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Mamma Carlotta war enttäuscht. Sie hatte über Sandra Lührsen reden wollen und davon, dass sie glaubte, den Namen ihres Liebhabers zu kennen. Sie hatte selbstverständlich auch über Merret Halliger und ihren Schönheitssalon sprechen wollen. Und natürlich wollte sie ausgiebig mit Tove und Fietje darüber debattieren, warum eine leidgeprüfte Frau wie Sandra Lührsen, die fünf Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen hatte, noch immer wie eine Schuldige behandelt wurde. Jetzt nicht mehr schuldig des Mordes an ihrer Schwiegermutter, sondern schuldig, ihren Mann betrogen zu haben, und sogar schuldig, ihn zu seiner schrecklichen Rache verführt zu haben.

Aber leider hatte das Erscheinen von Maart Bleicken einen Strich durch ihre Rechnung gemacht. Nun ging es nur noch darum, wie schuldig Maart Bleicken sich gemacht hatte. Fietje vertraute seinem Freund, Tove war da längst nicht so sicher, und Maart selbst tat so, als müsste jeder denkende Mensch begreifen, dass er nichts mit dem Tod von Witta Lührsen zu tun haben konnte.

»Ich bin durchs offene Fenster gestiegen, das war ja direkt eine Einladung. Dann habe ich die Alte da liegen sehen und bin stiften gegangen. Wenn das nicht logisch ist! Jeder in meiner Lage wäre abgehauen.«

Tove fing an, seine Gläser zu putzen. »Mancher aber erst, nachdem er sich in allen Schränken umgesehen hat. Vermutlich wusstest du ganz genau, wo du suchen musstest.«

»Wie kommst du denn darauf?« Maart Bleicken zog ein Gesicht wie ein unschuldiges Kindergartenkind.

»Ich kenne doch Fietje Tiensch«, gab Tove zurück. »Wenn der als Spanner unterwegs ist, guckt er in viele Fenster. Wetten, dass er wusste, wo Witta Lührsen ihr Geld versteckte? Hat er dir vielleicht was verraten?«

Fietje tippte sich an die Stirn. »Bei dir piept’s wohl.« Dann erwachte so etwas wie Temperament in ihm. »Darauf hat der Mörder es angelegt. Es sollte so aussehen, als hätte ein Einbrecher Witta Lührsen umgebracht. Deswegen hat der Mörder das Fenster offen stehen lassen.«

»Stimmt.« Maart Bleicken sah seinen Freund dankbar an. »Ein paar Schranktüren waren auch offen und die Fächer durchgewühlt.« Sein Blick fiel auf Mamma Carlotta, und er stockte. »Vielleicht können Sie uns erzählen, was die Polizei glaubt?«

Mamma Carlotta war froh, dass sie nicht mehr zum Antworten kam. Sie wusste doch, dass Eriks Ermittlungsarbeit immer geheim gehalten werden musste. Andererseits wusste sie eben auch, wie angenehm es war, ahnungslosen Zuhörern etwas zu verraten, was bis dahin noch niemand wusste. So atmete sie erleichtert auf, als sie nicht in die Lage kam, sich die Sache zu überlegen.

Fietje stieß einen kurzen Pfiff aus und boxte Maart Bleicken in die Seite. Der schien sofort zu verstehen, sprang auf, lief um die Theke herum und verschwand in Toves Küche. Der Wirt wollte protestieren, aber es reichte ein kurzes Nicken von Fietje zum Fenster, und auch Tove erkannte, worum es ging, und schluckte seinen Protest herunter.

»Au Backe, Signora!«, sagte er leise. »Bis in die Küche schaffen Sie es nicht mehr.«

Die Tür öffnete sich, ein Schwall kalter Luft drang herein und eine Stimme, die Mamma Carlotta gut kannte. »Moin!«

Madonna! Beinahe wäre sie herumgefahren, bezwang sich aber im allerletzten Augenblick und starrte in ihre Cappuccinotasse, als hätte sie nichts gehört. Was machte Enrico um diese Zeit in Käptens Kajüte? Er war doch mit Mordermittlungen beschäftigt! Da hatte er oft bis spätabends zu tun. Oder …

Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht. Erik schob sich neben sie auf einen Thekenhocker und sagte: »Dir gefällt es zurzeit auch nicht im Süder Wung?« Er bestellte einen Caffè corretto, und Mamma Carlotta war froh, dass sie Tove übersetzen konnte, was das bedeutete, nämlich ein Espresso mit einem Schuss eines hochprozentigen Getränks. »Grappa, Sambuca oder Brandy.«

»Tut’s auch ein Köm?«, fragte Tove, und bis Erik sich einverstanden erklärt und darum gebeten hatte, wirklich nur einen kleinen Schuss zum Espresso zu geben, hatte sich in Mamma Carlottas Kopf eine ganze Armee von faulen Ausreden und guten Begründungen formiert, die allesamt strammstanden. Sie wusste auch, dass man in Fällen wie diesem am besten mit einer Gegenfrage reagierte, um Zeit zu gewinnen. »Du hast auch keine Lust, nach Hause zu gehen?«

»Nicht, solange Violetta und Dr. Hillmot bei uns wohnen.«

Die Ausreden salutierten und präsentierten das Gewehr. »So geht’s mir auch, Enrico. Ich weiß ja, dass diese …«, sie warf Tove einen entschuldigenden Blick zu, »… diese Kaschemme nicht das Richtige für mich ist. Aber ich kam gerade hier vorbei, und da dachte ich …«

Sie brauchte den Satz nicht zu vollenden, Erik glaubte, sie trotzdem zu verstehen, und er fragte nicht einmal, welche Besorgung sie ausgerechnet in den Hochkamp geführt hatte. Was für ein Glück! »Dir geht es auch auf die Nerven, dass das Wohnzimmer belegt ist?«

»Vor allem macht es mich traurig, dass Carolin nicht im Haus ist. Wir wollen doch alles tun, damit sie wieder nach Sylt kommt. Aber seit Violetta da ist, geht sie lieber zu Nele und Ella oder recherchiert für die Reportage, die Maximilian schreiben will.«

»Die Reportage über Sandra Lührsen.« Erik stürzte seinen Espresso corretto herunter und schüttelte sich. »Ich glaube, das mit dem Köm war doch keine gute Idee, Herr Griess. Machen Sie mir lieber einen Cappuccino.«

Tove beeilte sich, seiner Bitte nachzukommen, und schaffte es, Mamma Carlotta, bevor er sich dem Kaffeeautomaten zuwandte, einen Blick zuzuwerfen, der jede Menge Hochachtung enthielt. Manchmal wollte er ja nicht glauben, wie ausgeprägt ihr diplomatisches Geschick war, nun hatte er eine Kostprobe davon erhalten.

Erik sackte über der leer getrunkenen Tasse zusammen. »Was können wir nur tun, um Carolin zurückzuholen?«

Mamma Carlotta legte ihrem Schwiegersohn eine Hand auf den Unterarm. »Lass mich nur machen. Du hast genug mit deinem Mordfall zu tun.«

Er sah sie dankbar an. Und in Mamma Carlotta entstand das unangenehme Gefühl, etwas versprochen zu haben, was sie vielleicht nicht halten konnte. »Ich werde ihr morgen helfen«, sagte sie. »Carolin will unbedingt mit Sandra Lührsen sprechen, wegen der Reportage. Es soll ein ausgiebiges Interview werden. Und ich soll sie begleiten.«

Dass sie während Carolins Gespräch mit Sandra Lührsen deren Haus putzen sollte, verschwieg sie wohlweislich. Das durfte Erik nicht erfahren.

»Du gehst mit ihr, weil du es zu Hause mit Violetta und Dr. Hillmot nicht aushältst, schon klar.«

Jetzt legte er seine linke Hand auf ihre rechte, die noch immer auf seinem Unterarm ruhte. »Wenn einer es schafft, Carolin zurückzuholen, dann du.« Er räusperte sich und sah mit einem Mal verlegen aus. Gefühlvolle Äußerungen waren einfach nicht sein Ding. Er schien froh zu sein, dass Tove den Cappuccino vor ihn hinstellte. Und schon nach dem ersten Schluck war er wieder der Kriminalbeamte, dem es nur um Fakten, nicht um Gefühle ging. Er starrte Fietje so lange an, bis dieser seinen Blick bemerkte und aufsah. Er schien es im selben Moment zu bereuen, denn Erik fragte: »Sind Sie nicht mit Maart Bleicken befreundet, Herr Tiensch?«

Fietje brummte etwas, was sich anhörte, als hielte er Freundschaft für ein Wort, das nur in kitschigen Romanen vorkam.

»Aber Sie kennen ihn gut?«

Dazu konnte Fietje nur nicken. Das ließ sich nicht bestreiten.

»Und Sie wissen, wo er sich aufhält?«

Nun entstand so etwas wie eine eisige Stille in Käptens Kajüte. Fietje blickte wieder auf, sah aber nicht Erik an, sondern in Carlottas Gesicht, Tove polierte ein Glas, als wollte er die Meisterschaft im Gläserpolieren gewinnen, und sogar die Fliege, die gerade noch um den Zapfhahn gesurrt war, ließ sich darauf nieder und schien sich betrinken zu wollen.

Mamma Carlotta ließ ihre Augen sprechen, in denen zu lesen war: Ich sage nichts.

»Nö«, antwortete Fietje prompt.

Tove stellte das Glas weg, die Fliege versuchte zu starten, schaffte es aber nicht und fiel volltrunken ins Spülwasser.

»Wann haben Sie das letzte Mal von ihm gehört?«

»Keine Ahnung.« Fietje wurde nun sicherer. »Ist schon Jahre her.«

»Sie meinen, er ist nicht mehr auf Sylt, seit Sandra Lührsen verurteilt worden ist?«

»Kann sein. So genau weiß ich das nicht.«

Erik gab sich zufrieden. »Und wo er sich heute aufhält, wissen Sie natürlich auch nicht.« Das hatte er mehr zu sich selbst als zu Fietje gesagt. Er stand auf und ging von einer Treibholzskulptur zur anderen, betrachtete jede einzelne sehr ausgiebig und schien sich nicht entscheiden zu können, welche ihm am besten gefiel. Währenddessen führten Fietje, Tove und Mamma Carlotta ein Gespräch, das ohne Worte auskam, das nur mit Blicken geführt wurde. Fietjes Augen bedankten sich, Toves schickten Anerkennung in Carlottas Richtung, und sie selbst versuchte, gleichzeitig gütig und sorgenvoll auszusehen.

Als Erik sich umdrehte und um die Meinung seiner Schwiegermutter bat, war alles gesagt. »Welche Skulptur gefällt dir am besten? Ich möchte Tilla eine zu Weihnachten schenken und eine andere für die Terrasse haben.«

Tove wurde konziliant und bot zehn Prozent Mengenrabatt an, damit Erik die Auswahl leichter fiel. Am Ende blätterte Erik eine Menge Geld auf die Theke, trank seine Tasse aus und forderte Mamma Carlotta auf, mit ihm zusammen nach Hause zu gehen. In der Tür drehte er sich um und sagte: »Ich kann mich doch darauf verlassen, dass Sie mir Bescheid sagen, wenn Maart Bleicken hier auftaucht?«

Mamma Carlotta trat auf den Hochkamp, sie wollte nicht hören, was Tove und Fietje antworteten.