Sie saßen in Sandra Lührsens Küche. Ein merkwürdiges Gefühl, fand Mamma Carlotta und sah, dass Carolin sich genauso unwohl fühlte. Ein fremder Raum mit fremden Möbeln, fremden Gerätschaften und fremden Gerüchen. Eine Situation ohne Wohlbehagen, trotz gutem Kaffee und leckerem Gebäck. Eine fremde Umgebung, die noch fremder war, weil diejenige, die hier zu Hause war, nicht bei ihnen saß. So waren sie keine echten Gäste, weil die Gastgeberin fehlte, aber aus demselben Grund auch nicht heimisch. Doch Sandra hatte versichert, sie würde nicht lange wegbleiben, nur kurz zur Sparkasse, schnell die Kontoauszüge holen, um zu sehen, wie ihre finanzielle Lage war. Sie hatte ja überhaupt keinen Überblick, was während der letzten fünf Jahre wirtschaftlich geschehen war. Da war es verständlich, dass sie sich Gewissheit verschaffen wollte.
Allerdings hatte Mamma Carlotta nicht vergessen, was sie Sandra Lührsen hatte sagen hören: Sie wolle Carolin mit der Putzfrau allein lassen, weil die beiden sich kannten. Wenn sie wüsste, dass hier Großmutter und Enkelin zusammensaßen, noch dazu die Schwiegermutter des leitenden Ermittlers und dessen Tochter!
Mamma Carlotta schlürfte ihren Kaffee und sah aus dem Fenster. Nein, sie wollte es Carolin nicht leicht machen, sie würde nicht fragen, was sie auf dem Herzen hatte, obwohl leicht zu erkennen war, dass aus Carolin etwas herauswollte und sie nur noch nicht wusste, wie sie es ausdrücken sollte.
»Fällt es dir schwer, hier die Putzfrau zu spielen?«, begann sie vorsichtig.
Mamma Carlotta zuckte mit den Achseln. »Ich tu es für dich, das weißt du ja.«
»Dafür bin ich dir sehr dankbar.« Carolin grinste. »Aber ein bisschen tust du es auch wegen Violetta und Dr. Hillmot. Oder?«
Mamma Carlotta verbot es sich, zu lachen und auf Carolins Ton einzugehen. Nein, sie wollte sich ihr Opfer nicht kleinreden lassen. Was sie hier tat, geschah nur für Carolin. Sie sollte ihr Interview machen dürfen, hoffentlich nicht für Maximilian Witt, sondern für sich selbst.
»Sandra Lührsen hat mir noch ein weiteres Angebot gemacht«, tastete sich Carolin weiter vor. »Ein sehr gutes Angebot. Zweihundert Euro will sie mir bezahlen, wenn ich mich heute Nachmittag malen lasse.«
Nun schaffte Mamma Carlotta es nicht mehr, versonnen aus dem Fenster zu blicken. Ein Ruck ging durch ihren Körper. »So viel Geld für eine Stunde Stillsitzen?«
»Eine ganze Menge, finde ich auch. Aber wie soll sie so schnell an ein Modell kommen? Und sie möchte unbedingt diesen Kurs machen und aller Welt zeigen, dass mit ihr wieder zu rechnen ist, dass sie sich nicht kleinkriegen lässt. Ihre Nachbarn hätten wohl gern, dass sie sich schuldbewusst in einer Ecke verkriecht und sich nicht an die Öffentlichkeit traut.«
»Diese doppelte Moral!« Augenblicklich erwachte in Mamma Carlotta wieder der Zorn auf die Ungerechtigkeit, mit der Sandra Lührsen die Rückkehr schwer gemacht wurde. »Ich habe gehört, dass es um Aktmalerei geht.«
»Richtig. Aber was macht das schon? Man kann sich so hinsetzen, dass niemand etwas sieht, was man nicht sehen lassen möchte. Aktmalerei ist keine Pornografie.«
»Und was sagt dein Freund dazu, dass du dich nackt malen lassen willst?« Mamma Carlotta wunderte sich selbst, wie kühl sie reagieren konnte. Das schaffte sie nur, wenn sie ein konkretes Ziel verfolgte. Ihr Dino, Gott hab ihn selig, hätte längst gemerkt, dass sie etwas im Schilde führte.
»Der muss es ja nicht erfahren.«
»Und dein Vater?«
»Der natürlich auch nicht.«
Stille breitete sich in der Küche aus. Mamma Carlotta betrachtete die dunklen hölzernen Fronten der Anbaumöbel, ging mit den Augen den Maserungen nach und sah sich eingehend die Fensterscheiben an, als überlegte sie, ob sie geputzt werden müssten.
»Noch besser wäre es aber, wenn ich Fotos machen könnte, während der Kurs stattfindet, dafür würde ich auf die zweihundert Euro verzichten. Wenn ich darüber schreiben könnte, wie so ein Kurs abläuft, wenn jemand Modell sitzt, der keinen jugendlichen Körper hat, wenn Sandra Lührsen eben nicht in den Ruf kommt, Voyeure anzulocken …« Carolin fiel nichts mehr ein.
»… wenn also jemand anderes Modell sitzt?«
»Genau!« Carolin war sehr erleichtert.
»Und wer könnte das sein?« Mamma Carlotta sah ihre Enkelin mit großen unwissenden Augen an.
Nun musste Carolin es aussprechen. »Sandra Lührsen hätte gern ein Modell, das … anders ist. Nicht jung, mit einem schönen Körper, sondern …« Sie brach verzweifelt ab.
»Alt und übergewichtig?«
»Vielleicht … du?«
Natürlich erwartete Carolin ungläubiges Nachfragen, Fassungslosigkeit, Empörung und sittliches Entrüsten, alles auf einmal. Aber Mamma Carlotta blieb ganz kühl. »Dafür würde ich aber mehr als zweihundert Euro verlangen.« Sie wehrte ab. »Nein, nein, nicht mehr Geld, sondern etwas ganz anderes zusätzlich …«
Carolin sagte nichts, sie starrte ihre Großmutter nur fragend an. Sie schien zu spüren, dass nun etwas Außergewöhnliches zu erwarten war.
»Ich tu’s nur, wenn du wieder zu Hause einziehst, Carolina.«