Vor der Tür des Hauses von Heike Schrunz waren Erik und Sören eine Weile stehen geblieben und hatten in den Himmel gesehen, über den dunkelgraue Wolken zogen, die die Möwen mit sich zu reißen schienen. Ihre Schreie übertönten das Rauschen der Bäume, die die Nachbargärten voneinander trennten. Sören verstaute die Zahnbürste, die Heike Schrunz ihnen am Ende überlassen hatte, wenn auch unter theatralischem Wehklagen.
»Deshalb hat Sandra Lührsen also diesen schlechten Ruf«, hatte Erik gesagt. »Ihre Schwiegermutter hat dafür gesorgt.«
Sören hatte sich daran erinnert, dass auch seine Mutter gelegentlich davon gesprochen hatte, was Witta Lührsen überall dort erzählte, wo es interessierte Zuhörer gab. Angeblich war ihre Schwiegertochter faul und unordentlich, hatte stets hohe Ansprüche gestellt, aber selber nichts dafür getan, sie zu erfüllen. Der arme Jesko habe sich krummschuften müssen, um es seiner anmaßenden Frau recht machen zu können, aber sie sei selten zufrieden gewesen. Was er auch für sie tat, es war nie genug. »Sandra Lührsen wusste, wie schlecht ihre Schwiegermutter über sie redete«, schloss Sören. »Kein Wunder, dass sie sofort in Verdacht geriet.«
»Sogar jetzt wird sie nicht gemocht.«
»Kein Mitleid für fünf Jahre Gefängnis! Nur Empörung, weil sich herausgestellt hat, dass sie nicht treu war. Ich wette, dass die meisten, die jetzt mit dem Finger auf sie zeigen, ebenfalls eine Affäre haben oder hatten.«
»Schwiegermütter!« Erik hatte aufgestöhnt und dann ergänzt: »Mit meiner habe ich echt Glück gehabt. Sie ist zwar auf Dauer etwas anstrengend, aber sie würde nie etwas tun, das mir schadet, und nie schlecht über mich reden.«
Sören hatte gegrinst. »Nein, das würde sie wirklich nicht.«
Daraufhin hatte Erik beschlossen, früher Feierabend zu machen. Er hatte sich entmutigt gefühlt. Die Kette, die Heike Schrunz getragen hatte, würde sie vermutlich nicht weiterbringen. Wenn sie wirklich einmal Witta Lührsen gehört haben sollte, wäre die Pflegerin nicht so dumm gewesen, sie anzulegen, erst recht nicht jetzt, da die Mordermittlungen wieder einsetzten und die Kette ihre Schuld beweisen könnte. Es war zum Verzweifeln. Dombrowsky, Felix’ Chef, konnte nicht auf das angesprochen werden, was Felix herausgefunden hatte. Maart Bleicken war unauffindbar, und Dombrowskys Bemerkung, auch Jesko könnte der Mörder sein, schwer zu verfolgen. Es gab außer dieser Behauptung nicht den geringsten Anhaltspunkt. Sie müssten das Haus durchsuchen, in dem Jesko so lange gelebt hatte, in dem jetzt seine Witwe wohnte. Aber dieser Verdacht würde nicht für eine Hausdurchsuchung reichen.
Erik ließ das Auto am Süder Wung stehen und ging Richtung Meer, die Seestraße hinab, auf das Strandwärterhäuschen zu, in dem eigentlich Fietje Tiensch sitzen und Gästekarten kontrollieren müsste. Aber im November schaute die Kurverwaltung nicht auf die Einhaltung seiner Arbeitszeit. Das Häuschen war verwaist, niemand war auf der großen hölzernen Treppe zu sehen, die zum Strand hinabführte. Der Wind traf Erik auf dem oberen Podest, als wollte er ihn angreifen, die Fahne hinter dem Dünenhof zum Kronprinzen knatterte wie eine Maschinengewehrsalve. Dennoch war die Stimmung alles andere als aggressiv. Nein, der Wind griff nicht an, er tobte und rauschte, raste über den Strand, brauste aufs Meer zurück und warf sich immer wieder der Insel entgegen. Erik zögerte, stieg aber dann doch nicht die Treppe hinunter, sondern machte kehrt und ließ sich vom Wind schieben. Nach Hause? Er gestand sich ein, dass es ihm dort nicht gefallen würde, wenn seine Schwiegermutter nicht daheim war. Sie schaffte es ja immer, Gemütlichkeit zu verbreiten und aus einer Küche einen Ort zu machen, an dem es behaglich war. Aber mit Violetta im Nebenzimmer? Und mit Dr. Hillmot in seiner ganzen Hilflosigkeit? Erik mochte ihn, aber er wollte dennoch nicht den Abend neben ihm verbringen. Mit Violetta erst recht nicht. Er wollte den Fernseher anstellen, sich aufs Sofa fläzen, seine geliebten grünen Kissen in den Rücken schieben und die Füße auf den Tisch legen. Das alles war nicht möglich, solange Dr. Hillmot und Violetta unter seinem Dach lebten. Da blieb er lieber bei seiner Schwiegermutter in der Küche. Vorausgesetzt, sie war zu Hause …
Spontan bog er in den Hochkamp ein. Es war ihm eine Idee gekommen. Weihnachtsgeschenke schon im November zu besorgen machte es bequemer im Dezember. Tilla hatte ihm erklärt, worüber sie sich freuen würde. Er hatte es nicht vergessen und würde das an diesem Abend erledigen. Ein gutes Gefühl, ein Ziel zu haben, statt so lange herumzulaufen, bis genügend Zeit vergangen war.