Mamma Carlotta geriet in Wallung, wie immer, wenn ihr hausfrauliches Organisationstalent gefragt war und sie kurzfristig umdisponieren musste. Ihrer Meinung nach zeigte sich in solchen Situationen das wahre Können einer guten Köchin. Die Zeit wurde knapp und die Personenzahl, die sich um den Tisch versammeln würde, größer. Eigentlich ein Super-GAU ! Aber natürlich nicht für Carlotta Capella, die es gewöhnt war, dass sich häufig und vor allem völlig unerwartet viele Gäste um ihren Tisch versammelten. Wie gut, dass sie zweimal eingekauft hatte und nun doppelt so viel servieren konnte wie ursprünglich vorgesehen.
Als Erstes bekam Violetta den Auftrag, die Pizzakartons in den Müll zu befördern. Sie zeigte sich zugänglich, stapelte sie brav aufeinander, legte sie sich auf den Kopf und versuchte, ihre Last kerzengerade, wie eine afrikanische Landarbeiterin ihre Kalebasse, zur Tür zu befördern. Auf dem Flur kam ihr wohl der Garderobenständer in die Quere, jedenfalls gab es ein großes Gepolter, und nicht nur die Pizzakartons lagen auf dem Boden, sondern alle Reste, die sich noch darin befunden hatten, ebenfalls. Das veranlasste Violetta zu kreischendem Gelächter, in das Dr. Hillmot unverzüglich einfiel. Er bewegte seinen Rollstuhl zur Küchentür und sah mit verliebten Augen auf Violettas Kehrseite, während sie Kartons und kalte Pizzareste vom Boden klaubte, immer wieder von Lachsalven unterbrochen. Als Dr. Hillmot sich die Lachtränen aus den Augen tupfte, gab Mamma Carlotta seinem Rollstuhl einen sanften Stoß, damit er nicht mehr im Wege stand, und ihrer Cousine einen weitaus heftigeren Stoß, damit sie endlich mit ihren Albernheiten aufhörte. Anschließend wurden beide, Violetta und ihr Dickerchen, dringend gebeten, sich ins Wohnzimmer zurückzuziehen und auf jede Form von Hilfeleistung zu verzichten. Felix verdrückte sich in sein Zimmer und bot Erik Asyl an, der weder im Wohnzimmer in Gesellschaft von Violetta und Dr. Hillmot aufs Essen warten wollte noch in der Küche, wo er ständig im Weg sein würde.
Mamma Carlotta war froh, dass Carolin ihre Hilfe anbot. Im Nu entstand die emotionale Wärme, die in jeder Küche schnell auflebte, wenn das Kochen als etwas Gemeinsames empfunden wurde. Mamma Carlotta genoss die Zuwendung, die von ihrer Enkelin ausging, und war glücklich, dass sie sie zurückgeben konnte, ohne auf friesische Zurückweisung zu stoßen, mit der italienische Herzenswärme nicht zurechtkam.
Carolin bekam den Auftrag, sich um das Schälen und Schneiden der Gurken zu kümmern, während Mamma Carlotta den Mangold für die Suppe vorbereitete.
Carolin bemühte sich, leise zu sprechen, als sie sagte: »Wenn Papa so gerne das Haus von Sandra Lührsen durchsuchen will, aber keinen Durchsuchungsbeschluss bekommt …«
Sie schien es nicht fertigzubringen, den Satz zu Ende zu sprechen. Ihre Nonna hatte damit jedoch kein Problem. »Du meinst, dann sollen wir das tun?«
»Du!« Carolin sah nicht auf. »Während ich mit Sandra Lührsen das Interview führe.«
Mamma Carlotta ließ ihre Erregung an den Eiern aus, die sich bestens dafür eigneten, denn sie mussten aufgeschlagen und verquirlt werden, was besonders gut ging, wenn die Köchin aufgeregt war. Die Eier spritzten nur so. »Wonach soll ich suchen?«
Das wusste Carolin nicht. »Nach irgendwas, was beweist, dass Jesko Lührsen seine Mutter umgebracht hat.«
»Ma … das steht doch gar nicht fest.«
»Wenn du was findest, könnte es feststehen.«
»Allora … und dann?«
»Das überlegen wir uns, wenn du was gefunden hast.«
»Gleich morgen? Du kannst nicht täglich zu Sandra Lührsen kommen.«
»Nein, morgen ist das Interview zu Ende. Aber du wirst sicherlich morgen mit dem Putzen nicht fertig. Da ist ja wahnsinnig viel zu tun.«
Carolins Handy klingelte. Sie zog es aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, ohne sich die Hände vorher abzuwischen. »Was ist?«
War etwa Maximilian am anderen Ende? Wurde er derart unfreundlich begrüßt? Mamma Carlotta lauschte angestrengt, konnte aber seine Stimme nicht erkennen.
»Ich habe dir doch gesagt, ich gehe morgen noch mal zu ihr. Heute mussten wir das Interview abbrechen.«
Also wirklich, Maximilian! Mamma Carlotta frohlockte heimlich. Nach einer glücklichen Beziehung hörte sich das wirklich nicht an.
»Ja, ich sorge für umfangreiches Material. Das wird eine Riesen-Story. Die Frau hat im Gefängnis Sachen erlebt, Wahnsinn! Und wie sie jetzt hier auf Sylt behandelt wird – schrecklich.« Sie lauschte ins Handy, Mamma Carlottas Blick hing an ihrer missmutigen Miene. »Ja, ja, habe ich doch versprochen …« Nun verdrehte sie sogar die Augen, als wäre sie schrecklich genervt! »Nein, mein Vater tappt noch völlig im Dunkeln.«
Mamma Carlottas kurze Hoffnung fiel zusammen wie ein Luftballon, der einer Stecknadel zu nahe gekommen war. Deswegen sollte sie sich in Sandra Lührsens Haus umsehen? Damit Maximilian Fakten für seine Reportage bekam, die sonst keiner hatte? Damit er als erster Reporter herausschreien konnte, dass Jesko Lührsen der Mörder seiner Mutter gewesen war? Sogar dann, wenn es noch gar nicht bewiesen war? Wütend nahm Carlotta sich die Würste vor, die der Metzger von Feinkost Meyer Mettendchen genannt hatte und die angeblich von den italienischen Salsicce kaum zu unterscheiden waren. Da hatte Maximilian Witt sich aber getäuscht! Ohne sie! Von ihr würde er gar nichts erfahren.
»Keine Ahnung! Papa redet zu Hause nicht viel über seine Ermittlungen.«
Das Gespräch dauerte nicht lange. Maximilian Witt hatte nicht angerufen, weil er Sehnsucht nach Carolin verspürte, ihm schien es nur um das Interview und seine Reportage zu gehen. Mamma Carlotta lauschte auf die Abschiedsworte, wartete auf das verräterische »Ich dich auch« und war zufrieden, als es nicht kam.
Carolins Bewegungen hatten sich verändert, nachdem sie das Telefonat beendet hatte. Sie schien die Gurken bestrafen zu wollen, denen sie gnadenlos die Schale abriss, bevor sie sie zerhackte. Mamma Carlotta hätte gerne gefragt, wie es um Carolins Beziehung zu Maximilian aussah, wagte es aber nicht. Noch schien die Gefahr nicht gebannt, dass Carolin an dieser Liebe festhielt, weil sie nicht zugeben wollte, sich geirrt zu haben.
»Manchmal denke ich«, sagte sie und ließ die Gurke eine Weile in Ruhe, »dass ich das auch könnte. Das Schreiben! Vielleicht sollte ich Journalistin werden und nicht Hotelkauffrau.«
»Giornalista?« Das kam so unerwartet, dass Mamma Carlotta nicht wusste, ob sie sich darüber freuen sollte, dass Carolin ein neues Ziel ins Auge fasste, oder sie besser daran erinnerte, dass sie nur noch wenige Monate von ihrer Abschlussprüfung als Hotelkauffrau trennten, dass es also sinnvoller war, die eine Sache zu Ende zu führen, ehe sie sich eine andere in den Kopf setzte.
Carolin wirkte mit einem Mal sehr entschlossen. »Wenn das Interview im Kasten ist, wenn ich alle Fakten beisammenhabe, dann werde ich selbst versuchen, daraus eine Reportage zu machen.«
»Aber Maximilian …«, begann ihre Nonna.
»Der kann sich dann freuen, dass ich ihm die Arbeit abgenommen habe.« Aber ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie mit Maximilians Freude nicht rechnete. »Ich versuche es einfach mal.«
»Und wenn Maximilian dir das übel nimmt?«
»Warum sollte er?«
»Du würdest dich in seine Arbeit einmischen.«
Carolin warf das Messer zur Seite, als suchte sie nach einer wirkungsvolleren Waffe. »Wenn ich für ihn das Interview mache, ist es Hilfe? Und wenn ich die Reportage für ihn schreibe, ist das Einmischung?«