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Nach einem Blick in alle Räume des Obergeschosses entschied sich Mamma Carlotta, in dem sogenannten Herrenzimmer zu beginnen, das eigentlich ein Kinderzimmer hatte werden sollen. Sie blieb in der Tür stehen und ließ den Raum eine Weile auf sich wirken. Kein schöner Raum. Ebenso altmodisch möbliert wie das Wohnzimmer, atmosphärisch ebenso grau und kalt. Der Schrank und der Schreibtisch konnten gut und gerne noch aus Jeskos Jugendzimmer stammen. Beides hatte vielleicht diesen Raum füllen sollen, bis es endlich so weit war, dass ein Babybett und eine Wickelkommode gekauft werden konnten. Der Schrank war zerkratzt, an den Seiten waren Reste von Klebern zu sehen, da, wo der junge Jesko vielleicht die Poster seiner Idole angeklebt hatte.

Mamma Carlotta riss die beiden Schranktüren auf. Alles weg, was männlich ist, so hatte Sandra Lührsen gesagt. Hier war alles männlich, da brauchte sie nicht lange zu überlegen. Sie holte einen Müllsack und begann, den Schrank zu leeren. Kleidung, die längst in den Rote-Kreuz-Container gehört hätte, Matchboxsammlungen, alte Tagebücher, Stickeralben aus Jeskos Kindheit. Aber auch Fotomappen mit Fotos, die vielleicht für Sandra interessant waren? Auf einigen Fotos war sie selbst zu sehen, also war es wohl besser, diese Alben beiseitezulegen. Aber dann eine Sammlung von Zigarettenschachteln ausgefallenerer Art, die konnte weg. Langspielplatten, die einem Liebhaber womöglich gefallen könnten. Mamma Carlotta zögerte kurz und entschloss sich dann, auch sie in den Müllsack zu stecken. Danach stieß sie auf eine Ukulele, die in einer Tasche steckte, die eigentlich für einen Badmintonschläger gedacht war. Weg damit! Dahinter, in einer Ecke des Schranks, fanden sich Noten und Liederbücher. Weg!

Unten hörte sie Stimmen, die Türen schienen offen geblieben zu sein. Sandra erzählte Carolin soeben von ihrer Jugend. »Meine Mutter war alleinerziehend. Drei Kinder von drei Vätern. Als meine Schwiegermutter das hörte, war sofort klar, dass ich nicht die Richtige für ihren Liebling war. Asozial nannte sie mich. Dabei hatte ich zumindest einen Vater, der Alimente zahlte, die Väter meiner Brüder hatten sich rechtzeitig verdrückt und nichts mehr von sich hören lassen. Mein Vater hat auch dafür gesorgt, dass ich eine Ausbildung bekam. In anderen Familien sind die Eltern stolz auf Kinder mit Abitur und abgeschlossenem Studium, meine Mutter war stolz auf eine Tochter, die Textilfachverkäuferin wurde und sogar die Abschlussprüfung bestand. Meine Brüder sind beide als Ungelernte auf dem Bau gelandet. Aber immerhin ist nie einer von ihnen in den Knast gewandert, wie das anfänglich zu erwarten gewesen war. Einer ist beim Ladendiebstahl erwischt worden, hat aber Bewährung bekommen. Und der andere war in schlechter Gesellschaft und hat mehr Drogen konsumiert, als gut für ihn war. Aber auch er hat die Kurve gekriegt. Doch ausgerechnet ich, die es im Leben am weitesten gebracht hatte, bin in den Knast gewandert. In der Verhandlung, in der ich verurteilt wurde, haben meine Brüder unter den Zuhörern gesessen. Als ich freigesprochen wurde, war keiner von meiner Familie dabei.«

Mamma Carlotta ging ins Zimmer zurück und griff wieder nach dem Müllsack. Carolin schien Fingerspitzengefühl zu beweisen. Es hörte sich ganz so an, als schaffte sie es, dass Sandra Lührsen sich öffnete. Dumm nur, dass Maximilian Witt vermutlich gar nicht zu schätzen wusste, dass Carolin etwas schaffte, das ihm selbst vermutlich nicht gelungen wäre. Schon deswegen nicht, weil er auf die Schnelle keine Putzfrau für Sandra Lührsen gefunden hätte.

Das nächste Buch war ein alter Karl-May-Band. Mamma Carlotta lächelte. Der Schatz im Silbersee! Dieses Buch hatte auch Guido, ihr Ältester, verschlungen. Als sie es in den Müllsack stopfen wollte, rutschte ein Foto heraus. Es zeigte einen gut aussehenden Mann um die fünfzig. Er lächelte in die Kamera, nicht freundlich, auch nicht eitel, eher siegessicher, so kam es Carlotta vor.

Sie drehte das Foto um und entdeckte eine Widmung: »Danke für deine Liebe!«

Wieso steckte dieses Bild in einem Buch, das augenscheinlich Jesko Lührsen gehört hatte? Diese Widmung musste doch an eine Frau gerichtet sein. Carlotta warf dem lächelnden Gesicht einen letzten Blick zu, ehe sie das Foto im Müllsack verschwinden ließ. Vielleicht ein Verwandter von Jesko Lührsen?

Sie entsorgte einen Stapel Zeitschriften, hauptsächlich Magazine für Motorsport, in denen ein paar Pornoblätter versteckt waren. Angewidert warf Mamma Carlotta diese besonders schwungvoll weg. Sie kniff sogar die Augen zusammen, bis sie sicher sein konnte, dass alles im Müllsack verschwunden war, ohne dass sie es gesehen hatte.

Sie stöhnte auf. Die linke Seite des Schranks war vollständig ausgeräumt. Nur in einer Ecke lag noch eine Tageszeitung, das Inselblatt von Sylt. Keine aktuelle Ausgabe, sondern eine mehrere Jahre alte. Worüber mochte darin berichtet worden sein, dass Jesko Lührsen sie aufbewahrt hatte? Die Zeitung war so aufgeschlagen, dass nicht das Titelblatt zu sehen war, sondern eine Seite mit Berichten, die die Insel Sylt betrafen, vor allem die Baumaßnahmen, die geplant und zum Teil schon durchgeführt worden waren. Sehr kritisch wurde über ein Geschäftshaus berichtet, das in List gebaut wurde. Das Inselblatt hatte Fotos vom Richtfest gemacht. Norbert Dombrowsky, ein erfolgreicher Makler, hatte dafür gesorgt, dass bereits alle Büroräume des Geschäftshauses, dem soeben der Dachstuhl aufgesetzt worden war, Besitzer gefunden hatten. Stolz lächelte er in die Kamera. Neben ihm stand ein attraktiver Mann, der Architekt des Geschäftshauses. Mamma Carlotta stutzte und führte das Foto dicht vor ihre Augen, um das Gesicht des Mannes möglichst genau zu erkennen. Dann aber war sie sicher. Das war der Mann, dessen Bild sie soeben in den Müllsack gestopft hatte. Nun wusste sie auch, wie er hieß, sein Name war der Bildunterschrift zu entnehmen. Adrian Halliger! Was hatte es zu bedeuten, dass Jesko Lührsen in seinem Schrank ein Foto von einem Sylter Architekten aufbewahrte und dazu einen Zeitungsartikel, in dem er erwähnt wurde?

Über eine so kniffelige Frage ließ sich am besten nachdenken, wenn die Hände etwas zu tun hatten. Mamma Carlotta ging ins Bad, um den Putzeimer mit Wasser zu füllen. Der Schrank musste gründlich ausgewischt werden. Sie sah sich um, während das Wasser in den Eimer rauschte. Braun-orange gemusterte Fliesen, deren Wirkung die Objekte erschlug, die zweifellos in den letzten Jahren erneuert worden waren. Ein modernes Waschbecken, eine Eckbadewanne, die im Katalog vermutlich eine Wellnessoase genannt worden war, und eine Dusche mit gläsernen Wänden. Dass sie früher mal durch einen Duschvorhang abgetrennt gewesen war, ließ sich noch erkennen. Überdies hatte jemand versucht, diesen Raum ein wenig zu dekorieren. Jesko? Oder waren die zierlichen Wandregale mit den dekorativen Flakons und die Duftstäbchen auf der Fensterbank fünf Jahre alte Hinterlassenschaften von seiner Frau?

Mamma Carlotta ging zum Fenster und nahm die hölzerne Möwe zur Hand, die farblich nicht ins Ambiente passte. Dabei fiel ihr Blick nach draußen und wurde von einer Bewegung hinter der Hecke angezogen. Jemand schlich ums Haus herum. Kein Mann, der darauf hoffte, einen Blick auf ein nacktes Modell zu werfen, nein. Eine Frau duckte sich und versuchte, nicht gesehen zu werden.

Dann hörte Mamma Carlotta die Geräusche eines Autos, die kurz darauf erstarben. Eine Wagentür klappte, wenige Augenblicke später klingelte es. Mamma Carlotta sah, wie die Frau sich davonmachte …