworten. Ein Ehepaar ging an ihnen vorbei, sie zog einen Einkaufstrolley hinter sich her, und er sagte zu ihr: »Unsere Nachbarschaft wird immer unangenehmer. Nun zieht hier sogar eine aus dem Knast ein. Besser, wir hätten uns für ein Haus in Keitum entschieden.«

Mamma Carlotta fuhr empört herum, ihr Gerechtigkeitssinn wallte auf, sie war so aufgebracht, dass sie Mühe hatte, nicht italienisch, sondern deutsch zu sprechen. »Si vergogni! Schämen Sie sich! Diese Frau hat unschuldig im Gefängnis gesessen.«

Der Mann ging einfach weiter, die Frau drehte sich um, grinste spöttisch und wies zu dem aufgesprühten Schimpfwort. »Unschuldig? Der arme Jesko musste sich von ihr Hörner aufsetzen lassen. Hätte sie ihren Mann nicht betrogen, dann wäre er auch nicht auf die Idee gekommen, sie in den Knast zu bringen.« Sie folgte ihrem Mann nun wieder, rief aber noch über die Schulter zurück: »Selbst schuld!«

Carolin hielt Mamma Carlotta fest. »Du läufst der nicht hinterher.«

Diese schnaubte empört, sah aber ein, dass Carolin recht hatte. »Inaudito! Unerhört!«

Carolin stimmte ihr zu. »Das hätte ich nicht gedacht, dass Sandra Lührsen mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.« Sie zückte ihr Handy und machte ein Foto von der aufgesprühten Beleidigung. »Ob sie das selbst überhaupt schon gesehen hat?« In ihr Gesicht stieg ein Ausdruck, wie Mamma Carlotta ihn oft bei den Treibern beobachtet hatte, wenn sie in die Weinberge stiegen und den Jägern, die unten mit angelegtem Gewehr warteten, die Hasen zutrieben. »Ich muss Maximilian sagen, dass er die Überschrift ändern soll.« Pathetisch rief sie: »Das Leiden der Sandra Lührsen geht weiter!« Leise fuhr sie fort: »Oder so ähnlich.« Sie verzog nachdenklich das Gesicht. »Ob ich das in der Reportage unterbringen kann? Wird ihr das recht sein?« Dann schien sie zu beschließen, dass sie sich darüber später Gedanken machen würde, und ging entschlossen aufs Haus zu. »Avanti, Nonna!«