26

Mamma Carlotta saß mit ihrer Enkeltochter am Küchentisch und lauschte auf die Stille im Haus. Kein Laut drang aus dem Wohnzimmer, nur gelegentlich das Ächzen des Sofas, auf dem offenbar nicht nur Dr. Hillmot, sondern auch Violetta eine Siesta hielt.

»Dio mio!«, flüsterte Mamma Carlotta. »Was sollen wir nur tun?«

Carolin war genauso ratlos. Sie war jedoch bereit, nach dem Positiven zu suchen, was ihrer Nonna, die eigentlich ein optimistischer Mensch war, in diesem Fall einfach nicht gelingen wollte. »Wir können Heike Schrunz auf den Zahn fühlen und ihr auf die Finger schauen, wenn sie kommt, das ist doch positiv.«

Mamma Carlotta tätschelte ihrer Enkelin die Hand. »Du bist ein gutes Kind.« Beinahe hätte sie hinzugefügt: Maximilian Witt hat dich gar nicht verdient! Aber das konnte sie sich zum Glück verbeißen. Diplomatie war gefragt. In diesen Tagen gleich mehrfach. Die Aufgaben, die sie zu bewältigen hatte, kamen ihr momentan ausgesprochen unübersichtlich vor. Irgendwie Carolins Verhältnis mit Maximilian Witt boykottieren, irgendwie dafür sorgen, dass das Kind nach Sylt zurückkam, und es irgendwie schaffen, dass Dr. Hillmot samt Violetta wieder nach Hörnum zog. Mamma Carlotta seufzte schwer. Ob das alles zu machen war? Ein heruntergekommenes Haus musste sie auch noch putzen und dafür sorgen, dass Erik nichts davon erfuhr. Zudem würde sie auch gern herausbekommen, wer Sandra Lührsen diese schreckliche Beleidigung ans Haus gesprayt hatte, und irgendwie konnte es natürlich auch nicht falsch sein, ihren Schwiegersohn dabei zu unterstützen, den wahren Mörder Witta Lührsens zu finden. »Madonna!« Es war viel zu tun.

»Wann wird die Pflegerin kommen?«, fragte Mamma Carlotta.

Carolin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Was ist denn ihre Aufgabe? Dr. Hillmot an- und ausziehen? Seine Körperpflege? Kann das nicht auch Violetta machen?«

Aber Mamma Carlotta wehrte ab. »Nein, Heike Schrunz soll herkommen. Wir wollen sie doch unter die Lupe nehmen. Bestellt worden ist sie ursprünglich von Elke Hillmot, die war ja gezwungen, ihren Bruder tagsüber allein zu lassen. Sie hat die Pflegerin engagiert, als sie noch nicht wusste, dass Violetta nach Sylt kommen würde.«

»Dann wird sie wohl morgens und abends kommen. Und vielleicht auch mittags, um ihm beim Essen zu helfen? Oder kommt dann Essen auf Rädern für ihn? Das ist doch nicht nötig, du kannst für ihn kochen. Und Hilfe beim Essen kann er von Violetta bekommen. Dafür, dass sie hier aufgekreuzt ist, kann sie ruhig was tun.«

In diesem Moment klingelte es. Vor dem Haus stand ein Kleinwagen, weiß, mit grünen Buchstaben an den Seiten: Pflegedienst Asmussen .

Als Mamma Carlotta öffnete, lachte ihr eine Frau entgegen, die sich sehr über die Melodieklingel der Familie Wolf amüsierte. »An der schönen blauen Donau? Herrlich!«

Sie war nicht groß, stämmig und sah sehr tatkräftig aus. Ihr Gesicht war rund und flächig, ihr Nase sehr klein und spitz, ihre winzigen flinken Augen funkelten. Die Dauerwelle, mit der sie ihre dünnen Haare in Form gebracht hatte, war nicht sehr vorteilhaft, ansonsten wirkte sie so, als wollte sie unbedingt gut aussehen. Unter ihrem weißen Kittel schauten Jeans hervor, die sie hochgekrempelt hatte, ihre Sneaker waren hellrosa und hatten giftgrüne Schnürsenkel. An den Fingern funkelten Ringe, die teuer aussahen, dazu trug sie billige Plastikarmreifen, die bei jeder Bewegung klapperten, und am Hals eine Kette, die so kostbar aussah wie ihre Ringe, mit einem Stein, der beinahe so grün war wie ihre Schnürsenkel. Das musste die Kette sein, die Dr. Hillmot aufgefallen war.

»Ich habe gehört, dass der Doktor umgezogen ist. Bin ich hier richtig?«

»Sì, sì, si accomodi!« Mamma Carlotta machte einen Schritt zur Seite, ließ Heike Schrunz eintreten und erklärte ihr in groben Zügen, warum Dr. Hillmot neuerdings hier wohnte, natürlich ohne ihr genauere Einblicke in ihre Verwandtschaft zu geben. Das ging die Frau schließlich nichts an.

»Ah, Sie sind auch Italienerin?«, frage Heike Schrunz. »Verwandt mit der Frau, die herumjammert, weil sie dem Doktor nicht auf den Schoß krabbeln darf? Und weil er keine Hand frei hat, um ihr in den Ausschnitt zu greifen?« Sie warf die Haustür hinter sich ins Schloss und stellte kurz den Koffer ab, der Ähnlichkeit mit einem Arztkoffer hatte. »Ich fürchte, sie wird dem Doktor nicht guttun.« Sie wies zur Wohnzimmertür. »Da lang?«

Mamma Carlotta ging voraus. Bevor sie die Wohnzimmertür öffnete, atmete sie tief durch. Wie mochte es dahinter aussehen? Wenn die beiden auf dem Sofa lagen und schliefen, dann waren sie hoffentlich ausreichend bekleidet und ließen sich nicht in einer Situation erwischen, die dem Ruf der Familie Wolf schadete.

Das war zum Glück nicht der Fall, denn beide, Violetta und Dr. Hillmot, schliefen tief und fest. Heike Schrunz schob Mamma Carlotta beiseite und rief mit lauter Stimme: »Der Pflegedienst ist da! Hopphopp, die Augen auf!«

Dr. Hillmot erschrak zu Tode, Violetta ebenfalls, ihre Reaktionen waren jedoch unterschiedlich. Während Dr. Hillmot versuchte, die Augen zu öffnen und zu realisieren, wo er war, fuhr Violetta in die Höhe, als sei eine Bombe eingeschlagen. »Santo cielo!« Sie schlug um sich und erwischte Dr. Hillmots rechten Mittelfinger, was ihm einen Schmerzenslaut entlockte. Er schien aus einem tiefen Traum zu kommen und hatte in diesem offenbar vergessen, dass er nicht allein war. Als er realisierte, dass er auf dem Sofa von Hauptkommissar Wolf lag, erschrak er noch einmal und wehrte Violetta ab, weil er noch nicht begriffen hatte, wer neben ihm lag. Daraufhin musste er sich gefallen lassen, dass sie ihn beschimpfte und ihm unterstellte, sie nicht mehr zu lieben. Dr. Hillmot entschloss sich daraufhin, die Augen wieder zu schließen und einen Ohnmachtsanfall vorzutäuschen, der so lange anhalten sollte, bis Violetta zu reden aufhörte.

Heike Schrunz blieb unerschütterlich stehen und betrachtete kopfschüttelnd ihren Patienten und die Frau, die sich ihr als seine Verlobte vorgestellt hatte. Leise sagte sie zu Mamma Carlotta: »Kein Wunder, dass Elke Hillmot die Signora nicht lange ausgehalten hat.«

Mamma Carlotta war geneigt, der Pflegerin recht zu geben, unterließ es aber. Familie war eben Familie, man redete nicht schlecht über Menschen, mit denen man verwandt war.

»Haben Sie schon was gegessen?«, fuhr Heike Schrunz ihren Schützling an, den dieses Reizwort veranlasste, vorsichtig den Kopf zu heben.

Violetta war es, die antwortete: »Wie denn? Sie haben doch gesehen, dass er völlig erschöpft ist.«

»Sie auch?«, fragte Heike Schrunz.

Die Antwort wollte Mamma Carlotta nicht hören. Sie drehte sich um und ging in die Küche, um aus dem Kühlschrank zu holen, was am Abend übrig geblieben war. Dabei fiel ihr ein, dass Erik und Sören diese Reste vielleicht gern gegessen hätten. »Madonna!« Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen? Zwei schwer arbeitende Kriminalbeamte mit leeren Mägen! Das passte doch nicht zusammen. Am Ende würden sie sich wieder mit einem dieser schrecklichen Fischbrötchen begnügen müssen. Kalter, glitschiger Fisch, eingeklemmt zwischen zwei schneeweißen Brötchenhälften. Mamma Carlotta schüttelte sich. »Poco appetitoso!« Für den Abend würde sie besonders gut und besonders viel kochen müssen.

Violetta kam in die Küche. Sie war von Heike Schrunz hinauskomplimentiert worden. Angeblich konnte diese nicht arbeiten, wenn ihr jemand dabei zusah und sie mit kritischen Bemerkungen ablenkte. Das konnte Mamma Carlotta verstehen. »Besser, du isst hier in der Küche. Dann kannst du dem Dottore später beim Essen helfen und darauf achtgeben, dass er nicht alles vollkrümelt.«

Sie ging noch einmal in die Vorratskammer zurück, wo sie etwas gesehen hatte, über das sie normalerweise hinwegblickte. Eine Dose mit Krabbensuppe. Essen aus der Dose? »Inaudito!« Andererseits wären Violetta und Dr. Hillmot damit schnell abgefertigt, das Gebäck könnten sie danach verzehren, und wenn es ihnen ausnahmsweise nicht besonders gut schmeckte, würde das vielleicht den Vorteil haben, dass sie eine Rückkehr nach Hörnum in Erwägung zogen.

Unauffällig, sodass Violetta es nicht sah, schmuggelte sie die Dose in die Küche und machte ihre Cousine auf ein Basilikumtöpfchen aufmerksam, das auf der Fensterbank stand und seine Blätter hängen ließ. Zum Glück war Violetta bereit, ihm das Leben zu retten, indem sie ihm etwas Wasser gab, was Carlotta die Möglichkeit verschaffte, heimlich den Dosenöffner anzusetzen, die Krabbensuppe in einen Topf zu gießen und die Dose in rasantem Tempo im Gelben Sack verschwinden zu lassen. Als Violetta sich wieder am Tisch niederließ, hatte Mamma Carlotta etwas getan, was sie noch nie auf ihr Gewissen geladen hatte. Tiefkühlkost verursachte ihr mittlerweile kein schlechtes Gewissen mehr, aber ein Fertiggericht aus einer Dose? »Impossibile!«

Während die Suppe heiß wurde, sah sie sich um. Wo war Carolin geblieben? Ein Blick aus der Küchentür sagte ihr, dass die Jacke ihrer Enkelin nicht mehr an der Garderobe hing. Dio mio! Violetta brachte es fertig, das Kind aus dem Haus zu treiben, das doch unbedingt merken sollte, wie schön es daheim war!

Violetta stellte sich dicht neben Mamma Carlotta und beugte sich an ihr Ohr. »Hast du die Kette gesehen?«

»Sì, naturalmente.«

»Mein Dickerchen glaubt, dass sie der Toten gehört hat, der Frau, die ermordet wurde, vor fünf Jahren. Du weißt schon?«

Natürlich wusste Mamma Carlotta, von wem sie sprach. Aber sie wollte unter keinen Umständen, dass Violetta sich in diese Angelegenheit einmischte. Dr. Hillmots Interesse an dem Fall war verständlich, und auf ihn hörte Erik auch gern, aber wenn Violetta ihn kommentierte oder Carlottas Schwiegersohn gar Ratschläge erteilte, würde er zu Hause kein Wort mehr über den Fall Witta Lührsen verlieren. Und das wollte Mamma Carlotta auf keinen Fall. Schließlich kannte sie Sandra Lührsen und fand, dass es ihr gutes Recht war, von der Frau etwas zu erfahren, was andere nicht wissen durften.

Vorsichtig lenkte sie das Gespräch darauf, dass sie bald würde einkaufen müssen, damit am Abend ein gutes Essen auf den Tisch kam, obwohl sie das ja bereits am Morgen erledigt hatte. Aber sie brauchte Gründe, um aus dem Haus zu kommen, und würde sich garantiert besser fühlen, wenn sie einen Besuch nebenan machte und Frau Kemmertöns erzählen konnte, wie es zurzeit im Hause Wolf aussah.

Violetta zeigte Interesse. »Kommt die Staatsanwältin auch?«

Carlotta erwähnte nicht, dass Tilla vermutlich so lange nicht auf Sylt erscheinen würde, wie Violetta sich bei den Wolfs aufhielt. »Sie ist in Flensburg. Sie muss arbeiten.« Sie sah ihrer Cousine zu, wie sie das Gebäck knabberte, das sie ihr hingeschoben hatte, und sorgte dafür, dass für Dr. Hillmot genug übrig blieb, der vermutlich von der Suppe nicht satt werden würde. Als diese heiß war, richtete sie ein Tablett für Dr. Hillmot an. »Du wirst ihn füttern müssen.«

»Sì, sì.« Violetta stand auf, als Heike Schrunz in die Küche kam. Ihr schien genauso wenig an einer Unterhaltung mit der Pflegerin zu liegen wie umgekehrt. Violetta hatte Schwierigkeiten, das Tablett durch die nur halb geöffnete Tür zu bugsieren, stieß sie mit dem rechten Fuß weiter auf, woraufhin das Tablett in Schräglage geriet und die Suppe ein paar Schlucke über den Tellerrand spuckte. Vor der Wohnzimmertür, die Heike Schrunz dummerweise geschlossen hatte, blieb sie stehen und schrie: »Aprite! Aufmachen!«

Mamma Carlotta sprang auf, öffnete ihr die Tür und schloss sie hinter ihr fest. Heike Schrunz hatte sich am Küchentisch niedergelassen, als wollte sie noch nicht gehen.

»Un espresso?«, fragte Mamma Carlotta.

Das war offenbar genau die Frage, die Heike Schrunz erwartet hatte. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und erkundigte sich nach Mamma Carlottas Heimatort, nach dem Grund ihres Besuchs auf der Insel, nach ihrer Familie in Panidomino und den Angehörigen auf Sylt. Mamma Carlotta war stolz darauf, dass ihr rechtzeitig einfiel, den Beruf ihres Schwiegersohns nicht zu erwähnen, damit Heike Schrunz sorglos plauderte und keine Angst hatte, etwas zu verraten, was ihr zum Nachteil werden konnte. Im selben Moment wurde ihr jedoch auch klar, dass Heike Schrunz ebenso raffiniert war wie sie selbst. Was sie für Interesse an ihrer Person gehalten hatte, war womöglich nichts anderes als geschicktes Aushorchen gewesen. Wusste Heike Schrunz längst, dass sie ins Haus des leitenden Ermittlers gerufen worden war?

Dieser Eindruck verstärkte sich, als sie anfing, von Witta Lührsen zu sprechen, kaum dass sie ihren Espresso vor sich stehen hatte. »Haben Sie von dem Fall gehört?«

Mamma Carlotta gab vor, ganz vage etwas vernommen zu haben, vor einer Kasse bei Feinkost Meyer, vielleicht auch bei Budnikowsky. »Die Schwiegertochter war die Mörderin?«, fragte sie scheinheilig.

»Von wegen!« Heike Schrunz gefiel es, besser informiert zu sein. Oder durchschaute sie Mamma Carlottas Ahnungslosigkeit? »Sie hat fünf Jahre gesessen, und vor drei Tagen wurde sie freigesprochen.« Danach erzählte sie in großer Ausführlichkeit alles, was Mamma Carlotta längst wusste. Sogar vieles, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, woraufhin Mamma Carlotta erneut allen Grund hatte, stolz auf sich zu sein, denn sie schaffte es, keine einzige Korrektur anzubringen und ihr Insiderwissen fest in sich einzuschließen. Dann erst wunderte sie sich darüber, dass Heike Schrunz so viel Zeit hatte. Vom Pflegenotstand wusste man auch in Italien eine Menge, und sie hatte längst gehört, dass es in Deutschland nicht anders war.

Aber Heike Schrunz winkte ab. »Bei mir ist eine Patientin ausgefallen, musste plötzlich ins Krankenhaus.« Sie blickte auf die Uhr. »Aber jetzt muss ich wirklich los. Bis heute Abend! Dann komme ich und mache den Doktor bettfertig.« Sie sah Mamma Carlotta kritisch an. »Haben Sie im Erdgeschoss eine Dusche?« Als Mamma Carlotta verneinte, beschloss die Pflegerin, dass Carlottas Hilfe nötig sein würde. »Wenn mir die Verlobte vom Doktor hilft, fällt er uns noch die Treppe runter. So wiggelig, wie die Frau ist.«

Mamma Carlotta brachte sie zur Haustür und war erneut äußerst zufrieden mit sich. Sie hatte die Bitte um Hilfe nicht zurückgewiesen, was ja schrecklich unhöflich gewesen wäre, aber auch nichts zugesagt. Vielleicht schaffte sie es, so sehr mit dem Kochen beschäftigt zu sein, dass Violetta gar nichts anderes übrig blieb, als der Pflegerin zur Seite zu stehen. Oder noch besser – sie war einfach nicht zu Hause, wenn der Pflegedienst kam.