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Maart Bleicken empfing Erik und Sören sehr ungnädig. »Was soll ich hier? Warum werde ich eingesperrt? Ich habe nichts getan.« Sein struppiges Haar war aus dem Gummi gerutscht, mit dem er es normalerweise am Hinterkopf zusammenhielt, fettige Strähnen hingen ihm ins bärtige Gesicht. Er sah aus, als wollte er in einem Horrorfilm mitspielen und wäre gerade aus der Maske gekommen, wo man ganze Arbeit geleistet hatte. »Das Essen schmeckt nicht, und zu trinken gibt es nichts.«

»Kein Wasser und kein Kaffee?«, fragte Erik und wusste, dass er gemein war.

Entsprechend wurde er von Maart Bleicken als Sadist beschimpft, als Kerkermeister und Mitglied der Obrigkeit, die sich ja alles leisten konnte. Sogar einen harmlosen Landstreicher wie ihn einbuchten und damit quälen, dass er sein tägliches Bier nicht bekam.

Erik beendete das Gezeter erst, als Maart Bleicken einen Vergleich mit Adolf Hitler heranzog und vermutete, er würde wohl demnächst am Galgen baumeln, ohne vorher einen fairen Prozess zu bekommen. »Nazis! Allesamt!«

»Nun reicht’s aber. Setzen Sie sich hin und erklären Sie uns noch einmal, was an dem Abend vor fünf Jahren abgelaufen ist. Als Sie auf das offene Fenster von Witta Lührsen aufmerksam wurden.«

Wie erwartet berief Maart Bleicken sich auf das, was er schon vor fünf Jahren ausgesagt hatte. »Glauben Sie wirklich, da hat sich bis heute was dran geändert?«

»Kannten Sie Witta Lührsen?«

»Sie nicht. Aber eine aus ihrem Rommé-Club. Das ist die Mutter einer Frau, die ich beinahe geheiratet hätte.« Er grinste. »Ich war ja immer schon ein Schwiegermuttertyp. Mit Rosi habe ich nach wie vor Kontakt. Bei ihr kriege ich gelegentlich eine warme Mahlzeit. Sie glaubt, die Trennung von ihrer Tochter hätte mich kaputtgemacht, und ich belasse es dabei.«

Erik verzichtete auf einen Kommentar. Dass Maart Bleicken jemanden aus Wittas Rommé-Club kannte, war neu. Er konnte sich nicht erinnern, so etwas in den Protokollen gelesen zu haben. Aber das konnte natürlich auch daran liegen, dass er geistig noch immer nicht voll auf der Höhe war. Vielleicht erinnerte er sich nur nicht daran?

Sören zeigte, dass er jünger und widerstandsfähiger war, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. »Das heißt also, dass Sie von den Rommé-Abenden wussten? Dann war Ihnen auch klar, dass Witta Lührsen an diesem Abend eigentlich nicht zu Hause sein konnte?«

Maart Bleicken erschrak. An diese Schlussfolgerung hatte er scheinbar nicht gedacht. »Nö, das nicht. Ich weiß nur, dass die Rosi mit Witta Lührsen Rommé spielte, mehr nicht. An welchem Tag … das wusste ich nicht.«

Er sah, dass weder Erik noch Sören ihm glaubten. »Interessant«, gab Erik zurück. »Sie wussten, dass Witta Lührsen an diesem Abend nicht zu Hause sein würde …«

»Nein! Wusste ich nicht! Ich sage doch …«

Aber er fand kein Gehör. Erik und Sören glaubten ihm kein Wort. »Vielleicht waren Sie sogar an diesem Abend bei der Frau, die beinahe Ihre Schwiegermutter geworden wäre?«, vermutete Sören. »Und die hat Sie weggeschickt, weil sie sich für den Rommé-Abend umziehen musste?«

Erik sah Maart Bleicken an, dass Sören ins Schwarze getroffen hatte. »Wie heißt die Dame mit Hausnamen? Wir könnten sie aufsuchen und uns Ihre Aussage bestätigen lassen.«

»Jannemann«, knurrte Bleicken. Er besann sich kurz, dann brüllte er plötzlich: »Von der werden Sie nichts erfahren. Rosi hält zu mir. Immer! Sonst hätte sie damals schon verraten, dass sie mit mir über den Rommé-Abend geredet hat. Hat sie aber nicht! Und warum? Weil sie genau wusste, dass ich kein Mörder bin!«

Erik und Sören verständigten sich mit einem Blick, dann erhoben sich beide. »Sie müssen leider noch eine Weile hierbleiben, Herr Bleicken.«

»Was? Wieso?«

»Sie haben keinen festen Wohnsitz. Es besteht Fluchtgefahr.« Erik lächelte. »Aber wir werden dafür sorgen, dass Sie Gelegenheit zum Duschen und Haarewaschen bekommen.«

Als sie die Tür von außen schlossen, hörten sie, dass drinnen ein Stuhl zu Bruch ging. Erik gab einem jungen Beamten einen Wink, der einen Kollegen dazuholte, damit sie zu zweit in dem Verhörraum für Ordnung sorgen konnten.

Die Kälte stach zu, als sie ins Freie traten, aber sie tat auch gut. Erik nickte in Richtung Meer. »Ein paar Schritte am Wasser wären jetzt genau das Richtige.«

Dieser Ansicht war auch Sören. Sie gingen in die Brandenburger Straße, überquerten den Parkplatz und benutzten den Strandübergang am Sunset Beach, einem Strandbistro, das zurzeit geschlossen war. Als sie auf der Promenade standen, blieben sie stehen und blickten aufs Meer. Ein graues, aufgewühltes Meer, das nicht schäumte, nicht mit Gischtkronen spielte, sondern mit großer Wucht heranrollte und eine hohe Welle nach der anderen produzierte, die am Strand sanft ausliefen, als wüssten sie, dass sie nicht in das Spiel von Kindern eingreifen würden. Ein November-Meer!

»Er könnte es gewesen sein«, sagte Erik und ging zur nächsten Treppe, die in den Sand hinabführte. »Dass er von Wittas Rommé-Abend wusste, macht ihn noch verdächtiger.«

Sören war der gleichen Ansicht. »Vor fünf Jahren sind wir mit seinem Verhör nicht weit gekommen. Ehe wir ihn in die Zange nehmen konnten, kam schon die Aussage von Jesko Lührsen, die alles verändert hat.« Aber Sören wollte sich dennoch nicht von der Idee verabschieden, dass Jesko ein besonders perfides Spiel geplant haben könnte. »Wie erreichen wir, dass Sandra Lührsen erlaubt, uns in ihrem Haus umzusehen? Ohne Durchsuchungsbeschluss?«

Sie gingen über den Strand direkt aufs Meer zu und blieben erst stehen, als die Gefahr bestand, dass eine Welle über ihre Füße rollte. Aber sie schienen beide gar nicht an diese Möglichkeit zu denken.

»Vielleicht ist sie zugänglich«, meinte Erik. »Sie leidet darunter, dass ihr Mann der gute Jesko ist, dem sie übel mitgespielt hat. Er wird überall bedauert, während sie die böse Ehefrau ist, die den Mann betrogen hat, der sie abgöttisch liebte. Sogar dass er sie ins Gefängnis gebracht hat, wird Sandra Lührsen angekreidet. Sie hat den armen Kerl so zur Verzweiflung gebracht, dass man Verständnis für ihn aufbringen muss.« Er sah kopfschüttelnd zum Horizont. »Das ist schon merkwürdig.«

Sören wurde jetzt sehr eifrig. »Also könnte es ihr recht sein, dass wir ihn verdächtigen? Sie würde uns vielleicht sogar unterstützen, um seine Schuld nachzuweisen? Sie würde damit ihren Ruf retten. Dann wäre sie die arme Frau, die von ihrem Mann hintergangen wurde.«

Sören sprang zurück, als eine Welle weiter auslief, als er vermutet hatte, für Erik kam es leider zu spät. Er hatte nicht aufgepasst und stand nun mit nassen Schuhen da. »So ein Mist!«

Sören grinste. »Da müssen wir wohl erst mal nach Wenningstedt, damit du dir trockene Schuhe anziehen kannst.«

Erik machte auf dem Absatz kehrt, setzte jeden Schritt zaudernd und zog die Hosenbeine hoch, als er feststellte, dass auch die Säume seiner Jeans feucht geworden waren. »Dann können wir sehen, ob Carolin schon zurück ist. Wenn sie ihr Interview beendet hat, machen wir uns gleich zu Sandra Lührsen auf.«