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Es klingelte dreimal hintereinander. Mamma Carlotta war sofort alarmiert. So klingelte jemand, der zeigen wollte, wer vor der Tür stand. Vielleicht auch jemand, der Sandra Lührsen Gelegenheit geben wollte, aufs Öffnen zu verzichten, wenn dieser Besuch zum falschen Zeitpunkt kam, oder auch dann zu öffnen, wenn sie noch nicht angezogen war und keinen Fremden hineingelassen hätte. Ein geheimes, unauffälliges Klingelzeichen! Aber nicht für eine Mutter von sieben Kindern, die allesamt Heimlichkeiten gehabt hatten, die la mamma nicht durchschauen sollte. Carlotta Capella war fest davon überzeugt, dass sie alle geheimen Zeichen kannte.

Sie hatte gerade das Ausräumen des Schranks im sogenannten Herrenzimmer beendet, als sie das Klingeln hörte. Hurtig lief sie aus der Tür und beugte sich vorsichtig über das Treppengeländer. Sie sah Sandra Lührsen zur Tür gehen, konnte aber leider nicht erkennen, wer davorstand, als sie geöffnet wurde. Doch ihr fiel auf, dass Sandra ihren Besuch nicht zu Wort kommen ließ. Kein »Guten Tag!« oder »Endlich sehen wir uns wieder«, nein. Ihre Stimme zischte etwas, was Carlotta nicht verstehen konnte, leise, aber schneidend, in einem Ton, den jeder sofort richtig interpretieren musste. Möglich sogar, dass die Wörter Putzfrau und Reporterin darin vorgekommen waren, da war sie aber nicht sicher. Mamma Carlotta musste sich eingestehen, dass sie diese beiden Wörter gern gehört hätte, um sich einen Reim darauf machen zu können, dass Sandra hier jemanden abwimmelte, aber leider überhaupt nicht sicher sein konnte.

Schon wurde die Tür zugeschlagen, Sandras Schritte kehrten ins Atelier zurück. Mamma Carlotta hörte, dass sie zu Carolin sagte, da wäre ein wichtiger Besuch gewesen, das Leben müsse ja weitergehen, und sie könne froh sein, eine Chance zu bekommen, Geld zu verdienen. »Mit der Witwenrente werde ich nicht weit kommen.«

Mamma Carlotta hatte gerade nach dem Staubwedel gegriffen, als im Erdgeschoss Unruhe entstand. Carolin kam in den Flur, sie wollte scheinbar schon aufbrechen. So schnell?

»Signora Capella!«, rief sie die Treppe hoch, mit einer fragenden Stimme, die zu einer fremden Anrede passte. »Wir werden morgen weitermachen. Frau Lührsen muss weg.«

»D’accordo!« Mamma Carlotta sah sich um. Weit war sie nicht gekommen. Wenn das so weiterging, würde es eine ganze Woche dauern, bis das Haus sauber und von den Spuren des toten Jesko Lührsen befreit war. Und dann die Schmiererei an der Fassade! Was würde geschehen, wenn Sandra Lührsen die entdeckte? Vermutlich würde sie die Putzfrau damit beauftragen, das Werk dieser Schmierfinken schleunigst zu entfernen. Sie würde heute Abend in Panidomino anrufen müssen. An Signora Valentes Hauswand hatte mal ein Liebhaber ihrer Tochter »Ti amo« gesprüht, und die Mutter hatte damals ein Mittel gefunden, diesen Liebesbeweis zu entfernen. Das Mittel, um den Liebhaber zu entfernen, hatte sie leider erst später gefunden, beinahe zu spät, als sie herausfand, dass eine andere Frau von diesem Kerl ein Kind erwartete.

Sie ging die Treppe hinab, an deren Fuß Sandra Lührsen ungeduldig auf sie wartete. »Tut mir leid, aber da war gerade jemand vom Touristenbüro. Es geht um die Malkurse, die ich wieder anbieten möchte. Aktmalen für Touristen! Alle sind ganz wild darauf. Und nun geht’s um die Werbung …«

Mamma Carlotta glaubte ihr kein Wort. Hätte Sandra Lührsen die Wahrheit gesagt, hätte sich an der Tür ein Gespräch angebahnt, aber in Wirklichkeit war der Besucher überhaupt nicht zu Wort gekommen. Die Sache war für sie glasklar. Jemand hatte vor der Tür gestanden, der zu einem unpassenden Zeitpunkt erschienen war, jemand, den Sandra Lührsen nicht sehen lassen wollte, den sie vor der Journalistin verstecken musste. Vielleicht ihr ehemaliger Liebhaber?

Carlotta warf sich ihre Jacke über. »Gut, ich komme morgen wieder.«

»Ich auch«, ergänzte Carolin. »Wir waren ja gerade erst in Schwung gekommen.«

Sandra Lührsen lächelte, und mit einem Mal sah sie sehr hübsch und optimistisch aus, anders als bei ihrem Eintreffen. Der graue Schleier vor ihrem Gesicht hatte sich gehoben, der trostlose Ausdruck ihrer Augen hatte sich in Zuversicht verwandelt, die müde Hoffnungslosigkeit war von ihr abgefallen. Sie sah so aus, als wäre sie erst in diesem Augenblick in der Freiheit angekommen, die sie für immer verloren geglaubt hatte. »Ich bin froh, dass ich dem Chefredakteur vom Inselblatt abgesagt habe.« Sie bedachte Carolin mit einem anerkennenden Nicken, dann öffnete sie ihnen, ließ sie hinausgehen und warf die Tür hinter ihnen zu. Man konnte ihre schnellen Schritte in der Diele hören.

»Ich glaube ihr kein Wort«, sagte Mamma Carlotta.

Carolin nickte. »Die hat uns was vorgemacht. Ein Vertreter des Touristenbüros kommt nicht ins Haus. Der hätte sie einbestellt.«

»Und sie hat ihn gar nicht zu Wort kommen lassen. Sie hat ihm nur etwas zugezischt …«

»Wahrscheinlich, dass er verschwinden soll, weil sie Besuch hat.«

Mamma Carlotta warf einen Blick zurück. »Es könnte auch jemand gewesen sein, der sie darauf hinweisen wollte, dass jemand eine schwere Beleidigung an ihr Haus gesprayt hat. Sie hat das vermutlich noch nicht gesehen.« Sie griff nach Carolins Arm und zog sie in einen schmalen Weg, der zwischen zwei Gärten hindurchführte. »Oder es war der Liebhaber, von dem Jesko in seinem Abschiedsbrief geschrieben hat?«

Carolin versuchte, ihre Neugier zu verbergen. »Du meinst, der steht nach fünf Jahren gleich wieder auf der Matte?«

»Warum nicht? Wenn er noch immer in sie verliebt ist. Oder wenn er ihr sagen will, dass es ihm leidtut. Bei l’amore muss man immer mit allem rechnen.«

Carolin flüsterte nun. »Wenn sie sich mit ihm trifft, könnten wir ihr folgen. Maximilian wäre begeistert, wenn wir ihm ein Foto von dem Liebhaber präsentieren.«

Das dämpfte Mamma Carlottas Eifer. Maximilian wollte sie nicht helfen. Und war es überhaupt richtig, diesen Liebhaber ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren? Vor Gericht war sein Name nicht genannt worden, das hatte Erik berichtet, und er hatte es richtig gefunden. Nun sollte der Name in einer Zeitung stehen und demnächst jeder mit dem Finger auf diesen Mann zeigen?

Aber es war zu spät. Wenn die Neugier erst einmal derart hochgeschossen war und noch dazu eine andere Person dabei half, die Flamme am Lodern zu halten, dann war es unmöglich, dieses Feuer wieder auszutreten. Mamma Carlotta beruhigte sich damit, dass man ja immer noch darauf verzichten konnte, Maximilian Witt das Foto zur Verfügung zu stellen. Carolin konnte sogar darauf verzichten, dieses Foto zu schießen. Mamma Carlotta reichte es, zu wissen, wer dieser Mann war. Warum sie es gern wissen wollte? Darauf hätte sie nicht antworten können. So was wollte man eben wissen, basta!

Carolin suchte sich eine Stelle, wo sie die Haustür von Sandra Lührsen im Blick behalten konnte, ohne jedoch von dort gesehen zu werden. »Wetten, dass sie sich jetzt schminkt und umzieht? Das wird noch eine Weile dauern, bis sie sich aufmacht.«

Aber es ging schneller als gedacht. Schon nach einer Viertelstunde wurde die Haustür aufgerissen, Sandra Lührsen erschien auf der Schwelle. Sie trug einen langen schwarzen Wollmantel, darüber einen bunten Schal und Fellstiefel. Eine riesige Tasche baumelte an ihrer linken Schulter, ihre Lippen waren knallrot geschminkt, die Haare streng nach hinten gegelt. Sie sah schick und außergewöhnlich aus, obwohl ihre Kleidung unmöglich nach der neuesten Mode sein konnte, sondern mindestens fünf Jahre alt sein musste.

Zügig wollte sie losgehen, wurde dann aber mit einem Mal ausgebremst. Wie vom Schlag getroffen blieb sie stehen. Im Augenwinkel musste sie die riesigen grellroten Buchstaben gesehen haben, die neben der Haustür prangten. »Hure!« Man sah, dass sie mit den Lippen dieses Wort formte. Wie erstarrt stand sie da, offenbar unfähig, sich zu bewegen. Das Entsetzen hatte ihren ganzen Körper befallen.

Das Taxi, das kurz darauf vorfuhr, hätte sie beinahe nicht bemerkt. Erst als der Fahrer kurz die Hupe drückte, drehte sie sich um. Mit schleppenden Bewegungen ging sie auf das Taxi zu. Sie hatte die ganze Dynamik eingebüßt, mit der sie kurz vorher über der Schwelle ihres Hauses getreten war.

Das Taxi fuhr langsam an, der Fahrer schien zu warten, dass Sandra Lührsen sich anschnallte. Er gab erst Gas, als das geschehen war. Im selben Moment setzte sich in der Nähe ein anderer Wagen in Bewegung. Ein grüner Mini, der unvorsichtig ausscherte und es darauf anzulegen schien, dem Taxi zu folgen und es nicht aus den Augen zu verlieren. Mamma Carlotta konnte die Fahrerin erkennen, die einen langen Hals machte, um sehen zu können, welche Richtung das Taxi einschlug. Es war die Frau, die sie kurz vorher vom Badezimmerfenster aus gesehen hatte.

Aufgeregt griff sie nach Carolins Arm. »Diese Frau …«

Carolin unterbrach sie. »Die kenne ich. Das ist Merret Halliger, die Kosmetikerin.«

»Halliger«, wiederholte Mamma Carlotta tonlos. »Die Frau von Adrian Halliger?«

Carolin wandte sich ihr erstaunt zu. »Du kennst ihn?«

In Sekundenschnelle wurde sie informiert und über Mamma Carlottas neueste Theorie aufgeklärt. »Kann es sein, dass Adrian Halliger der Mann ist, mit dem Sandra Lührsen ein Verhältnis hatte? War er vielleicht derjenige, der bei ihr geschellt hat?«

»Schon möglich.« Carolin wurde sehr nachdenklich. »Wenn er es war, dann wollte Sandra natürlich nicht, dass er gesehen wird. Und er selbst wollte es genauso wenig.« Wütend stieß sie ihre Fäuste zusammen. »Was für ein Mist, dass wir zu Fuß sind und ihnen nicht folgen können!«

Mamma Carlotta sah den beiden Autos nach, die schon bald nicht mehr zu erkennen waren. »Merret Halliger hatte wohl Angst, dass die Affäre ihres Mannes mit Sandra Lührsen weitergeht. Deswegen hat sie das Haus beobachtet. Und sie hat vermutlich recht. Ihr Mann hat wirklich keine Zeit verloren.«

Carolin nickte, dann blickte sie ihre Nonna sehr nachdenklich an. Es war in ihren Augen zu lesen, dass sie eine Idee entwickelte, bei der ihre Großmutter die Hauptrolle spielen sollte …