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Erik zückte sein Handy, als es durch sanftes Vibrieren anzeigte, dass eine WhatsApp-Nachricht eingegangen war. »Vielleicht Carolin?«

Soeben hatte er, als sich auf die Frage, wo Maart Bleicken abgeblieben sein mochte, partout keine Antwort finden ließ, Sören gestanden, dass er sich große Hoffnungen machte. »Nur gut, dass meine Schwiegermutter zurzeit auf Sylt ist. Sie schafft es am ehesten, Carolin davon zu überzeugen, wieder nach Hause zu ziehen.«

Sören nickte verständnisvoll. »Es könnte ja sein, dass Sie gar keine Zeit haben, sich um Carolin zu kümmern. Wenn wir eine neue Spur im Fall Lührsen finden …«

Das bekam Enno Mierendorf mit, dessen Schwester einmal für ein Jahr aufs Festland gegangen war, gegen den Willen der Eltern. »Da müssen Sie ganz vorsichtig sein. Wenn meine Schwester witterte, dass sie zurückgeholt werden sollte, machte sie sofort dicht. Erst als meine Eltern so getan haben, als wäre es ihnen total egal, kam sie freiwillig wieder nach Sylt.«

Rudi Engdahl hatte sich ebenfalls eingemischt. »Sie ist volljährig, zwingen kann man sie nicht. Manchmal hilft es, wenn man den Geldhahn zudreht.«

Als er hörte, dass Carolin sich selbst über Wasser hielt und keinen Zuschuss zum Lebensunterhalt erwartete, zuckte er die Achseln. »Dann ist es schwierig. Aber vielleicht merkt sie ja noch, dass Kellnern kein Job mit Zukunft ist.«

Dazu hatte Erik nichts mehr sagen können, denn in diesem Moment kam die WhatsApp-Nachricht an.

»Von Dr. Hillmot«, sagte er erstaunt und las laut: »Meine süße Violetta hat immer die tollsten Ideen. Sie hat so getan, als wollte sie ein Selfie machen, hat aber in Wirklichkeit die Kette der Pflegerin fotografiert.« Er hielt Sören das Foto unter die Nase. »Schauen Sie sich das an.«

Sören pfiff durch die Zähne. »Die sieht wirklich teuer aus. Eine Kette, wie sie von älteren Frauen getragen wird. aber Heike Schrunz ist in den Vierzigern. In diesem Alter bevorzugen Frauen eigentlich anderen Schmuck.«

Erik zog das Foto mit Daumen und Zeigefinger so groß wie möglich. »Zu Witta Lührsen hätte sie gepasst.«

»Wir sollten das Foto Sandra Lührsen zeigen.« Erik schloss seine WhatsApp-Nachrichten und steckte das Handy weg. »Heute Nachmittag fahren wir zu ihr. Ich würde sowieso gern mit ihr reden. Vielleicht sind ihr im Gefängnis Ideen gekommen. Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken.«

Sören stimmte seinem Chef zu. »Echt krass, jahrelang unschuldig im Knast zu sitzen. Wie mag sich das anfühlen? Was macht das mit einem? Ob sie jetzt sehr erleichtert ist? Oder eher wütend auf ihren Mann, der ihr das eingebrockt hat?«

»Oder auf uns?«, warf Erik ein.

Aber davon wollte Sören nichts hören. »Wie verzweifelt muss sie gewesen sein, als ihr klar wurde, dass sie lebenslang sitzen wird? Ob sie geahnt hat, warum ihr Mann diese Falschaussage gemacht hat?«

»Sicherlich«, gab Erik zurück. »Aber noch mehr interessiert mich, was Sandras Befreiung mit dem wahren Täter macht. Er durfte sich jahrelang sicher fühlen. Was unternimmt er jetzt? Stillhalten und abwarten? Oder irgendetwas tun, damit uns kein Verdacht kommt?«

»Das wäre gut«, antwortete Sören zufrieden. »Dann macht er Fehler.«

Erik nickte. »Lassen Sie uns die Sache noch mal durchgehen.« Er sah einen Sylter Bürger an, ohne ihn zu sehen. Dieser Mann ging auf Enno Mierendorf zu und beklagte sich bitterlich darüber, dass ihm ein Fünfeuroschein vor einem Kiosk zu Boden gefallen war, der von einem etwa Fünfzehnjährigen aufgehoben worden war. Er hatte schon geglaubt, dass auch Jugendliche, die nicht so aussahen, höflich und ehrlich mit alten Menschen umgingen, aber der Bengel hatte den Schein nicht etwa an den Mann zurückgegeben, sondern vor dessen Augen in seine schmuddelige Jeansjacke gesteckt. »Und dann geht der einfach los und lacht sogar noch laut.«

Während Enno Mierendorf so klug war, die Empörung des Mannes zu teilen, dachte Erik laut über die Verdächtigen nach. »Heike Schrunz ist mal bei Witta Lührs ein und aus gegangen. Sie hat es hingekriegt, sich während dieser Zeit unentbehrlich zu machen. Witta Lührsen war ihr so dankbar, dass sie versprochen hat, sie in ihrem Testament zu bedenken.«

»Sicherlich hatte die Schrunz auch Gelegenheit, in den Schränken nachzusehen und nach Geld zu suchen.«

»Vielleicht hat sie es sogar gefunden. Genommen hat sie natürlich nichts, dann wäre Witta Lührs schnell auf die Idee gekommen, dass Heike Schrunz die Diebin ist. Nein, sie hat sich die Kohle später geholt.«

»Und ist dabei von Witta Lührsen erwischt worden?«

Erik nickte. »Oder sie hat Witta Lührsen hinterrücks erschlagen, weil sie nicht nur das Geld aus dem Wäscheschrank haben wollte, sondern die zehntausend aus dem Testament ebenfalls.«

»Und dann hat sie die Fenster aufgemacht, um so zu tun, als wäre ein Einbruch geschehen. Die Schrunz wusste vermutlich, wie sie ins Haus kommen konnte. Womöglich hat sie sich, während sie bei Witta Lührsen arbeitete, einen Schlüssel nachmachen lassen.«

Erik fiel etwas ein. »Witta Lührsen wäre eigentlich an diesem Abend gar nicht zu Hause gewesen. Sie spielte einmal in der Woche mit ihren Freundinnen Rommé. An diesem Abend hatte eine von ihnen einen Herzanfall bekommen, musste ins Krankenhaus, und die Rommé-Runde hat sich schnell aufgelöst.«

»Das passt! Die Schrunz war garantiert mit den Gewohnheiten von Witta Lührsen vertraut.«

»Und dann wurde sie überrascht …«

»Das haben wir ihr schon vor fünf Jahren vorgehalten. Aber ihr war nichts nachzuweisen.«

»Weil wir es nicht mit aller Kraft versucht haben. Denn dann kam ja die Aussage von Jesko Lührsen …«

Sie stellten die leeren Kaffeebecher zurück und verließen die Wache. Erik hätte jetzt gerne Tilla angerufen, aber er wusste, dass sie eine Gerichtsverhandlung und keine Zeit für ihn hatte. Er lächelte, als er an früher dachte. Da hatte er es gehasst, wenn die Staatsanwältin angerufen und ihn nach seinen Ermittlungserfolgen gefragt hatte. Nun war alles anders. Er hoffte darauf, möglichst bald mit ihr über den Fall reden zu können. Heute Abend sicherlich.

»Der Verdacht gegen Maart Bleicken ist auch nicht von der Hand zu weisen«, sagte er, während sie auf den Eingang des Telekomgebäudes zugingen. »Ein notorischer Kleinkrimineller ohne festen Wohnsitz. Kriecht mal hier und mal dort unter.« Er blieb stehen und sah seinen Mitarbeiter nachdenklich an. »Wie waren wir damals eigentlich auf Maart Bleicken gekommen?«

»Er ist beobachtet worden, wie er aus dem Fenster stieg. Ein Nachbar hat ihn gesehen und eine so gute Personenbeschreibung abgegeben, dass wir ihn bald am Schlafittchen hatten.«

Erik nickte, betrat vor Sören das Telekomgebäude und ging auf die Türen des Aufzugs zu, während Sören wie immer die Treppe nahm. Erik musste eine Weile warten, bis der Aufzug kam, als er dann nach oben surrte, überlegte er sich, dass auch alles ganz anders gewesen sein konnte. Maart Bleicken war bei Witta Lührsen eingebrochen, weil ihm jemand geflüstert hatte, dass sie dienstags nie zu Hause war. Ihr Rommé-Abend.

Sören erwartete ihn schon in der dritten Etage. Er schien sich auf dem Weg dorthin ähnliche Gedanken gemacht zu haben wie sein Chef. »Maart Bleicken traue ich keinen Mord zu, keinen eiskalt geplanten. Aber dass er zuschlägt, wenn er ertappt wird, das halte ich durchaus für möglich. Wenn er es war, dann muss er gewusst haben, dass Witta Lührsen dienstags nie zu Hause war. Und dann hat er zugeschlagen, als sie plötzlich vor ihm stand und damit drohte, die Polizei zu holen.«

»Womit hat er zugeschlagen?«, fragte Erik, während sie sein Büro betraten.

»Die Tatwaffe ist nie gefunden worden«, gab Sören zurück.

Erik seufzte schwer, ließ sich am Schreibtisch nieder, schob die Schublade auf und suchte nach seiner Schokolade. Am liebsten hätte er sich jetzt eine Pfeife angezündet. Wenn er den Rauchkringeln nachsah, konnte er am besten denken. Aber das war im Büro natürlich völlig unmöglich. »Bleibt noch Norbert Dombrowsky«, sagte er. »Und Jesko Lührsen?«

In diesem Augenblick klopfte es, und einer der Telekommitarbeiter schaute ins Zimmer. »Herr Hauptkommissar? Ihr Sohn ist hier.«