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Es war später Nachmittag, eigentlich eine gute Zeit, mit dem Kochen zu beginnen, aber Mamma Carlottas Schritte wurden immer langsamer, je näher sie dem Haus kam. Madonna! Sie hatte einen Kosmetiktermin vereinbart! War sie von allen guten Geistern verlassen? Warum brauchte sie eine Gesichtsbehandlung? Nur um die Frau näher kennenzulernen, die von ihrem Mann betrogen wurde? Sie würde sich gut überlegen müssen, ob sie nicht in einer Stunde zum Telefon greifen und den Termin wieder absagen sollte. Was konnte sie schon herausfinden, während Merret Halliger sich um die Verjüngung ihres Gesichts kümmerte? Und warum brauchte sie ein jüngeres Gesicht?

Vor der Tür hielt sie nach dem Fahrrad Ausschau, das Carolin genommen haben musste. Es stand nicht an seinem Platz, also war ihre Enkelin noch nicht zu Hause. Sie würde wohl erst kommen, wenn nicht mehr die Gefahr bestand, sich von Violetta etwas vortanzen zu lassen oder sich ihre Lebensweisheiten anzuhören, für die sie selbst weiß Gott kein gutes Beispiel war. Mit großer Vorliebe näherte sich Violetta auch allen Geschlechtsgenossinnen mit Stiften, Puderquasten und Pinseln, um sie zu schminken, denn sie war der Meinung, dass andere Frauen, vornehmlich deutsche, allesamt grau und unscheinbar aussahen. Zufrieden war sie immer erst, wenn Cousinen und Nichten sich ergaben und ihr mit geschlossenen Augen ihre Gesichter hinhielten. Anschließend sahen sie aus, als wären sie in einen Farbeimer gefallen, während Violetta stolz darauf war, aus ihnen endlich attraktive Frauen gemacht zu haben, die sich was trauten. Mamma Carlotta hoffte, dass Merret Halligers Talent ausgeprägter war als Violettas und ihr Geschmack dezenter.

Sie beschloss, das Nachhausekommen ein wenig hinauszuzögern und erst dann in der Küche zu erscheinen, wenn es dringend Zeit wurde, mit dem Kochen zu beginnen, und für keine von Violettas ausgefallenen Ideen auch nur eine Minute zur Verfügung stand. Leise schloss sie auf, lauschte in den Flur, hörte Dr. Hillmots Stimme, der versicherte, niemals so verliebt gewesen zu sein wie in diesem Augenblick, stellte die Einkaufstaschen geräuschlos neben der Küchentür ab und zog die Haustür wieder ins Schloss. Das ging zwar nicht ganz unhörbar, aber da Violetta damit beschäftigt war, sich Dr. Hillmots Liebesschwüre anzuhören, würde sie sicherlich nicht auf die Idee kommen, ihr nachzurufen. Vorsichtshalber lief Mamma Carlotta, so schnell sie konnte, und fühlte sich erst sicher, als sie an der Westerlandstraße angekommen war. Fünf Minuten später stand sie vor Käptens Kajüte und riss die Tür auf.

»Geht das immer noch nicht langsam und bedächtig?«, fragte Tove zornig. »Oder kennen Sie diese Vokabeln gar nicht?« Er drehte sich zu Fietje um, der an seinem Stammplatz saß und in sein Bier starrte. »Wie heißt langsam und bedächtig auf Italienisch? Du kennst dich da doch ein bisschen aus.«

Fietje sah nicht auf, während er antwortete: »Lentamente und deliberatamente.«

»Haben Sie’s gehört?«, fragte Tove, während Mamma Carlotta auf den Barhocker kletterte, den sie am liebsten einnahm.

Sie nickte friedfertig. »Ich hätte es auch auf Deutsch verstanden.«

»Und warum bewegen Sie sich dann nicht langsam und bedächtig?«

Mamma Carlotta überlegte, dann antwortete sie: »Das kann ich nicht.«

Tove stöhnte, als hätte er es mit einem ungezogenen kleinen Mädchen zu tun, war aber trotzdem bereit, ihr einen Cappuccino zu machen. »Weiß Ihr Schwiegersohn schon, wer Witta Lührsen umgebracht hat?«

»Ich war’s nicht«, antwortete jemand in Mamma Carlottas Rücken.

Sie drehte sich um und betrachtete den Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Offenbar ein Freund von Fietje, denn er setzte sich zu ihm und klopfte zur Begrüßung seinen Unterarm. »Gibst du einen aus?«

Fietje nickte, und der Mann bestellte ein Jever. »Aber ich fürchte, dass die Bullen bald wieder bei mir auf der Matte stehen.«

»Auf welcher Matte?«, fragte Tove zurück. »Hast du neuerdings eine eigene Haustür mit einer Fußmatte davor? Und einer echten Wohnung dahinter?«

»Frag nicht so blöd.« Der Mann war etwa in Fietjes Alter und sah auch ähnlich ungepflegt aus wie der Strandwärter von Wenningstedt. Beim Friseur war er lange nicht gewesen, rasiert hatte er sich auch seit Tagen nicht. Die dünnen grauen Locken hatte er im Nacken mit einem Gummi zusammengedreht, sein stoppeliges Kinn war über einen Dreitagebart längst hinaus. Er trug einen Troyer wie Fietje, dazu weite Hosen und schwere Gummistiefel, als rechnete er mit schlechtem Wetter. Die schäbige Regenjacke hatte er auf einen freien Stuhl geworfen.

Tove sah Fietje scharf an. »Willst du deinen Freund nicht vorstellen? Die Signora ist da bestimmt ganz versessen drauf.«

Fietje warf ihm einen gereizten Blick zu, während sein Freund verständnislos von einem zum anderen blickte.

Tove schien die Sache Spaß zu machen. »Das ist nämlich die Schwiegermutter von Kriminalhauptkommissar Wolf. Tja, da staunste.«

Tatsächlich sah der Mann so aus, als wollte er auf der Stelle die Flucht ergreifen. Warum nur? Mamma Carlotta verstand es nicht.

Aber Tove klärte sie auf. »Wetten, dass Ihr Schwiegersohn schon nach Maart Bleicken sucht? Der stand damals nämlich auch unter Verdacht, Witta Lührsen umgebracht zu haben. Und wer weiß, vielleicht war er es sogar.« Er knallte dem Mann sein Jever hin. »Wenn ich du wäre, hätte ich mich schon längst von Sylt verdrückt.«

Maart Bleicken trank einen Schluck, ehe er antwortete: »Warum? Ich war’s ja nicht.«

»Das hat Sandra Lührsen damals auch gesagt. Und trotzdem hat sie lebenslänglich bekommen.«

»Wo soll er denn hin?«, fragte Fietje. »Woanders kennt er doch keinen.«

»Dann darfst du dich nicht wundern, wenn dir der Hauptkommissar demnächst begegnet.«

»Deswegen bin ich ja hier«, gab Maart Bleicken zurück. »In deine Kaschemme kommt doch kein solider Beamter.« Er sah sich um. »Was macht das ganze Treibholz hier? Soll das jemand kaufen?«

Tove warf sich in die Brust. »Das geht weg wie warme Semmeln.«

»Semmeln?« Mamma Carlotta hatte diese Vokabel noch nie gehört.

»Brötchen! Panini!«, half Fietje.

»Der Bulle … ich meine, der Schwiegersohn von der Signora hat sich die Sachen neulich sogar angeguckt«, prahlte Tove. »Er wusste nur noch nicht, welches Teil ihm am besten gefällt. Kann also durchaus sein, dass du ihn doch mal hier antriffst.«

Maart Bleicken stürzte sein Bier herunter. »Schönen Dank, darauf kann ich verzichten.«

Tove kümmerte sich nicht um ihn, sondern wandte sich an Mamma Carlotta. »Menno Koopmann war übrigens hier. Musste sich seinen Frust wegtrinken. Er wollte eine ganz tolle Reportage über Sandra Lührsen schreiben, aber die hat ihn nicht reingelassen. Angeblich hat sie die Exklusivrechte einer anderen Reporterin gegeben.« Er gluckste vor Lachen, und Mamma Carlotta war froh, dass er selten lachte. Jedes Mal fand sie ihn dann noch furchterregender als mit den vorgewölbten Brauen und dem wütenden Blick. »Exklusivrechte! Als wäre die Lührsen ein Promi. Die soll sich bloß nichts einbilden. Wenn die meint, sie kann sich jetzt wichtigmachen, weil sie unschuldig im Knast gesessen hat, dann kann sie das gleich wieder vergessen. Jesko war vernarrt in sie, und trotzdem hat sie ihm Hörner aufgesetzt. Ist das vielleicht in Ordnung? Und irgendeiner anderen Frau hat sie den Kerl abspenstig gemacht. So was tut man nicht.«

Mamma Carlotta verschlug es die Sprache. Tove wusste mit einem Mal, was man tat und was nicht? »Aber …«

»Wer ihr Liebhaber war, weiß zwar keiner, aber das wird sich bald herausstellen.«

Mamma Carlotta nippte an ihrem Cappuccino. Nein, sie würde nicht verraten, welchen Namen sie in Jeskos Schrank gefunden hatte. Wenn Tove ebenfalls so gemein über Sandra Lührsen redete, hatte er es nicht verdient, etwas zu erfahren, was andere noch nicht wussten. Sonst trug sie ja gern ihr geheimes Wissen an diese Theke und teilte es bereitwillig mit Tove und Fietje, aber so nicht. Was war das für eine doppelte Moral! »Doppia morale«, murmelte sie. Was Jesko getan hatte, fand mehr Verständnis als Sandras Affäre. »Inaudito!«