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Sandra Lührsens Stimme klang von unten herauf. »Frau Capella? In einer Stunde wird die Müllabfuhr da sein!« Nun kam sie sogar die Treppe hoch. »Vielleicht sollte ich helfen? Ich wäre froh, wenn die Müllabfuhr alles mitnimmt, dann brauche ich nicht extra zur Deponie zu fahren. Und je eher ich alles los bin, desto besser.« Sie betrachtete zufrieden die Müllsäcke, die Mamma Carlotta schon gefüllt hatte, und sah in den Schlafzimmerschrank, der noch nicht ganz ausgeräumt war. »Das kann alles weg.« Mit einer Bewegung, die viel Wut und sogar Hass verriet, riss sie die Kleidung ihres Mannes samt den Bügeln heraus und stopfte sie in einen Müllsack. Zufrieden sah sie sich dann um. »Die erste Etage ist also frei von Altlasten. Was bin ich froh, wenn ich das Zeug los bin!« Sie zerrte alle Säcke zur Treppe und schien sie selbst hinuntertragen zu wollen. Carlotta kam es so vor, als wäre das ein Racheakt, den sie unbedingt eigenhändig durchführen wollte.

Sandra Lührsen warf die Säcke einen nach dem anderen die Treppe herunter, manches, was leicht war, sogar im hohen Bogen. Wenn etwas klirrte oder zerbrach, erschien ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht. Es war klar, sie rechnete in diesem Augenblick mit ihrem Mann ab, der sie zwar geliebt, ihr aber dennoch oder gerade deswegen etwas so Schreckliches angetan hatte. Mamma Carlotta konnte sie verstehen. Sie schwieg zu diesem Exzess, ließ Sandra Lührsen wüten und sagte nichts zu dem Zorn, mit dem sie ihren Mann aus ihrem Leben entfernte.

Als alle Säcke in der Diele lagen, rief Sandra Lührsen Richtung Atelier: »Ich bin gleich wieder da, Frau Witt! Ich schmeiße nur gerade meinen Mann raus!« Ein hässliches Lachen folgte diesen Worten. »Wenn Sie wollen, können Sie das fotografieren.«

Schon erschien Carolin mit ihrem Handy und machte Fotos von den vielen Müllsäcken und ihrer Auftraggeberin, die neben ihnen stand und zufrieden in die Kamera schaute.

Sandra Lührsen wehrte Carlottas Hilfe nach wie vor ab. »Die Säcke trage ich selbst vors Haus. Meine Nachbarn sollen sehen, was ich tu. Ich hoffe, die Firma, die ich engagiert habe, kommt bald. Sie haben versprochen, heute noch das widerliche Graffiti zu entfernen. Für so was braucht man ja Spezialisten. Sie putzen dann die erste Etage, Frau Capella, das geht ja schnell, jetzt, wo alles raus ist. Und dann im Erdgeschoss. Im Wohnzimmer ist nicht viel Persönliches von Jesko. Die Schallplatten und Bücher werde ich bei Gelegenheit selbst aussortieren, vieles gehörte ja uns beiden, und manches will ich behalten.«

Mamma Carlotta sagte noch immer kein Wort. Angesichts der Emotionen, die vor ihren Augen aus Sandra Lührsen herausbrachen, wäre jedes Wort überflüssig gewesen, nur rhetorische Garnitur. Sie konnte Sandra Lührsen so gut verstehen. Was diese jetzt tat, mit ihren bloßen Händen, mit der Kraft, die sie hatte, mit dem Einsatz ihres Köpers, war dazu da, sich von ihrem Mann zu befreien. Sie warf ihn raus! Mit dem, was sie jetzt tat, schlug sie ihn, ohrfeigte sie ihn, schrie sie ihn an und stieß ihn von sich. Diese Gefühle brauchte sie jetzt offenbar.

Während Sandra Lührsen alles zum Straßenrand zerrte, huschte Mamma Carlotta zu Carolin, die ins Atelier zurückgegangen war und dort ihre Aufzeichnungen überprüfte. »Tutto bene, Carolina?«

Ihre Enkelin sah auf. Mit einem Blick, der neu war, voller Entschlossenheit, mit einer Kraft im Ausdruck ihrer Augen, die Carlotta noch nie bei Carolin gesehen hatte. »Das wird eine tolle Story, Nonna! Ich erfahre Sachen, die wären Maximilian nie zu Ohren gekommen. Menno Koopmann erst recht nicht.«

Carolin sah aus, als wäre sie zu allem entschlossen, als könnte dieser Bericht über Sandra Lührsen ihr die Tür zu einem neuen Leben aufstoßen. In Hamburg oder auf Sylt?

Mamma Carlotta wollte die Gelegenheit nutzen, sich von Carolin erzählen zu lassen, was Sandra Lührsen am Nachmittag plante, wenn der Kurs für Aktmalerei begann. Fragen wollte sie nicht, dann hätte sie zugeben müssen, gelauscht zu haben. Nein, Carlotta wollte es aus Carolins Mund hören, sie sollte ihr selbst sagen, was Sandra im Schilde führte.

Aber in diesem Augenblick ging das Handy ihrer Enkelin. Sie lächelte erfreut, als sie aufs Display sah. Maximilian Witt? Mamma Carlotta wurde prompt unruhig, atmete dann aber erleichtert auf.

»Hey, Papa!« Carolin lauschte, dann sagte sie: »Nein, ich bin hier den ganzen Tag beschäftigt. Das dauert noch. Aus dem Artikel wird eine mehrteilige Reportage, stell dir vor, Papa. Maximilian hat mit der Redaktion telefoniert, die sind ganz begeistert. Sandra Lührsen ist zurzeit eine richtige Berühmtheit. In allen Zeitungen ist von ihr zu lesen. Aber natürlich nur Fakten, keine Geschichte, wie ich sie hier recherchiere. Ich habe mir die Exklusivrechte gesichert.« Sie ließ Erik nur kurz zu Wort kommen. »Das geht nicht. Wir sind mit dem Interview beschäftigt. Am Nachmittag findet schon der erste Malkurs statt, den werde ich mir ansehen. Ich darf sogar fotografieren. Nein, nicht die Kursteilnehmer, aber … Sandra Lührsen. Die Leser sollen sehen, was sie für eine tapfere Frau ist. Kaum aus dem Gefängnis entlassen, stellt sie sich schon wieder dem Alltag und versucht, ohne Hilfe ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Entschädigung, die Menschen gezahlt wird, die unschuldig im Gefängnis gesessen haben, ist ja erbärmlich. Darauf könnte man bei dieser Gelegenheit auch mal hinweisen. In den nächsten Wochen werden ihre Kurse voll sein.« Wieder schaffte Erik einen Einwurf. »Okay, ich kann dich anrufen, wenn ich fertig bin. Vorher darfst du dich hier nicht blicken lassen.« Sie senkte ihre Stimme. »Sollte ich noch da sein, wenn du kommst, verrate bloß nicht, dass ich deine Tochter bin. Dann fühlt Sandra Lührsen sich verschaukelt, und ich bin die Reportage los.« Nun richtete sich Carolins Blick auf ihre Großmutter. »Die Nonna? Die ist auch hier. Sie … sie will nicht nach Hause. Violetta soll selbst sehen, wie sie Dr. Hillmot heute Mittag was zu essen macht. Nach dem Gelage gestern Abend ist sie vermutlich noch unausstehlicher als sonst. Du kannst nicht verlangen, dass die Nonna sich am Süder Wung blicken lässt.«

Sie grinste, als sie das Gespräch beendet hatte. »Wie habe ich das gemacht? Papa denkt sich nichts dabei, wenn du den ganzen Tag weg bist.«

»Grande, Carolina, ma … ich habe etwas gefunden.« Sie begann zu flüstern. »Etwas, was deinen Vater interessieren wird, was er unbedingt sehen sollte. Du musst es ihm geben, spätestens heute Abend.«

»Was ist das?«

»Eine Dartscheibe. Sie steckt in meiner Tasche. Wenn Enrico sie gesehen hat, wird er wissen, wer der Mörder ist.«

Carolin wollte aufgeregt nachfragen, aber sie wurden von Sandra Lührsen unterbrochen, die ins Atelier zurückkehrte und ihre Hände aneinanderschlug, als müsste sie Schmutz abklopfen. »So!« Diese eine Silbe zeigte, wie froh sie war, soeben einen Lebensabschnitt an den Straßenrand gestellt zu haben, und wie gern sie später dabei zusehen würde, wie die Müllwerker den ganze Krempel abholten. Ein Teil ihres Lebens, der jetzt zu den schlechten Erinnerungen gehörte. Sie wollte neu anfangen, keine Frage.

Sie sah Mamma Carlotta verwundert an, als sie sie bei Carolin vorfand. »Sie können jetzt mit dem Putzen weitermachen.«

Mamma Carlotta nickte und ging zur Treppe. Dort blieb sie kurz stehen, um zu hören, was Sandra Lührsen zu Carolin sagte: »Am besten ist es, wenn Sie Frau Capella fragen. Sie kennen sie. Mich lässt sie womöglich gar nicht zu Wort kommen. Wenn wir Mittagspause machen, lasse ich Sie eine Weile mit ihr allein.« Wieder klopfte sie ihre Hände ab. »Und jetzt zu einem meiner schwärzesten Tage. Der Sonntag, an dem ich meine Schwiegermutter kennenlernte …«

Mamma Carlotta stieg in die erste Etage hoch, wo noch immer ihre Tasche neben dem Treppenabgang stand, griff hinein und holte die Dartscheibe heraus. Dann lief sie die Treppe wieder hinunter und ging zur Garderobe, wo sie Carolins Tasche gesehen hatte. Sie war groß, nicht viel kleiner als Carlottas Einkaufstasche. Mamma Carlotta schob die Dartscheibe in Carolins Tasche und atmete auf. Dio mio! Sie war das Corpus Delicti los. Niemals hätte sie erklären können, wie und wo sie es gefunden hatte.