Erik atmete erleichtert auf, als er hörte, dass die Haustür geöffnet wurde. Endlich! Seine Schwiegermutter kam, sie würde ihn von ihrer Cousine befreien. Sollte sie sich doch anhören, was in Hörnum geschehen war, vielleicht verstand sie es, er selbst hatte noch nicht begriffen, was eigentlich vorgefallen war. Und Dr. Hillmot war viel zu erschöpft, um sich gegen Violettas Wortschwall durchzusetzen und Erik zu berichten, warum Violetta die Koffer gepackt und einen Krankentransport bestellt hatte. Erik war froh gewesen, als Violetta ihm auftrug, für ein großes Bettlaken zu sorgen, das sie über das Schlafsofa breiten wollte, um für Dr. Hillmot ein Bett herzurichten, auf dem er seinen Mittagsschlaf halten konnte. Erik hatte Sören in die Küche geschoben und ihn gebeten, einen Espresso zu kochen, damit er sich am Ende nicht noch gezwungen fühlte, in die Debatte einzugreifen, unvorsichtig Stellung zu beziehen oder sich auf die falsche Seite zu schlagen. Sören wusste ja nicht, dass Violetta in der Lage war, jedes vernünftige Argument zu verdrehen, sodass am Ende immer sie recht hatte. Ein Friese wie Sören und wie er selbst würde bei Violetta immer den Kürzeren ziehen.
Langsam, sehr langsam war er die Treppe hochgestiegen, hatte gemächlich den Wäscheschrank geöffnet und umständlich und zeitraubend ein Betttuch hervorgeholt. Als er wieder auf der oberen Stufe stand, um ins Erdgeschoss zurückzukehren, hatte er gehört, dass Violetta telefonierte.
»Sì, Süder Wung! No, nicht mehr Hörnum, sondern Wenningstedt. Wir wohnen jetzt hier.«
Um Himmels willen! Wen würde er außerdem noch erwarten müssen? Seine Schritte waren noch langsamer geworden, er war erst mal in die Küche gegangen, wo Sören vor einer Tasse Espresso saß und wortlos auf die zweite zeigte.
Erik hatte sich niedergelassen und einen Schluck getrunken. »Mit wem hat sie telefoniert?«, hatte er flüsternd gefragt.
Sören hatte ohne Weiteres zugegeben, dass er gelauscht hatte. »Mit Heike Schrunz. Sie wird demnächst in Ihr Haus kommen, Chef, um Dr. Hillmot zu versorgen.«
Erik hatte eine Weile gebraucht, um diese Auskunft zu verarbeiten. Dann hatte er aufgesehen. »Ist das gut für unsere Ermittlungen?«
Sören hatte genickt. »Könnte sein. Dr. Hillmot wird es schaffen, sie in diverse Gespräche zu verwickeln. Das kann er.«
»Vorausgesetzt, Violetta mischt sich nicht ein.«
In diesem Moment traten seine Schwiegermutter und seine Tochter ein. Entgeistert zeigte Mamma Carlotta auf das Betttuch, das auf dem Küchentisch lag, und dann zur Wohnzimmertür, hinter der sie Stimmen hörte. Vor allem eine Stimme, besonders laut, besonders schrill. »Violetta?«
Kurz darauf wurde Erik Zeuge, wie seine Schwiegermutter den Balanceakt versuchte, einerseits gastfreundlich zu sein, andererseits der Familie unerwünschten Besuch vom Hals zu halten, einerseits es nicht merken zu lassen, andererseits deutlich genug zu sein. Sehr, sehr schwierig. Er selbst hätte das niemals hinbekommen. Für ihn wären nur zwei Reaktionen infrage gekommen: ergeben nicken oder wutschnaubend zur Tür zu weisen. Beides war nicht gut, für diesen verzwickten Fall musste man ein besonderes Händchen haben und viel von Diplomatie verstehen.
Doch das Ende hatte dann nicht anders ausgesehen, als hätte er ergeben genickt. »Wir können il dottore nicht aus dem Haus werfen«, hatte Mamma Carlotta tuschelnd argumentiert, als sie in die Küche zurückgekommen war. »Er kann doch nichts dafür. Und Violetta ist nun mal meine Cousine. Eine Verwandte kann man auch nicht einfach aus dem Haus werfen.«
»Na toll.« Da hatte er so sehr auf das Verhandlungsgeschick seiner Schwiegermutter vertraut, und was war dabei herausgekommen? Nicht mehr, als wäre er gezwungen gewesen, selbst eine Entscheidung zu treffen.
Carolin war ebenso ratlos. »Wie soll das gehen? Wir haben im Erdgeschoss keine Dusche. Aber Dr. Hillmot kommt nicht die Treppe hoch.«
»Mir doch egal«, gab Erik wütend zurück. »Dann muss Heike Schrunz eben sehen, wie sie damit fertigwird. Sie ist die Pflegerin, sie wird schon klarkommen.«
Sören wagte einen Einwand. »Was ist denn nun eigentlich passiert? Warum konnten die beiden nicht in Hörnum bleiben?«
Mamma Carlotta glaubte, verstanden zu haben, was sich ereignet hatte. Nach dem, was Violetta in schnellstem Italienisch hervorgehaspelt und Dr. Hillmot in friesischem Deutsch ergänzt hatte, war Violetta mal wieder eingefallen, dass sie eigentlich Balletttänzerin hatte werden wollen. Während ihrer kurzen Zeit im Zirkus, mit dem sie vor vielen Jahren durchgebrannt war, hatte sie sogar geglaubt, Seiltänzerin werden zu können. Dazu war es aber nicht gekommen, denn Violettas große Liebe zu einem Zirkusartisten war zerbrochen und sie gezwungen, nach Hause zurückzukehren. Dort war sie von ihrer Mutter mit offenen Armen empfangen und von ihrem Vater verprügelt worden. Doch kaum waren die blauen Flecken und Blutergüsse verheilt, stellte sie fest, dass Spitzentanz noch immer möglich war. Sie musste zwar weiterhin zu Hause das Vieh versorgen, das Haus putzen und bei der Ernte helfen, tat das aber, soweit es möglich war, auf Spitze und mit großen Gesten, wie sie es bei der Seiltänzerin im Zirkus gesehen hatte. Ihr Vater hatte ihr jedes Mal eine Ohrfeige verpasst, wenn er sah, dass seine Tochter an den Futtertrögen vorbeitanzte und die Kühe im Rhythmus einer Musik molk, von der sie behauptete, es sei die Nussknacker-Suite, aber irgendwann hatte auch er sich daran gewöhnt und ließ sie gewähren. Auch als Violetta die Möhren aus der Erde zog und sie erst nach einer Pirouette in den Korb legte, schaute er darüber hinweg. Hauptsache, sie kam mit der Arbeit voran. Er ließ sogar zu, dass sie zu jeder Familienfeier einen einstudierten Tanz darbot, der mehr Bestürzung als Beifall hervorrief, und die Eltern fanden sich damit ab, dass ihre Tochter aufgrund ihrer merkwürdigen Gewohnheiten wohl nicht zu verheiraten sein würde. Dass Violetta die Ehe mit einem Dottore anstrebte, konnten sie nicht mehr miterleben. Sie hatten längst das Zeitliche gesegnet.
Ob Violetta ihren Liebsten mit ihrer Balletteinlage davon überzeugen wollte, die Richtige für ihn zu sein, wusste Mamma Carlotta nicht genau. Aber sie war offenbar auf die Idee verfallen, ihn mit ihrem Tanztalent zu erfreuen. Angeblich hatte sie es sogar mit einem Spagat versucht, und da sie groß und langbeinig war, kam ihr ein Beistelltischchen in den Weg, auf dem Elke Hillmot eine Vase dekoriert hatte, die ihr viel bedeutete. Sie war umgefallen und auf der Erde gelandet. »Nicht schlimm«, hatte Violetta behauptet, »nur eine kleine Ecke ab.«
Sie hatte also die Vase auf das Tischchen zurückgestellt, die künstlichen Ranunkeln wieder hineingestopft und ihre Tanzdarbietung fortgesetzt. Angeblich hatte es nicht an ihrer Armposition gelegen und auch nicht an dem Sprung, der ihrer Meinung zu dieser Aufführung dazugehört hatte, sondern lediglich an der Verständnislosigkeit von Elke Hillmot, die eintrat, als Violetta soeben auf das rechte Bein gesprungen war und das linke so weit nach hinten führte, dass Elke Hillmot sich knapp in Sicherheit bringen und nur durch einen grellen Schrei verhindern konnte, dass die Stehlampe umfiel. So jedenfalls hatte sie behauptet, Violetta dagegen war ganz anderer Ansicht gewesen. Sie war mal wieder davon überzeugt, dass sie es mit jemandem zu tun bekommen hatte, der ihre Kunst nicht zu würdigen wusste. So was passierte ihr ja ständig. Vermutlich war Elke Hillmot auch einfach nur neidisch gewesen, weil ihre Gelenkigkeit es bei Weitem nicht mit Violettas aufnehmen konnte. Mamma Carlotta endete stöhnend: »Für Violetta ist so eine kleine Wohnung einfach nicht das Richtige.«
Erik sah sich in seiner Küche um, die er bisher ausreichend groß genannt hätte, die ihm nun aber so vorkam, als müsste er demnächst um die Lampe, den Kaffeeautomaten und das Basilikumtöpfchen fürchten. Von den Bildern an seiner Wohnzimmerwand, dem hängenden Kerzenleuchter und der neuen Bogenlampe ganz zu schweigen. Carolin folgte seinem Blick und sah daraufhin genauso ratlos und unglücklich aus. Das heizte Eriks Zorn noch weiter an. Seine Tochter war heimgekehrt, seine Carolin, die seit zwei Monaten nicht mehr bei ihnen auf Sylt gewesen war! Und nun sorgte Violetta am Ende dafür, dass das Leben in diesem Hause unerträglich wurde und das Kind wieder nach Hamburg ging, wo es ruhiger und angenehmer war! Er ballte heimlich die Fäuste. Wenn Violetta es schaffte, Carolin aus dem Haus zu treiben, dann würde sie was erleben!
Er flüsterte vorsichtshalber, damit man es im Wohnzimmer nicht hören konnte: »Sollen die beiden ab jetzt im Wohnzimmer leben? Und wir? Was ist, wenn ich am Abend mal fernsehen will? Mein Sofa ist jetzt ein Bett. Und Dr. Hillmot mein Mitbewohner? Ich will das nicht!«
Er stand auf, als seine Schwiegermutter ihm mehrmals versichert hatte, dass sie alles tun würde, damit sich eine bessere Lösung fand. Aber schon als er zur Tür ging, wusste er, dass es ihr nicht gelingen würde. Wie denn?
Geradezu schwermütig wandte er sich an Sören. »Kommen Sie! Wir wollten doch Sandra Lührsen das Foto von der Kette vorlegen.«
Er drehte sich um und blickte zurück. Ließ sie ihn wirklich gehen? Ohne zu klagen und zu jammern, weil sie ihm und Sören nichts zu essen gemacht hatte? Er hatte ihr am Morgen gesagt, er würde mittags keine Zeit für Antipasti, Primo, Secondo und Dolce haben, sie solle sich also nicht auf ein Mittagessen vorbereiten. Aber er wusste doch, wie schwer es ihr fiel, einen Angehörigen mit leerem Magen in die Welt hinauszuschicken. Normalerweise hätte sie ihnen etwas von der Suppe aufgewärmt, von der sicherlich noch etwas im Topf war. Aber sie hatte nicht daran gedacht. Das zeigte, wie sehr ihr dieser Tag zugesetzt hatte, Violettas Erscheinen im Hause Wolf, Dr. Hillmots Einzug hier. Dazu noch Carolins Besuch, aus dem sie doch ebenso eine Rückkehr machen wollte wie er selbst.
Sören hatte schon die Haustür geöffnet und sah sich fragend um. Erik nickte, als hätte er etwas gesagt, was bestätigt werden sollte, und folgte ihm.