Felix kam ihnen kurz vor der Einmündung in den Süder Wung entgegen, auf dem Fahrrad, mit der Gitarre auf dem Rücken. Er sprang vom Rad und grinste. »Traut ihr euch auch mal wieder in die Höhle der Löwen?« Seine Stimme wurde vorwurfsvoll. »Ihr habt euch den ganzen Tag nicht blicken lassen.«
Carolin lachte amüsiert. »Mein kleiner Bruder war ganz allein zu Haus? Versteh ich nicht. Du hattest doch nette Gesellschaft.«
»Bist du verrückt? Ich war bei Ben, Finn ist auch gekommen. Zurzeit kann man sich bei uns ja nicht mal auf der Treppe blicken lassen. Violetta schreit sofort aus dem Wohnzimmer, dass man in die Küche gehen und Kaffee kochen soll. Wahlweise auch Spaghetti oder Minestrone. Ne danke. Ohne mich.« Er sah seine Nonna dankbar an. »Du wirst jetzt Abendessen machen, oder?«
Mamma Carlotta versicherte es ihm, merkte aber, dass ihre Schritte schwerer wurden und sie nicht so tatkräftig wie sonst auf die Tür des Hauses zulief, in dem sie gebraucht wurde.
Bereits von Weitem sahen sie den Wagen des Pflegedienstes Asmussen vor dem Haus stehen. »Heike Schrunz ist schon da«, stellte Carolin fest. »Dann dürfen wir Dr. Hillmot wieder den ganzen Abend im Pyjama erleben.«
»Solange Violetta nicht aus Gründen der Solidarität ihr Negligé rausholt …« Felix grinste, als hätte er die Cousine seiner Nonna bereits im Nachtgewand zu Gesicht bekommen und legte keinen Wert darauf, dieses Erlebnis zu wiederholen.
Mamma Carlotta zögerte, als sie vor der Haustür angekommen waren. »Mir ist die Schrunz unsympathisch«, sagte sie.
»Mir auch«, bestätigte Carolin, und Felix nickte heftig. Er hatte sich offenkundig auch schon eine Meinung gebildet.
Im Wohnzimmer tobte eine Diskussion, als sie ins Haus kamen. Angeblich hatte die Pflegerin etwas getan, was Violetta ihr bereits mehrfach untersagt hatte. »Was ist mit Ihren … orecchie?«
Heike Schrunz hatte offenbar keine Ahnung, wie Ohren auf Italienisch hieß, und antwortete nicht. Währenddessen brummte Dr. Hillmots Bass etwas Besänftigendes, was schließlich dazu führte, dass Violetta den Mund hielt.
Währenddessen schlichen Mamma Carlotta, Carolin und Felix in die Küche und packten beinahe geräuschlos die Einkäufe aus. Nur nichts tun, was dazu führte, dass Heike Schrunz sie ins Wohnzimmer rief und um Hilfe bei Dr. Hillmots Versorgung bat. Felix ließ sich per Handzeichen erklären, dass er die Grapefruits auspressen sollte, und verzichtete auf die elektrische Zitruspresse, die viel Lärm machte. Carolin hielt es genauso, als sie aufgefordert wurde, den Speck zu würfeln. Sie holte nicht den elektrischen Zerkleinerer heraus, sondern ein großes, scharfes Messer. Es schien zu gelingen. Sie machten weder Violetta noch Heike Schrunz auf sich aufmerksam. Aus dem Wohnzimmer kam keine dringende Bitte, kein Hilfeschrei und keine Klage, nur gelegentlich Dr. Hillmots Stöhnen, der entweder von Heike Schrunz zu intensiv gepflegt oder von Violetta zu intensiv geliebt wurde. Beides war möglich.
Dann öffnete sich die Wohnzimmertür, und eine resolute Stimme sagte: »Bis morgen früh!«
Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Die Pflegerin war gegangen. Der Motor ihres Autos heulte auf, im Wohnzimmer war es im selben Moment vorbei mit der Stille. Violettas Stimme produzierte ein aufgeregtes Kauderwelsch, Dr. Hillmot hielt erstaunlich dynamisch dagegen.
Mamma Carlotta flüsterte: »Was ist da los?«
Carolin und Felix zuckten mit den Achseln, als wollten sie es nicht wissen, lauschten dann aber doch angestrengt. Allerdings vergeblich. Zankten sich die beiden? Nein, ein Streit führte bei Violetta zwangsläufig zu großen Gesten, denen immer etwas zum Opfer fiel, was am Boden zerschellte. Es hörte sich eher an, als wollte einer den anderen von etwas überzeugen, ließ ihn aber nicht ausreden oder fand bessere Argumente. Jedenfalls hatten sie nur Augen und Ohren für sich selbst und schienen nicht zu hören, dass in der Küche das Abendessen vorbereitet wurde.
Erst als Erik und Sören ins Haus kamen, wurden Violetta und Dr. Hillmot aufmerksam. Prompt erschien der Rollstuhl in der Küchentür, von Violetta so eilig geschoben, gedrängt und gestoßen, dass der Gipsverband des pensionierten Gerichtsmediziners ständig irgendwo anstieß. Man sah ihm seine Angst vor Schmerzen an, die erst nachließ, als er unverletzt in der Mitte der Küche stand, wo Erik es übernahm, Dr. Hillmot sanft und vorsichtig an den Tisch zu schieben. »Wie wär’s mit einem Aperitif, Fausti?«
Erik lachte stolz in Sörens Gesicht, denn er wunderte sich über sich selbst, dass er daran gedacht hatte, Dr. Hillmot neuerdings zu duzen und ihn nicht aus alter Gewohnheit Doc zu nennen und zu siezen. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er in die entgeisterten Gesichter von seiner Schwiegermutter und den Kindern blickte, denen der Vorname von Dr. Hillmot noch nicht bekannt war und die nicht mitbekommen hatten, wie der vorherige Abend in der Küche geendet hatte. Dass Erik und Sören sich nun auch duzten, sorgte rundum für zufriedenes Lächeln, dass Violetta sich mit dem Ausruf »mio caro!« auf Sören stürzte, für erschrockenes Augenaufreißen. Aber alle, sowohl Mamma Carlotta als auch die Kinder, schafften es, dazu nichts zu sagen. Dass Felix sich über Dr. Hillmots Vornamen vor Lachen schüttelte, bekam auch niemand mit, nicht einmal Dr. Hillmot selbst.
Während Mamma Carlotta den Grapefruitsaft in einen Topf goss, Butter und Käse dazugab, Sahne einrührte und alles salzte und pfefferte, versuchten Dr. Hillmot und Violetta gleichzeitig, etwas zum Besten zu geben, was ihrer Meinung nach ungeheuerlich war. Erik drückte Sören auf einen Stuhl, schenkte ihm einen mitfühlenden Blick, weil er sich würde anhören müssen, was die beiden zu berichten hatten, und ging in den Vorrat, um den Limoncello zu holen, den Mamma Carlotta im Sommer zubereitet hatte. Währenddessen stritten sich Dr. Hillmot und Violetta darum, wer am besten wusste, was geschehen war, und es am verständlichsten präsentieren konnte. Das dauerte, bis der Limoncello im Glas war, bis sich alle gefragt hatten, ob es richtig sei, schon wieder Alkohol zu sich zu nehmen, aber niemand zu einer gegenteiligen Ansicht gekommen war und sich schließlich alle zugeprostet hatten. Mamma Carlotta war bereits dabei, das Eigelb in den Topf zu rühren und das Toastbrot mit der Mischung zu bestreichen, damit es in den Backofen kommen und überbacken werden konnte, als endlich feststand, was Dr. Hillmot und Violetta zu berichten hatten. Beide waren davon überzeugt, dass nicht Heike Schrunz, sondern ihre Zwillingsschwester an diesem Abend ins Haus gekommen war. Die beiden ähnelten sich wie ein Ei dem anderen, das war bekannt, und die Pflegerin hatte sich angeblich merkwürdig verhalten. Sie hatte nach Utensilien gefragt, die sie selbst noch am Morgen zurechtgelegt hatte, und auch anderes nicht gewusst, was mittags noch klar gewesen war. »Ihre Hände fühlten sich auch anders an«, behauptete Faustinus Hillmot.
Erik fand das nicht besonders bemerkenswert. »Schon in der Schule soll eine oft die Rolle der anderen übernommen haben. Zum Beispiel bei den Bundesjugendspielen. Anja war immer im Weitsprung besser als Heike. Also ist Anja gesprungen, wenn Heike dran war.«
Violetta war empört. Sie fühlte sich hintergangen. Und auch Dr. Hillmot fand das nicht in Ordnung. »Sie hätte uns doch sagen können, dass sie ihre Schwester vertritt.«
Aber Sören wusste, dass es früher schon mal Probleme gegeben hatte, als die beiden ihre Dienstpläne nach ihren sehr persönlichen Vorstellungen und Erfordernissen eingerichtet hatten. »Da ist es wohl öfter zu Beschwerden gekommen. Ihr Chef darf das sicherlich nicht wissen.«
Noch während sie die Grapefruit-Crostini aßen, wurde darüber diskutiert, ob man das Verhalten der Zwillinge durchgehen lassen dürfe oder nicht. Als Erik dann den Fehler machte, in Erwägung zu ziehen, Dr. Hillmot und Violetta könnten sich getäuscht haben, wurde es sogar laut und ungemütlich. Felix wollte mit einem Mal in seinem Zimmer auf der Gitarre ein Stück von den Toten Hosen ausprobieren, und Carolin musste angeblich dringend ein Telefongespräch führen. Beide waren im Nu verschwunden, und Mamma Carlotta blitzte ihren Schwiegersohn an, weil er durch seine unvorsichtig vorgetragenen Zweifel die Tochter, die ins Haus zurückgeholt werden sollte, vom Tisch vertrieben hatte. Dass sie längst ihr Versprechen gegeben hatte, wieder nach Sylt zu ziehen, konnte er ja nicht wissen. Also durfte sie sich durchaus darüber ärgern, dass er so fahrlässig mit Carolins Heimatgefühlen umging.
Nach den Antipasti war Dr. Hillmots Schlafanzug bekleckert, und es entstand eine wüste Diskussion darüber, ob er sich auf der Stelle umziehen müsse. Mamma Carlotta und Erik versicherten, das sei nicht notwendig, Violetta setzte es sich jedoch in den Kopf, und erst als die Spaghetti mit den Brokkoli fertig waren, ließ sie von ihrer Idee ab. Die Stimmung in der Küche war dadurch jedoch weiter abgekühlt, was die Kinder nur sehr zögerlich an den Tisch zurückholte und nur deshalb, weil sie beide hungrig waren. Mamma Carlotta ließ sich nicht viel Zeit mit dem Secondo. Sie wollte einfach, dass dieses Essen so schnell wie möglich zu Ende ging. Noch während das Hauptgericht gegessen wurde, kümmerte sie sich schon um den Grießpudding und redete sich ein, dass es ihr guttun würde, einmal vor der Zeit zu Bett zu gehen. So bot sie nach dem Essen ausdrücklich keinen Espresso an, stellte nachdrücklich die Likörgläser in die Spülmaschine, obwohl Limoncello nach dem Essen genauso gut schmeckte wie vorher, und äußerte verträumt die Meinung, dass ein Spaziergang vor dem Schlafengehen vielleicht guttun würde, dies allerdings mit einem sehr eindringlichen Blick in Eriks Gesicht. Sören behauptete daraufhin etwas überstürzt, nun aufbrechen zu wollen, es sei ja schon spät, und er müsse noch mit dem Fahrrad bis zum anderen Ende von Wenningstedt, und das bei dieser Kälte. Carolin und Felix, die verstanden hatten, was ihre Nonna plante, fanden mit einem Mal auch, dass sie ein wenig Bewegung brauchten, ehe sie schlafen gehen wollten. Violettas Idee, sich ihnen anzuschließen, schnitt Mamma Carlotta schon ab, ehe sie richtig ausgesprochen worden war. »Wie schade, dass du den Dottore unmöglich allein lassen kannst!«