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Mamma Carlotta brach der Schweiß aus. Sie wusste mit großer Sicherheit: Sie hatte sich übernommen, sich zu viel zugemutet und viel zu viel auf eine Karte gesetzt. Vielleicht war ihr gewaltiger Einsatz sogar völlig überflüssig, denn Carolin hatte gesagt: »Ich habe doch auch Heimweh, Nonna.« Hörte sich das nicht so an, als habe sie selbst schon mit dem Gedanken gespielt, nach Sylt zurückzukehren? Mamma Carlotta schickte ein Flehen zum Schutzheiligen ihres Dorfs. War das Opfer, das sie bringen wollte, überflüssig? Dann sollte er ihr bitte ein Zeichen geben. Rechtzeitig! Dass Carolin Fotos machen wollte, gefiel ihr gar nicht. Auch hier hätte sie gern einen Rat des heiligen Arezzo gehabt, ein unmissverständliches Zeichen. Aber Carolin hatte die Zweifel ihrer Nonna einfach weggewischt. Es war doch klar, was Sandra Lührsen jetzt brauchte: Sie musste der Welt zeigen dürfen, dass hier Malkurse gegeben wurden, die ernst zu nehmen waren, keine Veranstaltungen für Männer, die sich, mit dem Zeichenstift in der Hand, eine nackte Frau ansehen wollten. Der Körper des Aktmodells würde nichts Frivoles haben, die Nacktheit einer älteren Frau provozierte ja lediglich den Künstler und sein Talent.

Aber Mamma Carlotta hatte eine Forderung durchgesetzt: Sie würde nur von der Seite zu sehen sein, niemand durfte ihr Gesicht auf einer Leinwand oder einem Zeichenblock verewigen, erst recht nicht auf Fotos, die womöglich in der ganzen Bundesrepublik zu sehen waren. Carolin versprach es hoch und heilig. Auch die Teilnehmer des Kurses würden sich ja womöglich nicht fotografieren lassen wollen. Allenfalls würde Carolin aus dem Garten durch die gläsernen Wände in den Raum fotografieren, weit entfernt von dem Aktmodell und so unscharf, dass sie unmöglich zu erkennen sein würde, sie nicht und die Hobbymaler auch nicht. Zudem beteuerte sie noch, dass die Nonna die Fotos vorgelegt bekommen würde und selbst entscheiden dürfe, welches zur Veröffentlichung geeignet war.

Trotzdem fühlte Mamma Carlotta sich nicht gut. Dio mio! Was tat man nicht alles für die Familie! Ob ihr Dino das gutheißen würde, wenn er von seiner Wolke auf sie herabsah? Und Lucia? Mamma Carlotta atmete tief durch. Ja, Lucia würde ihr dankbar sein, weil sie ihre Tochter vor einem großen Fehler bewahrte. Ganz sicher! Natürlich wäre es Lucia auch nicht recht gewesen, dass Carolin ihre Ausbildung wegwarf, mit einem windigen Reporter in Hamburg lebte und ihr Geld in einer Kneipe verdiente. Das Kind musste auf den rechten Weg zurück! Um das zu erreichen, war Mamma Carlotta nichts zu viel.

Sandra Lührsen hatte ihr eine Decke zur Verfügung gestellt. Die könne sie sich umlegen, bis es so weit sei. Und dann, als aus Mamma Carlottas Gesicht partout die Ängstlichkeit nicht weichen wollte, sagte sie mit einem Mal: »Ich habe eine Idee.«

Sie ging ins Wohnzimmer, man hörte, dass sie mehrere Schränke öffnete und darin herumsuchte. Schließlich kam sie triumphierend mit einer Maske zurück, die ihr jemand aus Venedig mitgebracht hatte. Eine schwarze Spitzenmaske, die die Augenpartie verdeckte, an einem hölzernen Stiel, den sie Mamma Carlotta in die Hand drückte. »Das sieht toll aus.«

Mamma Carlotta trat vor einen Spiegel, mit der Linken hielt sie die Decke vor der Brust zusammen, in der Rechten die Maske und begutachtete ihr Erscheinungsbild. Ja, ihr Gesicht war auf diese Weise nicht zu erkennen. Und sie sah geheimnisvoll aus, wie eine Frau, die etwas Verbotenes plante und verhindern wollte, dass es herauskam. Die Sicherheit, dass sie etwas Richtiges tat, wuchs ein wenig. Ja, so würde es gehen!

Sie wickelte sich fest in die Decke, damit sie nicht fror. Noch trug sie ihre Unterwäsche, die sie erst im allerletzten Moment ablegen würde. Wenn sie am Morgen gewusst hätte, dass ihr Schlüpfer und ihr Büstenhalter das Licht einer fremden Umgebung erblicken würden, hätte sie die neue Unterwäsche angezogen, die sie noch vor ihrer Reise nach Sylt gekauft hatte. Hautfarbene Wäsche hatte Signora Mazzini empfohlen, obwohl Mamma Carlotta bisher immer auf Weiß gesetzt hatte, schneeweiß natürlich, denn sie trocknete alles in der Sonne, ihre weiße Wäsche hatte nie einen Grauschleier. Sogar schwarze Wäsche hatte die Besitzerin des kleinen Wäscheladens in Panidomino ihr präsentiert, aber die hatte Carlotta zurückgewiesen. So was trug keine solide italienische Witwe, trotz der an sich angemessenen Farbe. Das kauften sich junge Frauen, die ihre Männer bezirzen wollten.

An diesem Tag hatte sie sich dummerweise für sehr bequeme, schon oft getragene und ein wenig fadenscheinige Unterwäsche entschieden, schließlich war sie mit dem Plan aufgestanden, ein Haus zu putzen, da dachte man nicht an reizvolle Dessous, die Mamma Carlotta allerdings sowieso nicht besaß. Was sich unter der Kleidung verbarg, musste sauber und ordentlich sein, das reichte. Ihre Mutter hatte früher gesagt: Kind, du könntest mal einen Unfall haben und ins Krankenhaus müssen, ohne die Gelegenheit, dich vorher umzuziehen. Was sollen dann die Ärzte von dir denken, wenn du untenrum nicht ordentlich aussiehst? Daran, dass ihre Tochter spontan zum Aktmodell werden könnte, hatte die gute Mamma natürlich nicht gedacht.

Sandra baute mit geübten Griffen ein Podest auf, wo Carlotta sitzen sollte, damit sie von allen gesehen werden konnte. Darauf eine Matratze, die so groß war, dass man sich sogar darauf ausstrecken könnte. »Die Decke können Sie sich dann unterlegen«, schlug sie vor. »Und Sie sollten sich schon eine Pose überlegen, die Ihnen am besten geeignet erscheint. Da lasse ich Ihnen freie Hand.«

Zum Glück blieb Carolin bei ihrer Nonna und machte ihr vor, was sie zu tun hatte. Sie setzte sich auf die Matratze, stellte das linke Bein auf und schlug das rechte darunter. »So geht das!«

Sehr klug. So war nichts zu sehen, was nicht gesehen werden sollte. Dann nahm sie ihrer Nonna die Maske ab und hielt sie so vor ihre Augen, dass der angewinkelte Arm den größten Teil ihrer Brust verdeckte. Woher hatte das Kind nur diese Talente?

Sandra Lührsen nickte anerkennend. »Das wird für die Maler nicht leicht. Künstlerisch äußerst anspruchsvoll.« Zufrieden machte sie sich daran, alle Arbeitsplätze mit Stiften und Zeichenblöcken zu versehen.

Carolin erhob sich und flüsterte ihrer Großmutter zu: »Wetten, dass die meisten nur kommen, um hinterher sagen zu können, sie waren bei der Frau, die unschuldig im Knast gesessen hat?« Sie erhob sich und half Mamma Carlotta in die gleiche Pose, die sie selbst soeben eingenommen hatte. »Aber wenn die glauben, sie könnten interessante Einzelheiten von Sandra Lührsen erfahren, haben sie sich geschnitten. Die wird nur übers Malen reden, über nichts anderes.«

Sandra Lührsen wurde nervös, als die Stunde, zu der der Kurs stattfinden sollte, näher kam. Immer wieder ging sie prüfend durch ihr Atelier, als müsse sie etwas korrigieren oder gerade rücken. Auf Carolins fragenden Blick antwortete sie: »Ich befürchte, dass hier gleich Leute erscheinen, denen es überhaupt nicht ums Malen geht. Nein, ich meine nicht die, die sich über Aktzeichnungen empören, aber heimlich mitmachen wollen. Ich meine die, die sich nur für den Justizirrtum interessieren, dem ich zum Opfer gefallen bin. Und dann natürlich die, die mich trotz allem verurteilen, obwohl ich freigesprochen wurde.« Mit einem Mal ging ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich bin froh, dass Sie über mich berichten werden, Frau Witt. Sie werden mich nicht den Lesern der Sensationspresse zum Fraß vorwerfen. Ihnen vertraue ich.«

Mamma Carlotta seufzte auf, ohne dass es zu hören war. Wenn Sandra Lührsen wüsste! Maximilian Witt war ein Zeitungsschreiber, der genau das tun würde. Aus Carolins Fakten würde er eine Reportage machen, in der es weniger um die Wahrheit als vielmehr um den Effekt gehen würde. Die Fragezeichen, die er vorsichtshalber setzte, wurden ja nie mitgelesen. Sandra Lührsen würde vermutlich sehr enttäuscht sein, wenn sie später die Story las, unter der der Name »Witt« stand. Mamma Carlotta wurde unruhig. Hoffentlich gab das dann keinen Ärger! Sandra Lührsen hatte Carolin nicht die Exklusivrechte an ihrem Schicksal gegeben, damit sie später etwas las, das weit von der Wahrheit entfernt war! Wenn das nur gut ging!

Als die erste Hobbymalerin eintraf, zog Mamma Carlotta sich ins Wohnzimmer zurück. Carolin sorgte dafür, dass niemand an der Haustür klingelte, dass alle durch den Garten kamen und die Tür benutzten, die hinten ins Atelier hineinführte. Es war alles vorbereitet. Wenn es so weit war, würde Mamma Carlotta ihre Unterwäsche abstreifen, sich mit umgehängter Decke und der Maske vor den Augen auf das Podest begeben und sich so hinsetzen, wie Carolin es ihr gezeigt hatte. Erst im letzten Moment würde sie die Decke fallen lassen. Madonna! Hoffentlich erkannte sie niemand! Was, wenn eine Nachbarin aus dem Süder Wung unter den Malerinnen war? Oder die Frau eines Kollegen von Erik, die sie kannte? Sie musste sich immer wieder sagen, dass sie es für Carolin, für die Familie, für ihre verstorbene Tochter tat. Das half, und sie wurde allmählich ruhiger. Es ging ja auch um Sandra Lührsen, um die Wiederherstellung ihres guten Rufs, um die Gerechtigkeit, die ihr zustand, nachdem ihr so viel Ungerechtigkeit widerfahren war. Mamma Carlotta atmete tief ein und aus, sie tat also wirklich nur Gutes!

Die erste Malerin inspizierte die Utensilien, die Sandra Lührsen ausgebreitet hatte. Mamma Carlotta hatte vorher im Atelier den Vorhang einen Spaltbreit geöffnet, den Jesko dort angebracht und damit die Tür zum Wohnzimmer zugehängt hatte. So konnte sie sehen, was sich im Atelier tat.

Es folgten zwei, drei weitere Frauen und ein Mann, die sich ebenfalls sehr professionell gaben, als wäre es ihnen wichtig, den richtigen Eindruck zu vermitteln. Offenbar wollten sie zeigen, dass es ihnen nicht um Sandra Lührsen, sondern ausschließlich ums Malen ging. Mamma Carlotta konnte ihre Stimmen hören. Sie sprachen über die Anwendung von Messmethoden, um das Modell mit seinen korrekten Proportionen zu übertragen, von Schattenlinien und dem Herausarbeiten von Formen durch Schattierungen. Offenbar hatten sie schon Erfahrungen mit Aktmalerei. Mamma Carlotta wurde ruhiger. Sie bekam es wohl wirklich mit Hobbymalern zu tun, denen es nur um die Kunst und nicht um eine Attraktion ging. Carolin fotografierte unauffällig. Sie würde sich später die Erlaubnis geben lassen, Fotos zu veröffentlichen, auf denen Teilnehmer zu erkennen waren. Wer das nicht wollte, würde natürlich nicht in ihrer Reportage zu sehen sein. Hoffentlich handhabte Maximilian Witt das genauso korrekt wie Carolin. Mamma Carlotta wurde schon wieder unruhig. Bebend – ob vor Kälte oder vor Lampenfieber, konnte sie nicht sagen – stand sie da und schaute durch den Spalt im Vorhang. Nun waren alle acht Arbeitsplätze besetzt, sechs Frauen und zwei Männer saßen dort, alle im mittleren Alter. Sie unterhielten sich halblaut miteinander, redeten über ihr Hobby, das Malen, und über ihre Ferienunterkünfte, mit denen nicht alle zufrieden waren. Über Sandra Lührsen und ihr besonderes Schicksal verlor niemand ein Wort.

Carolin hatte ihr Handy weggesteckt und kam ins Wohnzimmer. Mamma Carlotta hatte den Verdacht, dass ihre Enkelin auf sie aufpassen wollte, damit sie nicht im letzten Augenblick die Flucht ergriff. Auf Carolins Wink hin ließ sie nun auch die letzten Hüllen fallen, faltete ihre Unterwäsche auf die Oberbekleidung, die sie auf einen Hocker im Wohnzimmer gelegt hatte, und wickelte sich wieder in die Decke, damit sie nicht fror. Mit der linken Hand hielt sie sie über der Brust zusammen, mit der rechten führte sie die Maske vor ihre Augen.

»Du denkst an dein Versprechen?«, flüsterte sie.

Carolin lächelte. »Ja, keine Sorge.« Sie gab ihrer Oma ein Zeichen, nachdem sie einen letzten Blick ins Atelier geworfen hatte. Alle Kursteilnehmer waren eingetroffen. »Es geht los«, sagte sie und führte Carlotta über den Flur ins Atelier. Deren Knie zitterten, obwohl sie noch die Decke trug, die ihren gesamten Körper verhüllte. Sie wurde von niemandem mit Aufmerksamkeit bedacht. Wenn überhaupt, nahm man sie nur flüchtig zur Kenntnis. Allen Kursteilnehmern schien es darum zu gehen, sich professionell zu verhalten, der Persönlichkeit des Modells keine Aufmerksamkeit zu schenken, nur an die Arbeit zu denken, die vor ihnen lag. Carolin half Carlotta dabei, die richtige Pose zu finden, dann zog sie ihr die Decke vom Körper.

»Du wirst wieder zu Hause einziehen?«, fragte Mamma Carlotta flüsternd, damit Carolin nicht vergaß, warum sie sich zu diesem Possenspiel hinreißen ließ.

Zu einer Antwort kam Carolin nicht. Denn in diesem Augenblick gab es einen Knall. Mamma Carlotta ließ vor Schreck die Maske sinken, um sehen zu können, was geschehen war. »Madonna!« Ein großer Stein war an eine gläserne Wand des Ateliers geschleudert worden. Zum Glück hatte er sie nicht durchschlagen. Schon folgte ein zweiter, ein dritter, aber auch sie sorgten nur für gewaltiges Erschrecken, Schaden entstand nicht. Keiner achtete mehr auf das Aktmodell, alle waren herumgefahren und starrten auf die gläserne Scheibe des Ateliers und die Steine, die davorlagen.

Mamma Carlotta war vor Entsetzen wie gelähmt. Was war das? Wer tat so etwas? »Dio mio!«

Sandra Lührsen stand ebenfalls da wie erstarrt. Sie hatte sich gerade vor die Hobbymaler gestellt, um sie zu begrüßen und ihnen das Ziel des Malkurses zu erklären. Nun blickte sie mit weit aufgerissenen Augen zu der dichten Grundstückseinfassung, aus der die Steine geflogen waren. Würden weitere Geschosse folgen?

Ihre Erstarrung hielt nicht lange an. Sie machte ein paar Schritte auf die gläserne Tür zu, die in den Garten führte, als wollte sie sich dem Angreifer stellen oder ihn zumindest identifizieren. Da flog wieder etwas über das dichte Gestrüpp hinter dem Grundstück der Lührsens. Kein Stein, nichts Rundes, Schweres, sondern etwas Langes, Schmales. Und es brannte. Dünne Flammen züngelten, zischten während des Flugs, waren aber nicht verloschen, als sie ihr Ziel trafen, einen Stapel Kaminholz, der neben dem Atelier unter einer schmalen Überdachung aufgeschichtet war. Das Holz war nicht trocken genug, um in Brand zu geraten, aber es reagierte doch, schickte Rauchfahnen empor, es lag Brandgeruch in der Luft.

»Eine Brandfackel!«, schrie Sandra, sprang zur Tür und riss sie auf.

Im selben Moment flog eine zweite Fackel in den Garten, direkt auf Sandra zu. Wer sie geworfen hatte, war nicht zu erkennen, sie war aus dem Dickicht von Brombeersträuchern und Haselnussbüschen gekommen. Aber Mamma Carlotta war sicher, dass sie eine männliche Stimme gehört hatte, eine aufgebrachte Stimme, die etwas rief, was sie nicht verstehen konnte.

Carolin lief zur Tür, hinter Sandra her, riss sie zurück und warnte sie: »Da kann noch mehr kommen.«

Mamma Carlotta saß da und kämpfte mit ihrer Impulsivität. In ihrer Nähe geschah etwas, und sie konnte weder nachsehen noch eingreifen? Entsetzlich! Sie musste doch aufspringen, zu Sandra Lührsen laufen, helfen, sie in Sicherheit zu bringen, ihr gut zureden … aber sie war auf den Fleck gebannt. Die Maske musste bleiben, wo sie war, in ihrer rechten Hand und über den Augen, und sie durfte sich nicht bewegen, wenn sie nicht Einblicke geben wollte, die sie später bitter bereuen würde. Nein, sie musste stillsitzen, ganz still …