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Sandra Lührsen sah aufgewühlt, erhitzt, angespannt aus, als sie aus dem Taxi stieg. Ihre Miene veränderte sich jedoch, als sie Erik und Sören vor dem Haus stehen sah. Die beiden hatten sich gerade überlegt, ob es Sinn machte, auf Sandra Lührsen zu warten, nachdem sie vergeblich bei ihr geläutet hatten. Nun sah sie gereizt und reserviert aus und bedachte die beiden Polizeibeamten mit einem unfreundlichen Blick. »Sie wollen zu mir? Geht das schon wieder los?«

Erik beeilte sich mit seiner Antwort: »Es geht nicht um Sie, Frau Lührsen, aber … aber wir müssen wieder von vorne anfangen. Der Tod Ihrer Schwiegermutter ist noch nicht aufgeklärt.«

»Kommen Sie rein«, sagte sie barsch, trat vor ihnen ins Haus, ließ die Tür hinter sich offen stehen, entledigte sich ihres Mantels und hängte ihn nachlässig über einen Kleiderbügel. Dann ging sie, ohne sich umzusehen, ins Wohnzimmer und schien zu erwarten, dass Erik und Sören ihr folgten.

Sören warf seine Jacke einfach auf einen Hocker, Erik jedoch hängte seine sorgfältig auf und ließ sich Zeit damit. Wo mochte Sandra Lührsen gewesen sein? Erik hätte sie das gerne gefragt, würde sich aber hüten. Fünf Jahre lang hatte sie keinen freien Willen gehabt, hatte nur dorthin gehen dürfen, wo man es ihr gestattete. Es war verständlich, dass sie nun den Umstand genoss, das Haus zu verlassen, wann sie wollte, zu gehen, wohin sie wollte und auf welche Weise sie wollte. Die Beleidigung, die an ihre Hauswand gesprayt worden war, hatte womöglich dafür gesorgt, dass sie sich entschieden hatte, ein Taxi zu nehmen, statt zu Fuß loszugehen und den Nachbarn zu begegnen, die wussten, warum sie verunglimpft wurde, und es womöglich sogar guthießen.

Sie stand mitten im Wohnzimmer und sah ihnen entgegen, als wollte sie ihnen keinen Platz anbieten.

»Ich sehe ein, dass Ihnen Besuche von Polizisten nicht angenehm sind«, begann Erik, »aber Sie müssen verstehen …«

Sie unterbrach ihn mit einer Geste, mit der sie zu zwei Sesseln wies, und ließ sich selbst auf dem Sofa nieder. Eine Decke, die dort lag, schob sie achtlos zur Seite. Es war kalt und düster im Raum, Erik fühlte sich nicht wohl und sah, dass es Sören genauso ging.

»Sie können sich erinnern, dass wir Sie damals nach dem Schmuck Ihrer Schwiegermutter gefragt haben? Der Gerichtsmediziner hielt es für möglich, dass Witta Lührsen eine Kette vom Hals gerissen worden war.«

Sandra Lührsen nickte gleichmütig, als interessierte sie diese Erinnerung kein bisschen. »Ja.« Mehr sagte sie nicht.

»Sie haben damals angegeben, dass der Schmuck vollzählig vorhanden war.«

Nun zögerte sie, aber dann kam doch nur wieder ein »Ja«.

Erik zog sein Handy hervor, öffnete seine WhatsApp-Nachrichten und scrollte zu dem Foto, das Dr. Hillmot geschickt hatte. Er hielt es Sandra Lührsen hin. »Kennen Sie diese Kette? Hat die Ihrer Schwiegermutter gehört?«

Sie betrachtete das Foto lange, ohne zu reagieren, dann fragte sie: »Trägt die wahre Mörderin diese Kette? Hat sie die Kette angelegt, weil sie sich ja keine Sorgen zu machen brauchte? Weil ich ja für den Mord den Kopf hinhalten musste?«

»Kann sein«, entgegnete Erik. »Also … kennen Sie die Kette?«

Sandra Lührsen nickte erst langsam, dann sehr heftig. »Ja, die gehörte meine Schwiegermutter. Sie hat sie nicht oft getragen, ganz, ganz selten. Deshalb ist mir damals nicht aufgefallen, dass sie fehlte.«

»Sie waren der Ansicht, der Schmuck Ihrer Schwiegermutter sei vollzählig vorhanden«, wiederholte Erik.

Sie nickte schuldbewusst. »Tut mir leid. Scheinbar hatte ich mich geirrt.«

Erik steckte sein Handy wieder ein. »Wie geht es Ihnen, Frau Lührsen? Kommen Sie zurecht? Können wir irgendwie helfen?«

Sie sah ihn überrascht an. »Die Polizei, dein Freund und Helfer?«

»Wollen Sie Anzeige erstatten? Wegen der Schmiererei an Ihrer Hauswand?«

»Anzeige gegen Unbekannt?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was würde das ändern? Dieses Schwein wird man sowieso nicht finden.« Sie legte das Gesicht in die Hände. Als sie es wieder hob, sah sie müde und abgespannt aus. »Scheinbar können die Leute sich nicht damit abfinden, dass ich unschuldig bin. Eine Mörderin bin ich nun nicht mehr, dann soll ich wenigstens eine Ehebrecherin sein. Eine Hure.« Das letzte Wort spuckte sie regelrecht aus. »Mich konnte nie jemand leiden. Dafür hat meine Schwiegermutter gesorgt.«

Erik stand auf, und Sören erhob sich ebenfalls. »Ich kann Ihnen jemanden besorgen«, sagte Sören, »der das wieder entfernt.«

Sandra Lührsen bedankte sich. »Das erledige ich selbst. Die Zeit, in der andere sich um meine Angelegenheiten kümmerten, ist vorbei.«

Erik nickte verständnisvoll. »Sie werden trotz dieser Anfeindungen auf Sylt bleiben?«

Sie stieß ein Lachen aus. »Jetzt erst recht. Ich lasse mich doch nicht von solchen Typen von der Insel jagen! Ich biete wieder Malkurse an. Wetten, dass die Touris jetzt noch lieber kommen als vorher? Aktmalen bei einer Frau, die fünf Jahre unschuldig im Knast gesessen hat! Das lassen sich viele nicht entgehen. Ich war eben im Touristenbüro. Die sind ganz sicher, dass ich viel Zulauf haben werde. Schließlich muss ich Geld verdienen. Jesko dürfte mir zwar einiges vererbt haben, er hat ja das Haus meiner Schwiegermutter verkauft, aber ich brauche laufende Einnahmen.«

Erik dachte an den Verkaufspreis, den Jesko Lührsen für das Haus seiner Mutter erzielt hatte. »Sie wissen noch nicht, was Ihr Mann Ihnen vererbt hat?«

Sandra Lührsen schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Termin bei meinem Anwalt. Dann werde ich sehen, ob ich Millionärin bin.« Sie erhob sich und machte damit klar, dass für sie die Unterredung beendet war. Sie hatte die Frage beantwortet, die Erik gestellt hatte, sie konnten gehen.

Erik und Sören erhoben sich so schnell, als wären sie auf frischer Tat ertappt worden. Natürlich hätten sie sich sowieso in den nächsten Minuten verabschiedet, aber Sandras Verhalten kam einem Rauswurf gleich, der sie beide kränkte.

Als sie vor der Tür standen, sagte Sören: »Die konnte uns ja nicht schnell genug loswerden.«

Erik ging ihm voraus zum Auto. »Sie kann vermutlich nicht vergessen, dass wir sie damals ins Gefängnis gebracht haben.«

»Wir?« Sören war empört über diese Formulierung.

Erik nickte dennoch. »Wir waren zumindest mitschuldig. Wir hätten Jesko Lührsens Aussage damals genauer überprüfen müssen. Also können wir jetzt nicht erwarten, dass Sandra Lührsen uns mit offenen Armen empfängt.«

»Haben Sie deshalb nichts davon gesagt, dass nun auch ihr Mann zu den Verdächtigen gehört?«

»Das ist mir noch zu früh. Wir haben ja nichts in der Hand, was den Verdacht von Adrian Halliger bestätigt.«

Das sah Sören ein. »Und jetzt? Gehen wir zu Heike Schrunz und stellen sie zur Rede?«

»Natürlich. Wir müssen nur vorher mit dem Pflegedienst telefonieren.«

»Um zu hören, wo ihr nächster Arbeitseinsatz ist?« Sie gingen langsam auf Eriks Auto zu. »Ich glaube, es ist besser, wir besuchen sie privat. Der Arbeitgeber weiß natürlich, dass wir jetzt wieder in dem Mordfall ermitteln. Wenn wir uns dann schon am Tag nach dem Freispruch bei Heike Schrunz melden, könnte der Betreiber des Pflegedienstes hellhörig werden.«

Erik gab ihm recht. »Gut, erst mal schauen, was sie sagt.«