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Erik drückte die Küchentür fest ins Schloss, nachdem Violetta es angebracht gefunden hatte, der Pflegerin zu folgen und ihr auf die Finger zu schauen, während sie sich mit ihrem Dickerchen beschäftigte. Hoffentlich schließt sie den Kofferdeckel, dachte Erik und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass es ihm egal sein konnte, was Heike Schrunz darüber dachte. Doch es gelang ihm nicht ganz. Was zurzeit in seinem Haus vor sich ging, ließ sich nicht so leicht mit unerwünschter Verwandtschaft erklären, für deren Verhalten niemand etwas konnte außer den Verwandten selbst! Es wäre ihm dennoch peinlich, wenn Heike Schrunz den Kofferinhalt entdeckte. Zwar unterlag sie der Schweigepflicht, die alle professionell Pflegenden einhalten mussten, aber er traute ihr dennoch zu, dass sie im nächsten Haushalt, in dem sie zur Pflege erschien, eine Bemerkung fallen ließ, was ihr später nur schwer nachzuweisen sein würde.

Es kam ihm sogar so vor, als hätte sie die Kette bemerkt, die noch immer auf dem Küchentisch lag. Ihre Kette, die Sören konfisziert hatte! Keiner war so geistesgegenwärtig gewesen, sie unter eine Serviette zu schieben. Wenn sie wirklich die Mörderin von Witta Lührsen war, musste er befürchten, dass sie etwas unternahm, um den Verdacht von sich zu lenken. Es war ein Unding, dass eine verdächtige Person im Haus des leitenden Ermittlers ein und aus ging. Wenn Dr. Hillmot auch meinte, dass es besonders gut sei, weil er ihr so auf die Finger schauen, sie in ein Gespräch verwickeln und zu unbedachten Äußerungen verleiten könne. Zwar hielt Erik es durchaus für möglich, dass der schlaue Gerichtsmediziner doppelsinnige Fragen stellte und Heike Schrunz auf sie hereinfiel, aber solange Violetta in der Nähe war, konnte Erik sich nicht vorstellen, dass Dr. Hillmot damit Erfolg hatte. Sie würde jedes Gespräch mit ihren Tanzeinlagen stören und dafür sorgen, dass seine raffinierten Fragen von Heike Schrunz nicht beantwortet wurden, weil sie gar nicht zu Wort kam.

Carolin räumte den Tisch ab, Mamma Carlotta sortierte die Suppenteller in die Spülmaschine. Nach einigen Überlegungen, wie lange es dauern mochte, bis Dr. Hillmot bettfertig war, beschloss sie, die bereits fertig gebratenen Frikadellen zu erhitzen, dem Spinat den letzten Pfiff zu geben und beides zu servieren. Als sie das Hauptgericht vertilgt hatten, war die Stimme von Heike Schrunz nebenan noch immer zu hören, Violettas Gezwitscher ebenfalls, und Mamma Carlotta sorgte dafür, dass Frikadellen und Spinat warm blieben, damit Dr. Hillmot und Violetta essen konnten, sobald es möglich war. Sören begann währenddessen einen Augenflirt mit Antje Mikkelsen, auf den diese zu Eriks Erstaunen einging, und Felix bot an, sich um den Grappa zu kümmern. Das Bier, das er gemeinsam mit seinem Vater in Käptens Kajüte genossen hatte, schien in ihm die Überzeugung geweckt zu haben, dass er dem Alkohol nun nicht mehr heimlich zusprechen musste, sondern erwachsen genug war, auch über alles Hochprozentige selbst zu entscheiden.

Er verschwand im Vorrat, schien genau zu wissen, wo der Grappa stand, wurde aber unsicher, als er die Flasche auf den Tisch stellte. »Und die Gläser?«, fragte er und sah zur Tür. »Ich gehe jetzt nicht ins Wohnzimmer.«

Dafür hatten alle vollstes Verständnis, und Mamma Carlotta war es, die eine Idee hatte: »Wir nehmen einfach Eierbecher.«

Diese Entscheidung sorgte für Heiterkeit, und als Dr. Hillmot wieder in die Küche geschoben wurde, in einem dunkelblauen Pyjama mit weißen Tupfen, frisch gewaschen und mit geputzten Zähnen, wurde daraus sogar Albernheit, als sich herausstellte, dass Heike Schrunz das Haus grußlos verlassen hatte. Dr. Hillmot interpretierte das überflüssige Gekicher und die plumpen Scherze, die über den Tisch flogen, als Akzeptanz seiner ungewöhnlichen Bekleidung und stimmte in die Heiterkeit ein, während Violetta mit einer Geschichte aus ihrer Jugend begann, die niemand verstand, weil sie noch immer nicht über das Kauderwelsch hinausgekommen war, mit dem sie sich in Deutschland verständigte. Trotzdem wurde über die Geschichte gelacht, obwohl niemand wusste, wo der Witz steckte, und immer dann, wenn Violetta Luft holte, gab es jemanden, der »Prost!« rief, und später jemanden, der nachschenkte, weil nach diesem Toast natürlich getrunken werden musste.

So ging es weiter, während Dr. Hillmot und Violetta ihre Frikadellen und den Spinat aßen, und erst recht, als die Äpfel im Nest aufgetragen worden waren. Als sein Mobiltelefon klingelte, war Erik froh, dass er Wolf hieß und nicht Leuthäuser-Schnarrenberger. Mit der einen Silbe, mit der er sich meldete, kam er zurecht.

Am anderen Ende war Enno Mierendorf, der die Angehörigen der Patientin erreicht hatte, die Heike Schrunz angeblich eine Kette vermacht hatte. Aber diese Mitteilung brachte keine Klarheit. Die Angehörigen hatten es für möglich gehalten, dass die Oma eine solche Kette besessen hatte, aber sicher waren sie sich keineswegs.

»Also Fehlanzeige«, nuschelte Erik und teilte Sören mit schwerer Zunge mit, dass die Kette, die Heike Schrunz getragen hatte, sie vermutlich nicht weiterbringen würde.

Sören winkte ab, weil er es sich schon gedacht hatte, und Erik fiel ein, dass er am Abend eigentlich Sandra Lührsen hatte besuchen wollen. Diesen Plan strich er jedoch sofort wieder von seiner To-do-Liste, auch deshalb, weil er gar nicht mehr wusste, warum er sie kontaktieren wollte. Vor allem aber, daran erinnerte er sich haargenau, wollte er den Abend zu Hause verbringen, wenn seine Tochter bei ihm war. Ihren Besuch wollte er genießen und alles dafür tun, damit sie sich zu Hause wohlfühlte und den Beschluss fasste, wieder im Süder Wung einzuziehen.

Dass sie sich so richtig wohlfühlte, konnte er sich allerdings schon nach einer Stunde nicht mehr einreden. Carolin hatte längst ihren Eierbecher in die Spülmaschine gestellt und den ihrer Nonna gleich mit. Und dann hatte sie Mamma Carlotta etwas zugetuschelt, was sich anhörte wie »Wir müssen morgen früh aufstehen«. Erik wollte sich erkundigen, was die beiden vorhatten, kam aber nicht mehr dazu, weil Dr. Hillmot ihm das Du anbot. Er betonte, dass er so was nur selten tat und nur bei ganz außergewöhnlich sympathischen Menschen und vor allem deshalb, weil er einen Vornamen trug, für den er sich schämte. Dass Violetta ihn nur Dickerchen nannte, lag angeblich nicht nur an ihren zärtlichen Gefühlen für ihn, sondern vor allem auch daran, dass die ihn auf keinen Fall mit Faustinus ansprechen wollte.

»Meine Eltern liebten die Literatur«, erklärte Dr. Hillmot verlegen. Als sie dann merkten, dass ihr Sprössling unter seinem Vornamen litt, hatten sie ihn Fausti genannt, aber damit war es nicht besser geworden. Dr. Hillmot war froh gewesen, als er den Doktortitel erlangt hatte, den er seitdem handhabte wie einen schönen Vornamen. »Du kannst mich also auch Doktor nennen«, schlug er Erik vor, der aber darauf bestand, dass Doktor kein Vorname, sondern ein Titel war. Das sorgte für erneute Heiterkeit, was den Grappa zur Neige gehen ließ. Felix wurde beauftragt, für eine weitere Flasche zu sorgen, fand auch eine, verabschiedete sich aber von dem Gelage, was Erik erfreute, da er daraus schloss, dass sein Sohn noch nicht derart an den Alkohol gewöhnt war, dass er größere Mengen vertrug.

Auch seine Schwiegermutter und seine Tochter verabschiedeten sich nun in ihre Betten, Mamma Carlotta mit einem sehr sorgenvollen Blick und einer Ermahnung auf den Lippen, die sie jedoch runterschluckte, und Carolin mit der Verächtlichkeit, die nüchterne Menschen gern den alkoholisierten entgegenbrachten, wenn sie sich albern benahmen. Erik lehnte den nächsten Grappa ab, als ihm klar wurde, dass er sein Ziel, Carolin zu zeigen, wie gemütlich ihr Elternhaus war, wohl nicht erreicht hatte.