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Erik spürte den Wunsch in sich, Adrian Halliger möge in seinem Büro nicht anzutreffen sein. Die Erinnerung an Svea tat ihm zwar längst nicht mehr weh, aber sie bedrückte ihn doch. Ihm war, als könnte er sich nicht auf seine Ermittlungsarbeit konzentrieren, wenn er ihr dort nachging, wo er Svea geküsst und schließlich die Beziehung zu ihr beendet hatte.

»Was machen wir, wenn er nicht da ist?«, fragte er Sören.

»Dann fahren wir zu ihm nach Hause«, antwortete Sören erstaunt. »Das wäre allerdings lästig. Die Halligers wohnen in List. Übrigens nicht weit vom Heideplätzchen entfernt.«

Aber sie hatten Glück. Der Türöffner war schon kurz nach ihrem Klingeln zu hören. Adrian Halliger machte es so wie Svea früher. Er trat einen Schritt aus der Tür des Büros heraus, um zu sehen, wer die Treppe heraufkam. Besonders erfreut wirkte er nicht, als er Erik und Sören erkannte. »Ach, Sie!«

»Vermutlich haben Sie mit uns gerechnet?« Erik gab sich freundlich.

»Warum sollte ich?«, fragte Halliger und ließ sie widerwillig eintreten.

Wieder betrachtete Erik ihn und konnte nicht verhindern, dass erneut Neid in ihm aufstieg. Warum schaffte er selbst es nicht, sich so lässig zu kleiden wie Adrian Halliger? Auch der trug eine Cordhose, wie Erik sie bevorzugte, dazu ein kariertes Hemd und darüber eine Strickweste. Obwohl seine Kleidung bequem war, sah er dennoch schick und modisch aus. Wenn Erik selbst sich für etwas Ähnliches entschied, kam er sich nicht lässig, sondern nachlässig gekleidet vor. Und wenn er sich für formelle Kleidung entschied, fühlte er sich alt und spießig. Adrian Halliger würde vermutlich auch im schwarzen Anzug eine gute Figur machen.

Er schien die beiden Beamten im Flur abspeisen zu wollen, entschloss sich dann aber doch, sie in sein Büro zu bitten, so wie bei ihrem ersten Besuch. »Gibt’s Neuigkeiten?«, fragte er und tat desinteressiert.

Erik bestätigte es, ließ sich dann Zeit damit, Platz zu nehmen, seine Jacke aufzuknöpfen und die Hose glatt zu streichen. So was machte einen Mann, der ein schlechtes Gewissen hatte, nervös. Und Adrian Halliger wurde nervös. Nun kam es darauf an, herauszubekommen, was ihm auf dem Gewissen lag.

»Was hatten Sie heute in der Nähe von Sandra Lührsens Grundstück zu suchen?«, fragte er so direkt, dass Adrian Halliger zusammenzuckte.

»Wie kommen Sie darauf …?«

Aber Erik ließ ihn nicht aussprechen. »Ausflüchte können Sie sich sparen. Sie sind gesehen worden.«

Der Gedanke, Menno Koopmann könnte sich getäuscht oder Carolin irgendetwas falsch verstanden haben, kam ihm jetzt erst, und er fragte sich, warum ihm diese Zweifel nicht vorher gekommen waren. Wenn Adrian Halliger jetzt alles abstritt, würde es schwierig sein, ihm das Gegenteil zu beweisen.

Aber Halliger machte keinen diesbezüglichen Versuch. »Ich wollte … ja, ich dachte … also, ich hatte erwogen, Sandra zu besuchen.«

»Kommen Sie dann immer von hinten?«, fragte Sören anzüglich.

Halliger schenkte ihm einen wütenden Blick. »Ich hatte Leute gesehen, die ums Haus herumgingen. Da wollte ich erst mal schauen, was bei Sandra los war.«

»Weiß Ihre Frau davon?« Erik erlaubte sich ein süffisantes Lächeln.

»Natürlich nicht.«

»Heißt das, Sie wollen die Affäre fortsetzen?«

Adrian Halliger fuhr zornig auf. »Ich wollte Sandra einen Besuch abstatten. Das heißt doch nicht, dass ich gleich wieder mit ihr ins Bett will! Ich wollte ihr sagen, wie leid es mir tut, was ihr passiert ist. Irgendwie … fühle ich mich ja auch mitschuldig. Hätten wir uns nie ineinander verliebt, dann wäre das alles nicht passiert.«

»War das heute Ihr erster Versuch, Kontakt mit Frau Lührsen aufzunehmen?«

»Ja.«

Erik sah sofort, dass er log. Garantiert hatte Adrian Halliger gleich am ersten Tag an Sandras Tür geklingelt oder bei ihr angerufen. »Sie haben vermutlich bemerkt, dass Frau Lührsen heute Nachmittag angegriffen worden ist.«

»Ich habe ein paar Steine und eine Brandfackel fliegen sehen.«

»Wer hat sie geworfen? Sie?«

Halliger blitzte Sören wütend an. »Nein!«

»Wer dann?«

»Keine Ahnung. Mir ist niemand aufgefallen.«

Erik beugte sich vor. »Sie waren in der Nähe und haben nur die Steine und die Brandfackeln gesehen? Aber nicht denjenigen, der sie geworfen hat? Das können Sie uns nicht weismachen.«

»Ich habe nur diesen Zeitungsfritzen gesehen. Menno Koopmann vom Inselblatt. Der hat ja fleißig mit dem Handy fotografiert. Ich habe lediglich darauf geachtet, dass er mich nicht aufnimmt. Ich bin noch zu ihm und habe ihn gewarnt. Wenn ich ein Foto von mir im Inselblatt sehe, habe ich gesagt, dann hat er ein Problem.«

Erik lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, als hätte er viel Zeit. »Wie finden Sie das eigentlich, dass Sandra Lührsen so viel Gegenwind bekommt? Warum erntet sie nirgendwo Mitleid?«

»Das war die Alte«, antwortete Halliger. »Witta hat überall über ihre Schwiegertochter hergezogen. Wie sie ihren Sohn ausnutzt, wie er immer versucht, ihr alles recht zu machen, wie er sie geliebt, aber sie ihn trotzdem wie einen Fußabtreter behandelt hat.« Seine Stimme wurde verächtlich. »Und dann hat Sandra ihm noch seine geliebte Mama weggenommen. Der arme Jesko! Am Ende ist er sogar noch krank geworden!« Er sprach nun wieder mit normaler Stimmlage. »Wenn sich so was in den Köpfen der Leute festgesetzt hat, ändert sich das nicht so schnell. Nun ist er der arme Jesko, der sich nicht anders zu helfen wusste, als seine Frau ins Gefängnis zu bringen.«

»Sie haben ausgesagt, Jesko selbst könne der Mörder seiner Mutter sein. Wie kommen Sie darauf?«

»Sandra hat mir oft erzählt, wie sehr Jesko seine Mutter hasste. Davon ist in dem Prozess nie die Rede gewesen. Er hatte durchaus ein Motiv. Aber er hat ja immer nur von der armen Mama geredet, die so gut zu ihm war. Sandra hat niemand geglaubt. Im Grunde war sie schon nach der ersten Verhandlung vorverurteilt. Sie konnte sagen, was sie wollte, ihr glaubte niemand. Und so ist es geblieben. Sie kann noch immer behaupten, was sie will, es ist falsch. Was der arme Jesko gesagt und getan hat, war dagegen immer richtig oder zumindest verständlich. Als er krank wurde, haben ihm viele geholfen. Heike Schrunz ist oft länger bei ihm geblieben und manchmal sogar nachts gekommen, wenn er sie rief. Die hatte ja schon mal Witta gepflegt.« Über Halligers Gesicht ging ein boshaftes Lächeln. »Ich bin gespannt, ob sie es geschafft hat, auch von Jesko im Testament bedacht zu werden.« Er sah Erik mit hochgezogenen Brauen an, aber der ließ diese Frage unbeantwortet im Raum stehen.

»Heike Schrunz«, wiederholte er nachdenklich. Und als er mit Sören das Haus verließ, sprach er den Namen noch einmal aus. »Heike Schrunz. Die hat ihre Finger scheinbar überall.«

Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, das Geräusch jagte erneut eine Erinnerung durch seinen Körper. Er hatte Svea nicht oft in ihrem Büro besucht. Meist war es, wenn er bei ihr gewesen war, darum gegangen, dass sie zu lange arbeitete und wieder mal eine Verabredung absagen musste, weil ein Auftrag dazwischengekommen war. Die Erinnerung an das Geräusch der zufallenden Tür war nicht angenehm.

»Und nun?«, fragte Sören. »Gehen wir zu Koopmann?«