Mamma Carlotta hatte sich aus dem Haus geschlichen, war zu ihrer Nachbarin gegangen, hatte sich dort von der Seele geredet, was neuerdings in ihrem Wohnzimmer geschah, und war wie erhofft auf Verständnis gestoßen. Frau Kemmertöns brauchte sich nur vorzustellen, in ihrem eigenen Wohnzimmer hätte es sich ein Unfallopfer auf dem Sofa bequem gemacht und ließe sich von einer Italienerin pflegen, die alles andere als unauffällig war – schon brach ihr der Schweiß aus. »Nichts gegen Italiener, aber …«, begann sie, schaffte es jedoch nicht, diesen Satz zu vollenden. Mamma Carlotta wusste auch so, was sie sagen wollte: Italiener waren ihr zu laut, zu schnell und viel zu dramatisch, aber man konnte trotzdem mit ihnen auskommen. Das bewies ja das gute Einvernehmen zwischen Carlotta Capella und Jale Kemmertöns. Violetta dagegen hatte die Nachbarin bei ihrem ersten Besuch mehr als einmal derart verschreckt, dass sie sich nichts Schlimmeres vorstellen konnte, als längere Zeit mit ihr unter einem Dach zu leben.
Frau Kemmertöns hatte es eigentlich nicht gern, wenn Besuch kam, aber in diesem Notfall war sie bereit, Mamma Carlotta einen Platz an ihrem Küchentisch zu überlassen. Dort konnte sie in Ruhe darüber nachdenken, ob das Essen, das sie für den Abend geplant hatte, ausreichend sein würde, ob sie ein weiteres Pfund Rinderhack würde besorgen müssen und die doppelte Menge der Suppe anrichten sollte. Es würde wohl am besten sein, noch einmal zu Feinkost Meyer zu gehen und alles, was sie am Vormittag besorgt hatte, noch einmal einzukaufen, damit das Essen reichte. Nebenan war ja keine Ruhe für solche Überlegungen, legte sie Frau Kemmertöns dar, die einsichtig nickte. Wenn Violetta im Haus war, musste man immer mit Unvorhergesehenem rechnen, daran konnte sich die Nachbarin noch gut erinnern, die Violetta bei ihrem ersten Besuch auf Sylt kennengelernt hatte. Sie war also voller Verständnis für Mamma Carlottas Nöte, allerdings nicht, wenn es um deren Vorbereitungen fürs Abendessen ging, noch dazu an einem ganz normalen Abend eines ganz normalen Wochentags, ohne dass jemand Geburtstag hatte, und überdies mit Gästen, die unerwünscht waren. Aber Frau Kemmertöns’ Vorschlag, einfach ein paar Leberwurstbrote auf den Tisch zu stellen, wurde natürlich abgelehnt. »Madonna!« So was war für eine Italienerin kein Essen, bestenfalls ein kleiner Imbiss. Trotzdem wagte die Nachbarin noch einen Einwand: »Wenn Sie die beiden derart verwöhnen, werden sie so schnell nicht wieder ausziehen.«
Ein durchaus stichhaltiges Argument, das Mamma Carlotta zu denken gab. Aber sie schüttelte schnell den Kopf, und Frau Kemmertöns gab sich genauso zügig geschlagen. Mamma Carlotta konnte ihr die Gedanken ansehen, die durch ihren Kopf gingen: Die Schwiegermutter von Kriminalhauptkommissar Wolf gab ja keine Ruhe, bis sie vier Gänge auf den Tisch gebracht hatte, in Italien war das angeblich völlig normal. Frau Kemmertöns schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass sie als Friesin und nicht als Italienerin zur Welt gekommen war.
Als Mamma Carlotta sich entschlossen hatte, noch einmal zu Feinkost Meyer zu gehen und dort dafür zu sorgen, dass das Essen am Abend reichen würde, erhielt Frau Kemmertöns zum Dank einen kleinen Überblick über die Geschehnisse im Haus Wolf. Dass Carolin zu Besuch war und ihre Nonna alles tun wollte, damit sie blieb, erfuhr und unterstützte sie, dass Sandra Lührsen im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden war, wusste sie natürlich längst, aber dass Carlotta sich ihrer Enkelin zuliebe bereit erklärt hatte, Sandra Lührsens Haus zu putzen, machte sie fassungslos. »Und das bei einer Frau, die im Gefängnis gesessen hat«, sagte sie verächtlich. »Eine Mörderin ist sie wohl nicht, aber sie hat ihren Mann betrogen.« Das sagte Frau Kemmertöns in einem Tonfall, als hätte Sandra Lührsen Sexpartys veranstaltet und ihren Mann gezwungen, darüber hinwegzusehen. »Der arme Jesko! Musste sich Hörner aufsetzen lassen. Dabei hat er seine Frau doch so sehr geliebt! Ich habe Witta Lührsen mal im Touristikbüro darüber reden hören, wie es bei ihrem Sohn zuging. Kein Wunder, dass Jesko es seiner schlampigen Frau mal so richtig heimzahlen wollte.«
Mamma Carlotta blieb der Mund offen stehen. »Sie auch?« Nun bekam Frau Kemmertöns einiges zu hören. Dass sogar der schwedische König des Seitensprungs verdächtigt wurde, hatte Mamma Carlotta erst kürzlich in einer sehr bunten Zeitschrift gelesen, und was ein amerikanischer Präsident mit seiner Praktikantin gemacht hatte, wusste auch jeder. Boris Becker und Arnold Schwarzenegger waren prominente Seitenspringer, und sogar Madonna hatte ihren Mann betrogen. »Und das bei diesem Namen! Der Mann hat vermutlich geglaubt, wenn er eine Madonna heiratet, hat er eine Mutter Gottes im Haus.«
Frau Kemmertöns war der Meinung, dass eheliche Untreue bei berühmten Leuten was anderes sei, musste dann aber einräumen, dass so was auch unter ganz normalen Bürgern vorkam, ohne dass der untreue Partner dafür zur Strafe ins Gefängnis kam.
»Er hätte sich ja scheiden lassen können«, rief Mamma Carlotta erbost.
Aber Frau Kemmertöns gab zu bedenken, dass er dann seinen Besitz mit seiner Ehefrau hätte teilen müssen, obwohl sie ihn betrogen hatte, und die Kosten für so eine Scheidung seien ja auch nicht von Pappe. »Die Frau in den Knast zu schicken ist wirklich einfacher und kostengünstiger.«
Noch immer hatte Mamma Carlotta den Verdacht, dass Frau Kemmertöns mehr auf Jeskos als auf Sandras Seite stand, und bat sie, sich einmal vorzustellen, sie selbst sei in diese Situation gekommen. Einmal etwas Unvernünftiges tun, und dann ein Leben lang im Knast dafür büßen! »No, Signora!«
Frau Kemmertöns war außerstande, sich so etwas vorzustellen, und wandte ein: »Es waren ja nur fünf Jahre.«
Aber das Urteil lautete »lebenslänglich«. Wäre Jesko plötzlich gestorben, ohne die Gelegenheit zu haben, diesen Brief zu schreiben, dann hätte Sandra Lührsen lebenslänglich gesessen. »Immaginalo!«
Frau Kemmertöns sah ein, dass es einfacher war, sich Carlottas Meinung anzuschließen. Und sie nickte auch folgsam, als sie hörte, dass böse Menschen eine schwere Beleidigung an Sandra Lührsens Haus gesprayt hatten. »Alle reden nur von ihrem Seitensprung, niemand hat Mitleid mit ihr. Und niemand verurteilt Jesko Lührsen.«
Frau Kemmertöns machte keinen Hehl daraus, dass sie froh war, als Mamma Carlotta sich verabschiedete. Als sie von Feinkost Meyer zurückkehrte, war viel Zeit vergangen, denn sie hatte ein längeres Gespräch mit einer Kassiererin geführt, die froh war, dass sich endlich jemand ihre Leidensgeschichte anhören wollte, der noch nicht wusste, dass die bedauernswerte Frau von ihrem Mann verlassen worden war.
Um noch mehr Zeit vergehen zu lassen, ging Mamma Carlotta zu Budnikowsky, dem Drogeriemarkt, um dort nach einem Allzweckreiniger zu suchen. Als sie den Laden wieder verließ, fiel ihr Blick auf das Kosmetikstudio auf der anderen Straßenseite. Frau Kemmertöns hatte einmal von ihren Kegelschwestern einen Gutschein für eine Schönheitsbehandlung in diesem Salon bekommen und war höchst angetan, mit gepeelter Haut, Rouge auf den Wangen und getuschten Wimpern nach Hause zurückgekehrt. Nicht, dass Mamma Carlotta vorhatte, es ihr gleichzutun, aber ein Blick in das Schaufenster würde die Zeit des Nachhausekommens auf angenehme Weise ein wenig hinauszögern.
Tatsächlich war das Schaufenster des Schönheitssalons so stilvoll dekoriert, dass sich das Stehenbleiben und Betrachten lohnten. Die Tiegel und Tuben, die dort ausgestellt waren, lehnten an zierlichen Treibholzskulpturen, wie Tove sie zurzeit in Käptens Kajüte verkaufte. Ein breites, kräftiges Treibholz, womöglich der Rest eines Möbelstücks, das lange in aufgewühlter See getrieben hatte, betonte die Mitte der Auslage. An dieses waren mit hellgrünen Schleifen Produkte gebunden worden, mit den gleichen Strasssteinen besetzt, die auch das Treibholz schmückten. Ob diese Skulpturen auch von Paul Lührsen gefertigt worden waren? Oder war diese Art der Kunst an der See weiter verbreitet, als Mamma Carlotta wusste? Auch die Preisliste war an einer Treibholzskulptur befestigt worden. Die nahm ihr jedoch die Freude an der gelungenen Schaufensterdekoration. Grundbehandlung 65 Euro, mit Nackenmassage sogar 75 Euro, und ein Fruchtsäurepeeling, was immer das sein mochte, kostete sogar über 100 Euro. »Pazzo! Das ist ja verrückt!«
Während sie Begriffe wie Wimpernwelle, Edelsteinmassage, Impulsströme, Biofacelifting buchstabierte und versuchte, sich darunter etwas vorzustellen, kam eine Frau aus dem Hintergrund des Salons, die einen weißen Kittel trug, nach vorn zum Verkaufstresen. Offenbar die Kosmetikerin. Mamma Carlotta wollte sich entfernen, um nicht für eine interessierte und zahlungsfähige Kundin gehalten zu werden, da blickte die Frau auf und lächelte ihr zu. Das Gesicht kannte sie doch! Diese Frau hatte sie schon einmal gesehen! Aber wo? Die Kundin, die wohl gerade von ihr behandelt worden war, ließ sich von ihr in eine Jacke helfen, wechselte ein paar freundliche Worte mit ihr und verließ kurz darauf den Laden. Mamma Carlotta warf ihr einen Blick zu. Sah sie besonders schön, besonders gepflegt, besonders faltenlos aus?
Carlotta hatte sich noch nicht zu einer Meinung durchgerungen, da erschien die Kosmetikerin in der noch offenen Tür. Eine gut aussehende Frau, die ihrem Beruf alle Ehre machte. Ihr Make-up war makellos, ihre Frisur ebenso, ihr herzförmiges Gesicht war zart gepudert und schien faltenlos zu sein. »Sind Sie an einer kosmetischen Behandlung interessiert? Ich habe zurzeit Einführungsangebote.«
Mamma Carlotta wollte gerade ablehnen, da fiel ihr Blick auf den Namen der Besitzerin, der auf einem Namensschild an ihrer Brust prangte. Merret Halliger! Die Frau von Sandra Lührsens Liebhaber. Schlagartig fiel ihr auch ein, wo sie diese Frau schon mal gesehen hatte. Sie war um Sandras Haus herumgeschlichen und dem Taxi, in dem Sandra gesessen hatte, mit ihrem Auto gefolgt.
»Ganz preiswert!«, lockte sie, und Mamma Carlotta spürte, dass sie nickte und Merret Halliger in den Salon folgte, um einen Behandlungstermin zu vereinbaren.