35

Felix hatte Schwierigkeiten, in die Rolle des Gastgebers zu finden. Wenn seine Freunde zu ihm kamen, reichte es, sich aufs Bett zu lümmeln und ihnen einen Stuhl zu überlassen, auf dem er abends seine getragene Kleidung ablegte und vergaß. Sein Vater war noch nie zu Besuch bei ihm gewesen, nur gelegentlich in seinem Zimmer erschienen, wenn es etwas zu besprechen gab, wenn er Fragen an seinen Sohn hatte oder morgens kontrollieren wollte, ob er den Wecker gehört hatte und aufgestanden war. Nun hockte Felix auf seiner Bettkante und Erik auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch, und beide suchten sie nach einem Gesprächsthema. Der Einzug von Violetta und Dr. Hillmot bot längst keinen Gesprächsstoff mehr, nur noch verzweifeltes Stöhnen und Schimpfen und Fragen, auf die keiner von ihnen eine Antwort hatte.

Erik blätterte durch ein Schulbuch, Felix holte sein Handy und scrollte durch seine WhatsApp-Nachrichten, dann sahen sie beide gleichzeitig auf, blickten sich an und lachten.

»Ich glaube, es ist besser, wir gehen einen trinken«, sagte Erik, was Felix die Sprache verschlug. Eine solche Idee war noch nie von seinem Vater gekommen.

»Wohin?«, fragte er vorsichtig.

»Käptens Kajüte liegt am nächsten.«

Felix war begeistert. »Das sollten wir nicht der Nonna sagen. Wetten, dass sie uns nicht gehen lässt?«

»Dann schleichen wir uns eben raus«, meinte Erik und erntete einen zweiten entgeisterten Blick von seinem Sohn.

Mit diebischem Vergnügen huschten sie die Treppe hinab, lauschten kurz auf die Italienischlektion, die Violetta im Wohnzimmer Dr. Hillmot erteilte, und auf die Geräusche aus der Küche, die von Mamma Carlottas Redefluss und Carolins ruhiger Stimme begleitet wurden.

»Eine Stunde haben wir«, flüsterte Erik und öffnete die Tür, die Felix so leise ins Schloss zog, dass Erik der Verdacht kam, er könnte Übung darin haben.

Während sie den Süder Wung hinabgingen, stellte Erik fest, dass Felix ihn mittlerweile um ein paar Zentimeter überragte, was ihm bisher nicht aufgefallen war, und unterdrückte seinen Wunsch, Felix die Hand auf die Schulter zu legen.

Tove sah sie verblüfft an, als sie eintraten. Auch Fietje hob erstaunt den Kopf. Dass der Hauptkommissar privat in die Imbissstube kam, ohne unangenehme Fragen im Gepäck, war schon sehr selten, zusammen mit seinem Sohn war er noch nie erschienen. Erik konnte an Toves Miene ablesen, dass er dem Braten nicht traute und auf etwas wartete, das für ihn unerfreulich werden könnte.

Sie bestellten Bier, und als Tove servierte, konnte Erik es sich nicht verkneifen, nach Maart Bleicken zu fragen. »Ist der noch immer nicht aufgetaucht?«

»Keine Spur von ihm, Herr Hauptkommissar!« Tove ging zur Theke zurück, und Fietje sah aus, als suchte er auf dem Grund seines Jevers einen Schatz.

Erik prostete Felix zu und musste sich zusammenreißen, damit er nicht rührselig wurde. Sein kleiner Felix! Bilder schossen ihm durch den Kopf. Felix nach seiner Geburt, Felix auf dem Weg in den Kindergarten, Felix mit seinem Temperament, dem italienischen Erbteil, mit dem er seiner Schwester und seinem Vater schon als Dreikäsehoch überlegen war. Und nun saß er hier mit einem jungen Mann beim Bier, obwohl er ihm doch noch vor gar nicht langer Zeit jeglichen Alkoholgenuss verboten hatte. Er betrachtete Felix unauffällig. Was für ein gut aussehender Kerl! Die schwarzen Locken, die alle Capellas hatten, die dunklen Augen seiner Mutter und vor allem das spitzbübische Grinsen machten ihn ungeheuer attraktiv. Hoffentlich blieb er noch eine Weile auf der Insel, und hoffentlich kam Carolin zurück in den Schoß der Familie!

»Glaubst du, dass dieser Maart Bleicken der Mörder ist?«, fragte Felix und riss Erik aus seiner Gefühlsseligkeit.

»Schwer zu sagen«, antwortete er. »Die Pflegerin und dein Chef sind genauso verdächtig.«

Felix stürzte sein Bier hinunter. »Was ich noch sagen wollte … Ich habe heute nicht früher Feierabend machen dürfen, ich brauche gar nicht mehr wiederzukommen, hat Dombrowsky gesagt.«

Erik stellte sein Glas, aus dem er gerade trinken wollte, zurück. »Hast du was angestellt?«

Felix schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Polizisten zum Vater.«

Erik stand der Mund offen. »Hat er das gesagt?«

»Natürlich nicht. Er hat den Platz nötig, an dem ich sitze, hat er behauptet. Angeblich ist jemand eingestellt worden, der meinen PC braucht. Lauter dumme Ausreden.«

»Wie kommst du denn darauf, dass …?«

Felix unterbrach ihn. »Die Sekretärin hat es mir gesteckt. Angeblich hätte ich den Praktikumsplatz gar nicht bekommen, wenn Dombrowsky gewusst hätte, dass mein Vater Kriminalbeamter ist.«

»Das geht nicht!« Erik war empört. »Ich werde mit deinem Lehrer reden.«

Aber Felix winkte ab. »Es wäre ja sowieso nur noch eine Woche gewesen. Und Dombrowsky sagt, er stellt mir die Bescheinigung aus, die ich brauche. Über die volle Zeit und mit einer guten Bewertung.«

»Trotzdem …« Erik trank sein Glas aus und bestellte zwei neue Biere. »Hat er vielleicht gemerkt, dass du geschnüffelt hast?«

Felix wurde verlegen. »Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen. Ich war allein im Archiv, im Kopierraum auch.«

»Der Kerl hat ein schlechtes Gewissen«, stellte Erik fest. »Was könnte er gemerkt haben?«

Felix hatte sich offenbar schon viel Gedanken gemacht. »Klar, es kommt immer mal jemand vorbei und sucht etwas, oder … oder ich habe den Ordner falsch zurückgestellt oder … keine Ahnung.«

Erik starrte aus dem Fenster. »Kann Dombrowsky so dumm sein? Damit zeigt er doch, dass an dem Vertrag etwas faul ist.«

»Als ich meine Sachen packen musste, bin ich noch kurz zur Toilette gegangen. Das Archiv ist in dem Raum daneben. Und ich habe einen Blick reingeworfen. Natürlich hatte ich nicht viel Zeit, ich wollte nichts riskieren, aber …«

»Aber?«

»Ich habe den Ordner nicht mehr gesehen. Ich glaube, Dombrowsky hat ihn verschwinden lassen.«

Erik starrte noch immer nachdenklich aus dem Fenster, ohne zu sehen, was sich auf dem Hochkamp tat. Dann aber wurde sein Blick mit einem Mal aufmerksam, er beugte sich vor und beobachtete eine Frau. Sie hatte eigentlich nur einen flüchtigen Blick zu Käptens Kajüte geworfen, dann aber gestutzt und kam nun auf die Fenster der Imbissstube zu. Erik wich unwillkürlich ein wenig zurück. Er wollte von Sandra Lührsen nicht unbedingt gesehen werden, andererseits war er aber sehr interessiert, was sie wollte. Durchs Fenster gucken, um zu sehen, ob es wirklich der Kriminalhauptkommissar war, der am frühen Abend in Käptens Kajüte saß und mit seinem Sohn Bier trank?

Nein, das war es nicht. Erik erkannte schnell, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte, dass die Skulpturen ihre Aufmerksamkeit erregt hatten. Einige waren ja verkaufsfördernd auf den Fensterbänken platziert worden, und Sandra schien sich dafür zu interessieren.

Erik zog sein Portemonnaie hervor. »Wir gehen. Die Nonna dürfte mit dem Essen fertig sein.«

Tove kam zum Kassieren an den Tisch und runzelte die Stirn, als sich die Tür öffnete. Dieser Gast schien ihm nicht zu gefallen.

»Moin«, grüßte Sandra Lührsen und ging zur Theke, ohne auf Erik und Felix zu achten. Sie wartete, bis Tove wieder hinter dem Zapfhahn erschien. »Was soll das hier?« Mit dem rechten Arm beschrieb sie einen großen Bogen, der die ganze Gaststube mitsamt der vielen Treibholzskulpturen umfasste.

Tove drückte den Rücken durch. Er wirkte aggressiv, als müsste er sich verteidigen. »Was meinen Sie?«

Sandra Lührsen zeigte nacheinander auf einige Skulpturen. »Wie kommen Sie an diese Sachen?«

»Geht Sie das was an?« Tove sah Fietje fragend an, der bestätigend nickte, woraufhin Tove ein weiteres Bier für ihn zapfte. Er schien zu hoffen, dass Sandra Lührsen wieder ging, wenn er sie einfach nicht beachtete.

Aber sie trat jetzt sehr dicht an die Theke heran. »Ich möchte wissen, woher Sie diese Sachen haben.«

»Wollen Sie was kaufen? Dann kann ich Ihnen die Preise nennen. Mehr braucht Sie nicht zu interessieren.«

Erik zupfte an Felix’ Ärmel. Gemeinsam verließen sie Käptens Kajüte, ohne dass Sandra Lührsen sie zur Kenntnis genommen hatte. Sie schien nun einen Tunnelblick zu haben, sah nichts anderes als die Skulpturen.

»Was regt die sich so auf?«, fragte Felix, als sie draußen standen.

Erik schloss die Tür nicht ganz und blickte durch den Türspalt zurück. »Das frage ich mich auch.«

Sandra Lührsens Stimme war mühelos zu verstehen. »Diese Skulpturen hat mein Schwiegervater hergestellt. Die gehören jetzt mir. Mein Mann hat seinen Vater beerbt, und ich beerbe nun meinen Mann. Also gehören sie mir.«

Tove begann zu brüllen: »Da kann ja jeder kommen und so was behaupten. Wer sind Sie überhaupt?«

Erik runzelte die Stirn. Dass Tove nicht wusste, wen er vor sich hatte, glaubte er nicht.

»Sandra Lührsen. Ich …«

»Ach, die!« Toves polternde Stimme troff vor Überheblichkeit. »Die Knastologin! Fünf Jahre im Bau, und dann große Töne spucken? Sie können froh sein, dass Sie wieder auf freiem Fuß sind.«

Sandra Lührsens Gesicht lief rot an. »Ich soll froh sein? Ich war unschuldig hinter Gittern.«

»Das sagen sie alle. Ich kenne genug Leute, die im Knast waren. Verurteilt nach Beweisen. Aber alle haben sie behauptet, sie wären eigentlich unschuldig.«

»Ich bin unschuldig!« Sandra Lührsen schleuderte das zweite Wort dieses Satzes vermutlich mitten in Toves Gesicht.

»Für das, was Sie dem armen Jesko angetan haben, waren die fünf Jahre viel zu wenig.«

»Das ist ja …« Sandra schienen die Worte zu fehlen.

Felix wurde ungeduldig. »Lass uns nach Hause gehen, Papa. Ich friere.«

Erik nickte zustimmend, konnte sich aber trotzdem nicht von dem Streit lösen. »Einen Augenblick noch! Ich glaube, hier passiert gleich was. Tove Griess ist unberechenbar.«

»… eine Unverschämtheit ist das!«

Tove redete so laut, dass Erik nun doch die Tür zuzog. Hören konnte er ihn trotzdem. »Ich will Ihnen mal sagen, was eine Unverschämtheit ist! Hier aufzutauchen, das ist eine Unverschämtheit. Hier verkehren nämlich anständige Leute. Und zu denen gehören Sie nicht! Raus hier!«

»Die Skulpturen gehören mir.«

»Hier gehört Ihnen gar nichts. Paul hat mir die Sachen überlassen. Und ich verkaufe sie jetzt.«

»Das kommt nicht infrage! Ich zeige Sie an! Mein Schwiegervater …«

»Wenn der wüsste, wie Sie mit seinem Sohn umgesprungen sind, bekämen Sie nichts. Gar nichts!«

»Sie wollen hier den Moralapostel spielen? Was war denn mit Ihrer Schwester? Ist die nicht von ihrem Mann umgebracht worden, weil sie ihn betrogen hat?«

Erik duckte sich und griff nach Felix’ Arm. »Jetzt wird es Zeit, dass wir abhauen. Wenn es um seine Schwester geht, ist mit Tove Griess nicht zu spaßen.«

»Aber …« Doch Felix sprach die Frage, die ihm auf der Zunge lag, nicht aus, sondern folgte seinem Vater.

Erik blieb schon bald erneut stehen. Aus Käptens Kajüte kam ein solches Geschrei, dass Schlimmes zu befürchten war. Die Eingangstür sprang auf, Sandra Lührsen stürzte heraus, Tove dicht auf den Fersen. »Ich bringe Sie um!«

Sandra Lührsen rannte um ihr Leben. »Hilfe!«

Erik und Felix sprangen Tove in den Weg, aber der hatte nur Augen für die Flüchtende und beachtete sie gar nicht. »Wenn ich dich erwische, du Schlampe!«

Tove rannte, so schnell er konnte, aber zum Glück war Sandra Lührsen genauso flott. Der Abstand zwischen ihnen wurde nicht kürzer. Aber sollte Sandra straucheln …

Den Gedanken hatte Erik noch nicht zu Ende gedacht, da lief Felix los.

»Bleib hier!« Erik hatte gerade sein Smartphone aus der Hosentasche gezogen, um eine Streife zu verständigen. Nun steckte er es wieder weg und folgte seinem Sohn. »Felix! Halt!«

Am Ende des Hochkamps, kurz vor der Westerlandstraße, stoppte Felix tatsächlich. Auch Tove Griess war stehen geblieben. Als Erik herankam, sah er, dass Sandra Lührsen auf der anderen Straßenseite Hilfe bekam. Zwei junge Männer, bei denen sie Schutz gesucht hatte, schrien herüber: »Wir holen die Polizei!«

Tove macht auf dem Absatz kehrt und blieb verblüfft stehen, als er Erik erkannte. »Was machen Sie denn hier? Die haben doch noch nicht mal den Notruf gewählt.«

Erik erinnerte ihn daran, dass er kurz vorher noch Gast in Käptens Kajüte gewesen war. »Das wird Ärger geben, Herr Griess. Eine Beleidigungsklage dürfte Ihnen sicher sein. Und eine Anzeige wegen Bedrohung ebenfalls.«

»Mir doch egal! Dieses Flittchen!«

»Das will ich nicht gehört haben.«

»Können Sie ruhig hören. Eine Schlampe ist das! Und mir will sie was anhaben?«

»Ich hoffe, mit den Treibholzskulpturen verhält es sich wirklich so, wie Sie sagen.«

»Da soll mir dieses Flittchen erst mal das Gegenteil beweisen.«

In diesem Augenblick war ein Martinshorn zu hören, der Streifenwagen war bald zu erkennen. Einer der beiden jungen Männer, die sich um Sandra Lührsen kümmerten, sprang auf die Fahrbahn und winkte.

Erik ging zu den Beamten, die aus dem Wagen stiegen. Den Fahrer kannte er gut, seinen Kollegen hatte er auch schon mal gesehen. Er berichtete kurz, was geschehen war, dann bat er die beiden Streifenbeamten, Sandra Lührsen nach Hause zu fahren. »Es ist ja zum Glück nichts passiert.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich, und Sandra Lührsen war froh, in den Streifenwagen klettern zu dürfen, wo sie sicher war. »Der Kerl gehört eingesperrt«, schimpfte sie.

Aber Erik beruhigte sie. »Er ist ein Choleriker. Er hätte Ihnen nichts getan. Wenn es um seine Schwester geht, ist er besonders cholerisch.«

»Der hat die Skulpturen gestohlen.«

Erik steckte den Kopf in den Streifenwagen. »Das lässt sich nur klären, wenn Sie ihn wegen Diebstahls anzeigen.«

»Das werde ich tun.«

»Schlafen Sie erst mal eine Nacht drüber.«

Die Kollegen schlossen den Streifenwagen und stiegen ein. »Kümmern Sie sich um den Rest? Wenn das wirklich eine Bedrohung war, muss es ein Strafverfahren geben.«

»Ja, ich regle das.«

»Gut.« Die beiden Türen schlugen zu. »Angenehmen Abend noch.«

Erik sah dem Wagen hinterher. Als er aus ihrem Sichtfeld verschwand, sagte Felix grinsend: »Du hast Diebesgut gekauft, Papa? Na, hoffentlich merkt das keiner.«

Erik wollte ihm auseinandersetzen, dass er nicht hatte ahnen können, wem die Skulpturen gehörten, also im guten Glauben gehandelt habe, und dass es im Übrigen ja auch gar nicht erwiesen sei, dass Tove kein Recht an ihnen habe … aber er ließ es. Tove Griess, dieser Idiot! Immer wieder ließ er sich provozieren.

»Was war denn mit seiner Schwester?«, fragte Felix.

»Sie ist von ihrem Mann erschlagen worden.«

Felix staunte nicht schlecht. »Mord?«

»Nein, Totschlag. Es geschah im Affekt. Aus Eifersucht.«

»Begründete Eifersucht?«

»Ja, sie hatte eine Affäre. Aber das ist Jahre her.«

»Weiß man, mit wem?«

»Ja. Mit Fietje Tiensch.«