43

Sie kamen im Süder Wung an, Erik steckte das Handy weg, als er das Telefonat mit seiner Tochter beendet hatte. Er dehnte die Beine, soweit es der Fußraum vor dem Beifahrersitz zuließ, und zog eine Grimasse. »Jetzt erst mal trockene Schuhe anziehen. Hoffentlich sind Violetta und Fausti beschäftigt, womit auch immer. Dann könnten wir uns einen Espresso machen und ein paar Reste aus dem Kühlschrank holen.«

Für so was war Sören sonst immer zu haben, aber diesmal lockte ihn das Angebot nicht. »Besser, wir hauen schnell wieder ab. Wenn Violetta noch so schlecht drauf ist wie heute Morgen, dann erwartet Fausti am Ende seine Grundversorgung von uns, nachdem Heike Schrunz ja nicht ins Haus gekommen ist. Ich will ihm aber nicht die Zähne putzen und ihm auch keine frische Unterhose anziehen.«

Das wollte Erik auch nicht, auf keinen Fall. »Violetta muss sich zusammenreißen.«

Vorsichtshalber öffnete er die Haustür so leise wie möglich und lauschte ins Haus, ehe er über die Schwelle trat. Dr. Hillmots Rollstuhl stand im Flur, in der Nähe der Tür, die ins Gäste-WC führte. Dessen Tür war nicht fest geschlossen, und sie hörten Violettas Stimme. »Mach schnell, mir wird schon wieder übel.«

Kurz darauf ging die Spülung, und die folgenden Geräusche zeigten, dass Dr. Hillmot sich irgendwie von der Toilettenbrille wuchtete und auf seinem unversehrten Bein darauf wartete, dass Violetta ihm zurück in den Rollstuhl half.

Erik schlüpfte geistesgegenwärtig aus seinen nassen Schuhen, schnappte sich die Slipper, die neben der Garderobe standen, die er im Winter eigentlich nur zu Hause trug, und war schon wieder an der Tür, die Sören bereits geöffnet hatte. Erstaunlich geräuschlos. Erst vor der Tür stieg er in die Slipper, in diesem Augenblick hörte er Violettas Stimme:

»Carlotta? Bist du das? Komm her und hilf mir!«

Nun war Erik es egal, ob er gehört wurde oder nicht. Hastig zog er die Haustür ins Schloss, alles andere als leise, aber das war jetzt nicht von Bedeutung. »Schnell weg!«, sagte er zu Sören und lief ihm hinterher zum Auto.

Sören, der wieder hinter dem Steuer Platz nahm, fuhr an, obwohl beide noch nicht angeschnallt waren, und stoppte wieder, als sie nicht mehr in Sichtweite waren. »Eigentlich sind wir gemein«, sagte er. »Es ist bestimmt nicht leicht für Violetta, Fausti zu versorgen. Deine Schwiegermutter ist nicht da und …«

»Die hat sich auch verdrückt«, gab Erik zurück. »Dabei ist sie die Hilfsbereitschaft in Person. Ich finde, wir haben auch ein Recht darauf, uns zu entziehen. Schließlich stecken wir in Mordermittlungen.«

»Wir treten auf der Stelle«, erinnerte Sören missmutig.

»Egal! Violetta und Dr. Hillmot sind nicht eingeladen worden. Sie machen sich in meinem Haus breit, sodass wir uns selbst dort nicht mehr wohlfühlen. Wir müssen kein schlechtes Gewissen haben. Schlimm ist nicht, dass wir abhauen, schlimm ist, dass wir gezwungen sind abzuhauen. Und das, wo Carolin gerade wieder nach Sylt gekommen ist.«

Sören fuhr nicht wieder an, sondern wandte sich seinem Chef zu. »Und nun?«

»Zu Dombrowsky«, antwortete Erik. »Die Staatsanwältin meint auch, wir sollten ihm noch mal auf den Zahn fühlen. Und sobald Carolin grünes Licht gibt, gehen wir zu Sandra Lührsen und bitten sie, uns in ihrem Haus umsehen zu dürfen. Auch ohne Durchsuchungsbeschluss.«

Dombrowsky war nicht im Büro. Seine Sekretärin teilte ihnen mit, dass ihr Chef am Heideplätzchen zu tun habe. In einem der Häuser gab es ein Problem mit der Heizungsanlage.

»Also nach List«, sagte Erik, als sie wieder im Auto saßen. »Aber erst zu einem Geldautomaten. Ich brauche Bargeld. Am besten zu dem neben Budnikowsky. Wenn wir in List sind, werden wir zu Gosch gehen und ein Fischbrötchen essen.«

Auf dem kurzen Weg dorthin überlegten sie, was sie Dombrowsky fragen wollten, aber weder Sören noch Erik fiel etwas ein, was zu einem Durchbruch in den Ermittlungen führen könnte.

»Wir fragen ihn einfach noch mal das Gleiche«, meinte Erik schließlich. »Er muss nervös werden, er soll merken, dass er unter Verdacht steht.«

»Meinst du, das weiß er nicht?«

»Er hat keine Ahnung, dass Felix uns informiert hat.«

»Vielleicht doch.«

»Dann erst recht. Er soll Fehler machen.«

»Wenn er es war. Wir haben ja auch noch Maart Bleicken, Heike Schrunz und vielleicht sogar Jesko Lührsen.«

Erik stieg aus und ging auf die große Tür zu, die in den kleinen Raum führte, in dem die Geldautomaten standen. Sie öffnete sich, als er noch weit entfernt war, und eine Frau trat heraus, die stutzte, als sie Erik sah. Sandra Lührsen!

Sie blieb stehen und sah ihm entgegen. »Sie kommen mir gerade recht.«

Erik dachte daran, dass Carolin wegen des Interviews bei ihr war, und er fragte sich, warum er sie hier traf und was Carolin in ihrem Haus machte, wenn sie dort mit seiner Schwiegermutter allein war. Wahrscheinlich würde sie eigentlich auch gern heimkommen, sich von der Nonna etwas zu essen machen lassen und Nestwärme genießen. Erik spürte den Missmut, der erneut in ihm aufstieg. Carolin hatte vermutlich zu Sandra Lührsen gesagt, dass sie die Mittagspause lieber nicht zu Hause verbringen wollte, denn dort sei es so ungemütlich zurzeit, weil zwei ungebetene Gäste sich dort breitmachten, sie wolle lieber mit ihrer Nonna woanders darauf warten, dass die Zeit vorüberging …

Erik riss sich zusammen. »Wie meinen Sie das?«

Sandra Lührsen hatte einen Stapel Kontoauszüge in der Hand. Vermutlich alle, die nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Rückkehr aus dem Gefängnis angefallen waren. »Ich dachte, ich wäre jetzt reich.« Ihre Augen sprühten zornig, ihre Stimme klang schrill. »Dombrowsky hat meinen Mann über den Tisch gezogen. Jesko, dieser Trottel! Er hat das Grundstück für einen Appel und ein Ei hergegeben. Das ist doch unseriös. So was darf ein Immobilienmakler nicht machen.«

Erik fragte nicht, wie viel Dombrowsky Sandra Lührsens Mann gezahlt hatte, er wusste es ja. »Ich bin auf dem Weg zu ihm, ich kann ihn fragen.«

Sandra Lührsen zögerte nur kurz. »Ja, tun Sie das. Ich habe jetzt keine Zeit, zu ihm zu fahren. Bei mir zu Hause ist eine Journalistin. Sie macht gerade Mittagspause, aber gleich werden wir weitermachen. Und um sechzehn Uhr beginnt mein erster Malkurs.« Ein Lächeln flog über ihr Gesicht, wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, der aber gleich darauf hinter der Wolke ihres Aufruhrs verschwand. »Die Sylter sollen staunen, wie schnell ich in mein altes Leben zurückfinde. Ich lasse mich nicht von denen kaputtmachen.« Sie äffte jemanden nach, der ihr womöglich gleich nach ihrer Entlassung mit Ablehnung begegnet war. »Der arme Jesko! So enttäuscht war er von seiner Frau, dass er sich nicht anders zu helfen gewusst hatte! Kann man es ihm verdenken, dass er sie ins Gefängnis gebracht hat, damit sie ihn nicht mehr betrügen konnte?« Sie wollte Erik weismachen, über diesen Anschuldigungen zu stehen, aber ihre zitternden Lippen und die Tränen, die ihr in die Augen schossen, verrieten etwas anderes. Sie war bis ins Mark verletzt worden.

Er betrachtete sie, während sie versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen, schloss die Augen, vermutlich, um ihre Tränen nicht zu zeigen, und lächelte dann wehmütig. »Was habe ich in diesen fünf Jahren den Wind vermisst«, flüsterte sie. »Was hätte ich dafür gegeben, nur ein paar Tage auf Sylt verbringen zu dürfen. Und jetzt …« Sie öffnete die Augen wieder, schien sicher sein zu können, dass sie den Kampf gegen die Tränen gewonnen hatte. »Jetzt darf ich den Wind jeden Tag genießen. Es ist wie ein kleines Wunder.«

Erik nickt, er konnte sie so gut verstehen. »Ich würde gerne mit Ihnen über Ihren Mann sprechen«, sagte er sanft. »Heute Abend? Wenn Ihr Malkurs beendet ist?«

Sie schluckte schwer, dann nickte sie. »Gegen sieben?«

Erik nickte zustimmend und bedankte sich. »Dann kann ich Ihnen vielleicht erklären, warum Ihr Mann das Grundstück seiner Mutter so billig weggegeben hat.«

»Okay. Wenn nicht, werde ich mir Dombrowsky selber zur Brust nehmen. Spätestens morgen, möglicherweise noch heute Abend.«

Sie nickte kurz, dann wechselte sie die Straßenseite und schickte sich an, den Parkplatz von Feinkost Meyer zu überqueren, um dann am Rande des Kreisverkehrs nach Hause zu kommen. Erik sah ihr nach. Ihre Schritte waren jetzt merkwürdig kurz und schleppend. War das die Fortbewegungsart, an die ein Gefängnisinsasse gewöhnt war? Verlernte man als Gefangene das zügige Ausschreiten, das zielstrebige Vorankommen?

Die Frau, die aus dem Supermarkt trat, fiel Erik erst auf, als sie hinter Sandra Lührsen herlief und sie in der Nähe der Flaschencontainer erreichte und zurückhielt. Er blieb stehen und starrte hinüber. Ein Blick zu seinem Wagen zeigte ihm, dass auch Sören aufmerksam geworden war. Zwischen den beiden Frauen schien auf der Stelle ein Streit auszubrechen. Sandra Lührsen schüttelte die andere ab, noch ehe die ihren Arm ergreifen konnte, und obwohl ihre Stimme nicht zu hören war, ließ der wütende Gesichtsausdruck erkennen, dass sie ihr Gegenüber anschrie. Die schien ihr mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Einige Vorübergehende, die in den Laden gehen wollten oder mit gefüllten Einkaufswagen zu ihren Autos gingen, wurden aufmerksam und blieben stehen. Sören ließ die Seitenscheibe herunter, um etwas zu hören, Erik überquerte den Osterweg, um eventuell eingreifen zu können, aber noch bevor er sich den beiden streitenden Frauen genähert hatte, drehte Sandra Lührsen sich um und machte sich davon. Die andere blieb stehen und sah ihr nach.

Sören stieg aus und erschien an Eriks Seite. »Das ist Merret Halliger«, sagte er leise. Er drehte sich um und zeigte zu dem großen Wohn- und Geschäftshaus, in dem mehrere Läden untergebracht waren, ein Bäcker, ein Fahrradverleih, ein Geschäft für Hundefutter und -accessoires und eines für Raumtextilien. »Dort hat sie ihren Kosmetiksalon.«

Sie gingen an den Straßenrand und folgten der Frau mit den Blicken, dann kehrten sie gemächlich zu Eriks Auto zurück, beide beeindruckt von Merret Halliger. Eine hübsche, äußerst gepflegte Frau, nicht schlank, aber wohlproportioniert, mit perfekter Frisur, der der Wind nichts anhaben konnte, in einer dunkelbraunen Lederjacke, einer beigen Hose und zierlichen Stiefeletten. Während sie auf die Tür ihres Kosmetiksalons zuging, hatte sie die Jacke geöffnet, als hätte der Streit mit Sandra Lührsen sie erhitzt.

»Sie hat in den letzten Jahren ihren Salon auf Vordermann gebracht«, sagte Sören. »Ganz klein hat sie in List angefangen, in einem Hinterzimmer ihrer Wohnung.«

Erik wäre beinahe wieder in sein Auto eingestiegen, wenn Sören ihn nicht erinnert hätte, dass er Bargeld nötig hatte. Schnell zog er ein paar Scheine aus dem Geldautomaten, dann machten sie sich auf den Weg nach List.