Erik hatte das Auto vor dem Haus abgestellt und war eine Weile hinter dem Steuer sitzen geblieben. So lange hatte er das Küchenfenster angestarrt, bis er sicher war, dass seine Schwiegermutter nicht zu Hause war. Keine Bewegung in der Küche! Dabei war sie doch zu dieser Zeit im Allgemeinen mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt! Oder hielt sie sich im Wohnzimmer auf, um Violetta bei der Betreuung von Dr. Hillmot zu unterstützen?
Er sah auf die Uhr. Eigentlich zu früh, um Feierabend zu machen. Zwar hatte er jede Menge Überstunden auf seinem Konto, die er abfeiern konnte, aber er steckte in Mordermittlungen, da war der Tag normalerweise nicht lang genug, um allen Spuren nachzugehen. Doch diesmal waren die Spuren alt, zum größten Teil schon verwischt, verweht, unkenntlich geworden. Auch die Kette, die Heike Schrunz trug, hatte sich als ein so undeutlicher Hinweis entpuppt.
Sie waren vor dem Haus vorgefahren, in dem sie wohnte, als sie gerade heimkam, in dem Wagen, der dem Pflegedienst gehörte. Ihr Blick war sofort misstrauisch geworden, als Erik und Sören aus dem Wagen stiegen und auf sie zukamen. »Wollen Sie zu mir?«
Sichtlich ungern ließ sie die beiden eintreten, in ein Haus, in dem alles eng zu sein schien, in dem aus einer Wohnung zwei gemacht worden waren, aus einem großen Wohnzimmer zwei kleine, aus einem großzügigen Eingangsbereich zwei schmale Flure. Das Haus schien häufig umgebaut worden zu sein. Vielleicht hatte es früher mal eine große Familie beherbergt, heute wohnten hier Heike Schrunz, ihre Schwester mit ihrem Mann und die Eltern, die schon im Rentenalter waren. Außerdem war ein Ferienapartment im Erdgeschoss entstanden, das für einen Zusatzverdienst sorgte.
Sie schoben sich an einem voll beladenen Garderobenständer vorbei in einen düsteren Zwischenflur. Erik stieß sich an der Ecke einer Kommode, die zu groß für diesen winzigen Raum war, und atmete erleichtert auf, als Heike Schrunz das Wohnzimmer betrat, das zwar auch sehr klein war, aber so spärlich möbliert, dass man drei Schritte machen konnte, ohne sich zu stoßen oder einem Möbelstück ausweichen zu müssen.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Heike Schrunz. »Das Gleiche wie vor fünf Jahren?« Sie hockte sich auf die Armlehne des Sofas und wies Erik und Sören die beiden Stühle zu. »Gehöre ich jetzt wieder zu den Verdächtigen, weil Witta mir zehntausend Euro hinterlassen hat?«
Erik zeigte auf die Kette am Hals der Pflegerin. »Woher haben Sie die?«
Sie tastete zu der Kette, als wollte sie kontrollieren, ob sie da noch da war. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Hat die Kette mal Witta Lührsen gehört?«
Heike riss die Augen auf und gab vor, dass ihr die Stimme vor lauter Entsetzen versagte. »Was?«
»Bitte beantworten Sie meine Frage.«
»Natürlich nicht!«
»Es gibt aber jemanden, der aussagt, die Kette habe Witta Lührsen gehört.«
»Derjenige lügt!«
Erik wollte nicht zugeben, dass er ein Foto auf seinem Handy hatte, das Dr. Hillmot gemacht hatte. »Sie tragen die Kette häufig? Schon länger? Dann ist sie vielleicht einigen Leuten aufgefallen, die die Kette auch schon an Witta Lührsens Hals gesehen haben. Ist ja ein ziemlich auffälliges Stück.«
Nun sprühten die Augen von Heike Schrunz. »Ja, ich trage sie häufig, schon seit Jahren. Aber ausgerechnet jetzt, wo Sandra Lührsen aus dem Knast entlassen wurde, fragen Sie mich nach der Kette? Da kann ich mir ja ausrechnen, wer Sie auf die Idee gebracht hat.«
Darauf wollte Erik nichts entgegnen. »Sagen Sie mir einfach, ob Witta Lührsen Ihnen die Kette überlassen hat. Oder haben Sie sie ihr womöglich abgenommen? Nach ihrem Tod. Oder vorher schon. Vielleicht sind Sie von ihr erwischt worden, als sie in die Schmuckschatulle griffen?«
Heike Schrunz sprang auf. »Das muss ich mir nicht sagen lassen.«
Sören erhob sich ebenfalls, so, als wollte er Heike Schrunz an der Flucht hindern. Er streckte die Hand aus. »Geben Sie uns die Kette bitte.«
»Warum?«
Darauf antwortete Sören nicht. Er wollte nicht sagen, dass sich womöglich noch irgendwelche Spuren fanden. Das war mehr als unwahrscheinlich. Aber man konnte nie wissen. Kommissar Vetterich, der Chef der Spurensicherung, war sehr akribisch und geduldig, wenn es darum ging, zwischen winzigen Ösen und feinsten Kettengliedern ein paar Hautschuppen zu entdecken. Sören streckte Heike Schrunz weiterhin die Hand entgegen.
»Die habe ich geschenkt bekommen«, keifte Heike Schrunz.
Sörens Miene wurde anzüglich. »Ach so! Vermutlich von einer alten Dame, die Ihnen sehr dankbar war?«
»Genau! Frau Winterbein! Die habe ich lange gepflegt. Und sie hat immer zu mir gesagt: Wenn ich mal sterbe, Heike, dann bekommen Sie meine Kette.«
»Als sie dann gestorben ist, haben Sie sich die Kette genommen?«, fragte Sören.
»Natürlich nicht.« Heike Schrunz gab sich empört. »Frau Winterbein hat sie mir gegeben, bevor sie ins Krankenhaus gebracht werden musste. Dort ist sie dann gestorben.«
»Hat Frau Winterbein Angehörige?« Erik sah zu, wie Heike Schrunz die Kette vom Hals löste und sie Sören in die ausgestreckte Hand legte.
»Ja, auf dem Festland«, kam es mürrisch zurück.
»Wo genau?«
»Weiß ich nicht. Da müssen Sie Herrn Asmussen fragen. Die Unterlagen müssen ja mehrere Jahre aufbewahrt werden.«
Sören nahm einen Asservatenbeutel aus der Innentasche seiner Jacke und ließ die Kette hineingleiten. »Sie hören von uns.« Er verstaute den Beutel sorgfältig und sagte dann: »Außerdem brauche ich noch DNA -Material von Ihnen, Frau Schrunz. Eine Zahn- oder Haarbürste vielleicht?«
Heike sprang auf. »Das habe ich Sandra Lührsen zu verdanken, oder? Diese … dieses Flittchen!«
»Das will ich nicht gehört haben«, antwortete Erik ruhig und erhob sich ebenfalls.
»Ist doch wahr!«, fauchte Heike Schrunz. »Jesko war ein so guter Mann, den hatte sie gar nicht verdient. Der hat sie wirklich geliebt! Aber was tut sie? Hurt durch die Gegend! Das Beste war für die feine Dame gerade gut genug. Nur schade, dass das Beste für Jesko zu teuer war. Trotzdem hat er getan, was er konnte. Aber bei der Post verdient man nun mal keine Reichtümer. Für das Atelier hat er einen Kredit aufnehmen müssen. Und was macht sie damit? Nutzt es, um mit Schweinkram Geld zu verdienen.« Sie blickte trotzig in Eriks indigniertes Gesicht. »Oder wie nennen Sie das, wenn da geile Männer sitzen und eine nackte Frau anstarren?«
»Ich nenne das Aktmalerei«, hatte Erik ruhig geantwortet. »Und mir gefällt es, wenn ein Mensch einen Weg findet, Geld zu verdienen. Als Frührentnerin hat Sandra Lührsen sicherlich nicht viel bekommen.«
Heike Schrunz hatte eine wegwerfende Geste gemacht. »Die wollte ja sowieso nicht mehr Verkäuferin sein. Das Rückenleiden kam ihr gerade recht. Nein, sie wollte mit einem Mal Künstlerin werden. Malerin! Witta Lührsen hat aller Welt erzählt, wie es im Haus ihres Sohnes zuging. Jesko musste das Putzen und Kochen übernehmen, damit Madame sich ihrer Kunst widmen konnte!«