Sandra Lührsen war nicht mehr zu sehen, sie war wie ein angegriffenes Tier auf den unsichtbaren Gegner zugesprungen, Carolin hinterher, die nun ebenfalls verschwunden war. Offenbar wollten beide den Provokateur schnappen, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Von den Kursteilnehmern waren zwei oder drei zur Tür gelaufen, andere waren jedoch sitzen geblieben und hatten sich nur umgedreht, um zu sehen, was geschah. Sie hatten Angst vor der Gefahr. Zu erkennen war nichts, zu hören auch nicht. Derjenige, der die Steine und die Fackeln geworfen hatte, war vermutlich geflohen, um nicht ertappt zu werden.
Mamma Carlotta wollte weg, nur noch weg. Runter von dieser Matratze, dorthin, wo etwas passierte, wo ihre Enkelin verschwunden war, wo sie unbedingt mitmischen und eingreifen wollte. Aber wie? Es war gemein und ungerecht, dass sie hilflos in ihrer Nacktheit dasaß, als wäre ihre Freiheit in Gestalt ihrer Unterwäsche im Wohnzimmer zurückgeblieben. Wie kam sie von dieser Matratze herunter und dorthin, wo etwas Skandalöses geschah? Unerfüllte Neugier war ja beinahe noch unerträglicher als unangemessene Nacktheit. Wenn sie nun versuchte, die Decke, auf der sie saß, um sich zu ziehen und sich möglichst graziös und unauffällig zu erheben? Es achtete ja niemand auf sie. Allerdings musste sie dann den raffiniert angewinkelten rechten Arm auf- und notgedrungen den Blick auf ihren Oberkörper freigeben. Außerdem war es nicht möglich, dann weiterhin mit der Rechten die Maske vors Gesicht zu halten. Sie würde also sowohl ihr Gesicht als auch ihren Körper enthüllen müssen. Außerdem würde das mit der Grazie und der Unauffälligkeit sowieso nicht klappen.
»No! Impossibile!« Eine Frau in ihrem Alter konnte nicht einfach aufspringen, wenn sie mit einem untergeschlagenen Bein auf einer Matratze am Boden saß, schon gar nicht graziös. Sie würde nur hochkommen, wenn sie sich erst mal auf alle viere begab und dann etwas in die Hand bekam, an dem sie sich hochziehen konnte. Letzteres war nicht vorhanden, und die erste Möglichkeit schied aus. Eine entsetzliche Vorstellung, splitternackt auf der Matratze zu knien, vorn mühsam hochzukommen und sich hinten mit knirschenden Kniegelenken in die Höhe zu wuchten. Am Ende womöglich mit der frustrierenden Erkenntnis, dass beides nicht gelang, und zurückzupurzeln wie ein zappelnder plumper Käfer.
Während sie fieberhaft nach anderen Möglichkeiten sann, hörte sie das Martinshorn. »Carolina!« Sie flüsterte den Namen ihrer Enkelin nur. »Carolina!« Warum kam sie nicht, um ihre Großmutter aus dieser misslichen Lage zu befreien?
Bremsen kreischten vor dem Haus, es klingelte an der Tür, aber niemand reagierte darauf, da die Dame des Hauses nach wie vor nicht zu sehen war. Sie war aus dem Garten gelaufen und seither verschwunden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis Mamma Carlotta zwei Polizeiuniformen erkennen konnte, die sich hinter den Büschen zeigten. Mit zitternden Händen hielt sie die Maske fest. Dass nur niemand ihr Gesicht sah!
Im Garten tauchte nun auch Sandra Lührsen auf, zitternd, verfroren, mit vor Kälte blau angelaufenen Lippen. Sie war von der Straße gekommen, wo sie offenbar vergeblich nach dem Übeltäter gesucht hatte.
»Endlich!«, rief jemand von denen, die sich in Erwartung von polizeilicher Hilfe in den Garten getraut hatten und nun so taten, als könnten sie irgendwas verhindern. »Das hat ja ewig gedauert.«
»Sie sind nicht das einzige Problem, zu dem die Polizei gerufen wird«, gab einer der beiden Beamten zurück und ließ sich berichten, was geschehen war.
»Mehrere Steine! Und dann diese Brandfackeln!« Sandra Lührsen griff nach einer Jacke, die auf der Terrasse an einem Haken hing. Eine viel zu große Jacke, die vermutlich ihrem Mann gehört hatte, die er getragen haben mochte, wenn er im Garten arbeitete. Vermutlich hing sie schon seit Monaten dort, aber Sandra kümmerte es nicht, sie brauchte jetzt etwas, was sie wärmte.
Sie hielt den Beamten zwei Stöcke entgegen, die mit Wachs umwickelt waren. »Was sind das für Typen, die so was machen?« Ihre Stimme kippte, die Nerven schienen ihr nun durchzugehen. »Ich lasse mir die Freiheit nicht vermiesen durch irgendwelche Heuchler, denen mein Leben nicht gefällt. Fünf Jahre durfte ich keinen einzigen Tag tun, was ich wollte. Jetzt lasse ich mich nicht hindern. Nicht durch ein paar Steine und Brandfackeln!«
Die Polizisten taten ihr Bestes, sie zu beruhigen, merkten aber schnell, dass sie nicht viel ausrichten konnten. Sie machten einen langen Hals, um in den Garten zu schauen, für das Innere des Ateliers, inklusive des Aktmodells, hatten sie zum Glück keinen Blick übrig. Sie konzentrierten sich, als Sandra Lührsen sich beruhigt hatte, auf die Leute, die an die Grundstücksgrenze gedrängt waren und ungefragt ihre Meinung über die Büsche riefen. Alle hatten sie sich mittlerweile ihre Jacken übergezogen, die sie beim Reinkommen auf einen Kleiderständer in der Nähe der Tür gehängt hatten.
Einer der Polizisten bog zwei Zweige auseinander. »Gibt’s hier irgendwo ein Gartentor?«
Sandra zeigte zur Straße. »Sie müssen vorne rumgehen.«
Die Köpfe der Polizisten verschwanden, die Kursteilnehmer bewegten sich wieder zur Tür des Ateliers und warteten dort auf das Erscheinen der Beamten, das nicht lange auf sich warten ließ. Als Mamma Carlotta sie in der Nähe der Ateliertür sah, spürte sie einen gewaltigen Adrenalinstoß, der ihr die Hitze durch den Körper jagte, obwohl sie eigentlich fror, seit die Tür geöffnet worden war. Die beiden waren mit einem Mal so nah!
»Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte einer der Beamten und sah Sandra Lührsen an, als wollte er ihr abraten.
»Was bringt das?«, fragte sie prompt zurück. »Werden Sie sich auf die Suche machen und mir den Übeltäter bringen? Das kann ich nicht glauben.«
»Wir warten auf Verstärkung …« In diesem Augenblick klingelte es erneut an der Haustür. Diesmal hatte Sandra Lührsen es gehört und die beiden Polizisten ebenfalls. »Da ist sie schon.«
Sandra Lührsen durchquerte das Atelier in Richtung Haustür. »Einen Augenblick noch«, rief sie Mamma Carlotta zu. »Ich sorge dafür, dass der Kurs bald beginnt.«
Mamma Carlotta hätte sie gerne gefragt, wo denn Frau Witt, die Journalistin, geblieben sei, aber Sandra Lührsen rannte so eilig an ihr vorbei, dass es dafür keine Gelegenheit gab.
Mamma Carlotta veränderte vorsichtig ihre Körperhaltung, suchte nach einer bequemeren Position … da hörte sie eine Stimme, die ihr gut bekannt war.
»Guten Tag, Frau Lührsen. Wir wurden benachrichtigt. Bei Ihnen gibt es eine Bedrohungslage?«
Madonna! Was sollte sie tun? Wenn Erik ins Atelier kam, war sie geliefert. Wie sollte sie ihm erklären, warum sie nackt auf einem Podest saß und eine Maske vor ihre Augen hielt? Ob die Chance bestand, dass er sie dahinter gar nicht erkannte? Aber auf diese Möglichkeit konnte sie sich nicht verlassen. Nein, sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt! Subito!
Eriks Stimme näherte sich bereits der Ateliertür. »Wir hatten sowieso vor, Sie heute noch aufzusuchen.«
»Moment«, hörte sie Sandra Lührsens Stimme sagen. »Ich ziehe mir nur schnell meine warme Winterjacke über …«
Mamma Carlotta war nun alles egal. Sie warf die Maske weg, stellte fest, dass das untergeschlagene Bein eingeschlafen war, schaffte es aber trotzdem, auf die Knie zu kommen, stellte erst den einen, dann den anderen Fuß auf und drückte sich in die Höhe. Das hatte sicherlich plump und ungelenk ausgesehen, aber das war nun egal. Auch, dass ihr Ziel, so wenig nackte Haut wie möglich zu zeigen, damit weit verfehlt worden war, spielte keine Rolle mehr. Sie war sogar ausgesprochen schnell in die Höhe gekommen, viel schneller, als sie für möglich gehalten hatte. Dio mio, sie war doch noch ziemlich dynamisch, jedenfalls wenn die Umstände es erforderten und sie von Panik angetrieben wurde. Jetzt brauchte sie nur noch ein gutes Versteck. Hastig sah sie sich um, stellte erleichtert fest, dass alle in den Garten gegangen waren und niemand sie beachtete, raffte die Decke hoch, auf der sie gesessen hatte, und hielt sie sich vor die Brust. Sie huschte zu der Tür, die ins Wohnzimmer führte, hatte aber vergessen, dass sie nun von hinten unverhüllt zu sehen war, und schlug erschrocken die Decke um ihre Hüften. Eriks Stimme näherte sich, Mamma Carlotta tastete durch den Vorhang nach der Klinke der Tür, aber so viel sie auch rüttelte, die Tür blieb zu. Panisch fuhr sie wieder herum, raffte die Decke erneut vor der Brust zusammen und war drauf und dran aufzugeben, die Hände hochzunehmen, sogar dann, wenn die Decke dabei auf ihre Füße fiel, und zu kapitulieren, aber da fiel ihr Blick auf zwei unvollendete Gemälde. Beide waren mannshoch, eins hatte Sandra Lührsen wohl vor ihrer Verhaftung angefangen, an dem anderen hatte sie am Abend zuvor sämtliche Emotionen verarbeitet. Es war noch feucht, würde noch lange trocknen müssen, bis es vollendet werden konnte.
Mamma Carlotta huschte auf die beiden Bilder zu, stellte fest, dass der Abstand zwischen ihnen nur knapp ausreichen würde, und drängte sich dazwischen, gerade in dem Moment, in dem Erik mit Sören das Atelier betrat. Sie duckte sich, schloss die Augen und war erleichtert, als seine Schritte sich nicht näherten, sondern seine Stimme bald in der Nähe der Tür zu hören war, die in den Garten führte. Er war durchs Atelier gegangen, ohne einen Blick nach rechts und links zu werfen. Madonna! Was für ein Glück!
Schwer atmend stand sie da und befasste sich nun mit der Aufgabe, aus diesem Versteck wieder herauszukommen. Womöglich war es doch ein Fehler gewesen, sich zu verstecken? Sie hätte Erik vielleicht erklären können, dass sie es für Carolin tat, dass ihre Enkelin mit dem Opfer der Großmutter zurück nach Hause gelockt werden sollte. Er hätte es möglicherweise sogar verstanden. Andererseits … die Vorstellung, als Aktmodell vor ihrem Schwiegersohn und seinem Mitarbeiter zu stehen, nur mit einer Decke bekleidet, war einfach zu schrecklich. Nein, sie hatte richtig gehandelt, als sie geflüchtet war.
Vorsichtig schob sie ihren Kopf um das Gemälde herum, das vor ihr stand, und sah in den Garten. Tatsächlich blickte niemand zurück. Sie würde es vielleicht riskieren können, aus dem Atelier ins Haus zu huschen und sich dort zu verstecken, bis Erik gegangen war.
Sie versuchte einen Schritt, da bemerkte sie, dass etwas an ihrer Kehrseite klebte, dass sie sogar Probleme hatte, sich von dem Gemälde, das hinter ihr stand, zu lösen. »Dio mio!« Als sie sich gewaltsam von dem frei machte, was sie hinten festhielt, war ihr klar, was geschehen war. Das hässliche Geräusch, mit dem sich ihre Haut von dem befreite, was sie nicht loslassen wollte, sagte alles. So ähnlich hatte es sich auch angehört, als ihr Ältester vor Jahren einen Frosch vom Gartentisch nahm, der sich dort angstvoll festgesaugt hatte.
Nur mit Mühe konnte sie diese Erinnerung verdrängen und löste sich von dem, was von hinten auf sehr unangenehme Weise nach ihr gegriffen hatte. Ob sie es schaffen konnte, zur Tür zu gelangen, die vom Atelier ins Haus führte? Dann ins Wohnzimmer, sich ihre Kleidung schnappen und eine stille Ecke finden, in der sie sich anziehen konnte? Ein gewagtes Unterfangen. Aber hatte sie eine andere Chance? Vorsichtig machte sie einen Schritt zur Seite. Erik, Sören und Sandra waren nun zu erkennen. Sie hielten sich weiterhin im Garten auf und drehten ihr sogar den Rücken zu. Ein geeigneter Moment? Mamma Carlotta setzte alles auf eine Karte …