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Sören sah sich enttäuscht in der Küche um. »Die Signora schläft noch?«

Erik schüttelte den Kopf, was er jedoch sofort bereute. Bewegung sollte er an diesem Tag wohl noch konsequenter vermeiden als sonst. »Sie kennen … du kennst sie doch. Die ist schon unterwegs. Ein paar Grappas machen der nichts aus.«

»Sie ist noch nie aus dem Haus gegangen, ohne uns Frühstück zu machen«, maulte Sören.

»Stimmt.« Das fand Erik mit einem Mal auch merkwürdig. Aber dann fiel ihm ein, dass seine Schwiegermutter zurzeit in einer besonderen Mission unterwegs war. Sie wollte alles tun, um Carolin wieder nach Hause zu holen. Das war selbstverständlich wichtiger als jedes Frühstück.

»Das können wir auch allein«, beschloss Erik, der immer, wenn Mamma Carlotta auf Sylt war, vergaß, wie er sonst den Tag begann. Meist nur mit einer Tasse Kaffee und einem belegten Brötchen, das er sich beim Bäcker kaufte.

Gemeinsam machten sie sich daran, den Inhalt des Kühlschranks zu inspizieren, aber Sören sagte schon bald: »Ich glaube, ich mag nichts.«

Erik legte den Schinken zurück. »Ich auch nicht.«

Sie setzten sich an den Tisch und lauschten auf das Schnarchen, das aus dem Wohnzimmer drang. »Fausti zersägt deine Möbel«, sagte Sören und grinste schief.

Erik lächelte zurück. Schön, dass er Sören nun endlich duzte. Er hatte sich schon oft vorgenommen, ihm das Du anzubieten, aber nie hatte es eine gute Gelegenheit gegeben. Gestern war der richtige Zeitpunkt gewesen.

Trotzdem schüttelte er sich heimlich, als er daran dachte, wie sie Brüderschaft getrunken hatten und Violetta darauf bestand, nicht nur Fausti und Erik, die sie sowieso duzte, sondern vor allem Sören zu küssen. Der hatte sich zunächst geziert, sich aber dann doch mannhaft ergeben und an Violettas Brust ziehen lassen.

Sörens Augen bekamen einen Ausdruck, als dächte er an etwas zurück, was ihm Unbehagen bereitete. »Die wollte einen Zungenkuss«, sagte er schließlich.

Erik erschrak. Wen Sören meinte, war klar. »Was? Spinnt die?«

»Sie war ja bereits nach dem dritten Grappa volltrunken. Nur gut, dass Antje schon weg war.«

Die junge Gerichtsmedizinerin hatte früh genug erkannt, worauf der Abend hinauslaufen würde, direkt nachdem Carolin und Carlotta sich zurückgezogen hatten. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich in ihren Porsche gesetzt und war dem Gelage entflohen, ehe sie vollends fahruntüchtig wurde. Das hatte Sören im Augenblick ihrer Verabschiedung natürlich bedauert, aber jetzt war er froh, dass sie so vernünftig gewesen war. Die Verbrüderung mit Fausti und Violetta hätte womöglich dazu geführt, dass sie demnächst die Einladungen ins Haus Wolf nicht mehr annehmen würde.

Erik hatte mit einem Mal das Gefühl, sich zusammenreißen zu müssen. Schließlich war ein Werktag, und sie steckten in Mordermittlungen. »Was machen wir heute?«

»Du wolltest gestern Abend zu Sandra Lührsen gehen.«

»Warum eigentlich?«

Sören dachte nach, kam aber zu keinem Ergebnis.

»Heute Morgen geht das nicht«, beschloss Erik. »Carolin ist bei ihr. Wegen der Reportage.«

»Und deine Schwiegermutter?«

»Die hilft ihr dabei, hat sie gesagt.« Eriks Gesicht wurde nachdenklich. »Wobei eigentlich?«

Darüber dachten beide so lange nach, bis Eriks Telefon klingelte. Enno Mierendorf war am anderen Ende. »Moin, Chef! Es gibt Neuigkeiten. Eine Streife ist letzte Nacht auf Maart Bleicken aufmerksam geworden. Er sitzt in unserer Ausnüchterungszelle.«

Erik legte das Telefon zur Seite. »Jetzt haben wir also alle Verdächtigen beisammen. Heike Schrunz, Norbert Dombrowsky und Maart Bleicken.«

»Ich finde, wir sollten uns lieber darum kümmern, ob Jesko Lührsen der Mörder seiner Mutter sein kann. Bei den alten Verdächtigen kommen wir ja nicht weiter. Die sagen das Gleiche wie damals oder können sich nach fünf Jahren nicht erinnern. Jesko Lührsen ist eine neue Spur. Dumm nur, dass wir den nicht vernehmen können.«

»Jetzt weiß ich wieder, worüber ich mit Sandra Lührsen reden wollte. Über ihren Mann.«

»Wie mag sie darauf reagieren, dass wir ihn verdächtigen?«

»Ich bin gespannt.« Erik wollte sich erheben, ließ sich aber gleich wieder zurücksinken. »Wir müssen warten. Ich darf Carolin nicht dazwischenfunken. Sie muss ihr Interview in Ruhe zu Ende führen.«

Sören bestätigte es nickend. »Aber wir könnten uns doch erst einmal Maart Bleicken vornehmen.«

Erik nickte ebenfalls. »Ja, das könnten wir …«

Doch keiner von ihnen schaffte es, sich zu erheben, sie blieben sitzen, schwiegen beide und hingen Gedanken nach, die sich sicherlich ähnelten. Erik jedenfalls dachte daran, dass er gern wieder ins Bett gehen würde, und Sören fragte sich womöglich, warum er sich schon so früh auf sein Rennrad gesetzt hatte.

Vielleicht wären sie beide im Sitzen eingeschlafen, wenn nicht nebenan merkwürdige Geräusche entstanden wären. Es begann damit, dass das Schnarchen unregelmäßig wurde, durch erschrockene Aussetzer unterbrochen, als wäre Fausti Hillmot im Halbschlaf gestört worden. Dann produzierte er sogar einen beängstigenden Atemstillstand, der Erik und Sören erschrocken aufhorchen ließ. Und schließlich, gerade, als die Stille bedrohlich wurde und das Schnarchen zum Glück wieder einsetzte, rumpelte es nebenan, als wäre jemand aufgestanden, dem es nicht gelang, die Möbelstücke zu umgehen, die sich in den Weg gestellt hatten. Aber immerhin setzte sich Faustis Schnarchen nun wieder regelmäßig fort. Kurz darauf schlug jedoch jemand auf die Türklinke, dem das Feingefühl für ein gemächliches Öffnen abhandengekommen war. Violetta stürzte aus dem Wohnzimmer, an der Küchentür vorbei ins Gäste-WC . Dort erbrach sie sich derart geräuschvoll, dass Erik und Sören beschlossen, das Haus umgehend zu verlassen.

»Sonst wird mir auch schlecht«, erklärte Sören. »Dann lieber ein Gespräch mit Maart Bleicken. Selbst wenn er sich tagelang nicht gewaschen hat.«

»Am Ende will Violetta noch, dass wir ihr einen Tee machen«, ergänzte Erik.

Sie schnappten sich ihre Jacken und verließen gemeinsam das Haus. Die Frage, wie das mit dem Restalkohol war, stellte Erik sich erst, als er schon den Motor gestartet hatte und in die Westerlandstraße eingebogen war. Also zu spät.