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Mit Lucia hatte Erik die Gewohnheit gehabt, die Seestraße Richtung Meer zu gehen, neben dem Strandwärterhäuschen von Fietje Tiensch eine Weile aufs Meer zu blicken und dann parallel zum Strand zu laufen, Gosch links und La Pergola rechts liegen zu lassen und in den Admiralstuben einen Absacker zu nehmen. Das hatten sie natürlich nicht jeden Abend gemacht, aber sehr häufig am Wochenende. Ganz automatisch hatte er, als Tilla zum ersten Mal ein ganzes Wochenende bei ihm verbrachte, den gleichen Weg eingeschlagen. Aber Tilla schien gespürt zu haben, dass sie in ein Ritual gezogen werden sollte, das nicht wirklich ihr gehörte, in dem sie einen leeren Platz einnehmen sollte, und hatte den Weg ein wenig verändert. Wenn Erik nach dem Essen zu ihr sagte: »Lass uns vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang machen«, dann schlug sie den Weg in den Hochkamp ein und behauptete, über die Seestraße wäre es ihr zu weit. Den Blick aufs Meer wollte sie auch, aber am liebsten hinter Gosch und möglichst, indem sie die neue Treppe dort hinabgingen und einmal eine Welle dicht an ihre Fußspitzen rollen ließen.

Als sie das Haus verließen, sagte Erik: »Ich muss Tilla anrufen«, und entschied sich, als er sie am Ohr hatte, automatisch für den Weg über den Hochkamp, den er immer mit ihr ging, wenn sie bei ihm war. Ob ihre Person oder nur ihre Stimme bei ihm war, spielte keine Rolle. Seine Schwiegermutter plauderte so angeregt mit ihren Enkeln, dass keinem der drei auffiel, welchen Weg sie nahmen. Alle hatten sie nur weggewollt. Weg von Violetta und ihrem Dickerchen.

Tilla freute sich, als sie Eriks Stimme hörte. »Endlich! Seit der Doc bei dir wohnt, scheinst du sehr beschäftigt zu sein.«

Erik stöhnte auf. »Es ist schrecklich. Violetta macht mich wahnsinnig. Und die Abende sind alles andere als schön. Heute hätte ich gern Hart, aber fair gesehen, doch das Wohnzimmer ist ja besetzt.«

Tilla kicherte leise. »Du Armer! Eigentlich könnte ich bis zum Wochenende nach Sylt kommen. Gerichtsverhandlung habe ich erst nächste Woche wieder, meine Akten könnte ich mitbringen …«

»Aber?«, fragte Erik ahnungsvoll.

»Solange Carlottas Cousine bei euch ist, bleibe ich lieber hier.«

Erik hatte volles Verständnis und berichtete ihr von der Entwicklung des Mordfalls Lührsen. »Es spricht viel dafür, dass Jesko es war, nur mit den Beweisen dürfte es schwierig werden. Andererseits …« Als er Tilla erzählte, was sich am späten Nachmittag im Haus von Sandra Lührsen zugetragen hatte, pfiff sie durch die Zähne. Sie wollte sich gerade dazu äußern, als Erik unterbrach. »Warte mal. In Käptens Kajüte scheint es schon wieder Ärger zu geben …«

Er nahm das Handy vom Ohr und lauschte. Tatsächlich! Toves Stimme war zu hören, laut und dröhnend, nun auch Gepolter, als wäre ein Stuhl umgefallen, dann wurde die Tür aufgerissen.

»Raus, du Schlampe!«, brüllte Tove. »Das werde ich dir nicht noch einmal sagen. Raus! Lass dich bei mir nie wieder blicken!«

Eine Frau stolperte auf den Hochkamp, die beinahe zu Fall gekommen wäre, so heftig war sie gestoßen worden.

»Das nächste Mal steche ich dich ab, darauf kannst du dich verlassen!«

Erik hatte den roten Knopf seines Handys gedrückt und stand schon neben Sandra Lührsen, kaum dass sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Wieder die Treibholzskulpturen?«

Sie nickte. »Ich lasse mir das nicht mehr gefallen.«

Dieser Satz kam so verwaschen heraus, als hätte sie eine Mundverletzung. Aber das schien nicht der Fall zu sein. Scheinbar stand sie unter Schock.

»Frau Lührsen … können Sie beweisen, dass Tove Griess die Skulpturen nicht von Ihrem Schwiegervater geschenkt bekommen hat? Sonst steht Aussage gegen Aussage, und Sie werden es schwer haben, Ihren Anspruch durchzusetzen. Lohnt sich das?«

»Ich lasse mir nichts mehr gefallen.« Diesmal kamen ihre Worte klar und deutlich.

»Mit Tove Griess ist nicht zu spaßen. Der ist cholerisch und aufbrausend, das wissen Sie ja.«

»Sie meinen, er läuft mir hinterher und bringt mich um?«

Das konnte Erik sich zwar nicht vorstellen, aber da er wusste, dass Tove Griess schon alles Mögliche auf dem Kerbholz hatte, ließ er ihre Frage unbeantwortet. »Ich bringe Sie nach Hause.«

»Nein!« Sandra Lührsen holte ihr Smartphone aus der Manteltasche. »Ich besorge mir ein Taxi. Das kann ich mir leisten, obwohl mein Mann, dieser Idiot, zugelassen hat, dass Dombrowsky ihn übers Ohr haut. Gehen Sie lieber in diese Kaschemme und sorgen Sie dafür, dass der Wirt angezeigt wird. Weil er mich schon wieder bedroht hat.«

Erik wartete, bis das Taxi kam. Felix war mittlerweile aufmerksam geworden und zu ihm gekommen, nachdem Erik während seines Telefonats mit Tilla zurückgefallen war. Carlotta und Carolin ließen sich nicht blicken, die Dunkelheit hatte sie verschluckt.

»Müssen wir da jetzt schon wieder rein?«, fragte Felix, als das Taxi mit Sandra Lührsen Richtung Westerlandstraße fuhr. »Das Gleiche noch mal wie neulich?«

Erik zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Eine Anzeige wegen Bedrohung hat er sowieso schon am Hals.« Er griff nach Felix’ Arm. »Lass uns weitergehen. Wo sind deine Schwester und die Nonna?«

Die beiden warteten an der nächsten Ecke, nicht weit vom Hotel Horizont entfernt, in dem Carolin ihre Ausbildung zur Hotelkauffrau begonnen und kurz vor der Abschlussprüfung hingeworfen hatte. Erik sah sie aufmerksam an. Schaute sie sehnsuchtsvoll zum Hoteleingang? Bereute sie, dass sie ihre berufliche Zukunft verschleudert hatte? Würde sie sich freuen, wenn er beim Hoteldirektor vorstellig wurde und ihr als Überraschung in den nächsten Tagen ein neues Angebot des Horizont präsentierte? Aber Carolin gönnte dem Hotel keinen Blick. Sie war nur an Sandra Lührsen interessiert.

»Kann ich das in meiner Reportage verwerten?«

Erik wollte sich mit dieser Frage nicht auseinandersetzen. Das Schicksal von Sandra Lührsen ging ihm nahe. Dass ausgerechnet seine Tochter davon profitieren wollte, gefiel ihm nicht.