Dr. Antje Mikkelsen stand auf und sagte, ohne den Blick von der Toten zu nehmen: »Das muss gestern Abend geschehen sein. Sie liegt schon mehrere Stunden hier.«
Die KTU ging ihrer Arbeit nach, scheuchte alle aus dem Garten, die ihren Spuren gefährlich werden konnten, und Kommissar Vetterich verlangte sehr energisch, dass man ihn gefälligst in Ruhe arbeiten lassen solle. »Reden können Sie in der Küche.«
Erik und Sören gingen ums Haus herum und betraten es durch die Haustür, die Carolin bereitwillig von innen öffnete. Sie saß bereits mit ihrer Nonna in der Küche, blass, zitternd, ausgelaugt, und erholte sich von ihrem Schreck. Als Erik und Sören hereinkamen, stand Mamma Carlotta auf und stellte die Kaffeemaschine an. Auch sie wirkte mitgenommen, war sogar ziemlich schweigsam, was bei ihr ja selten vorkam.
Während sie Kaffeepulver und Filtertüten heraussuchte, fragte Sören: »Ist der Mörder derselbe, der auch Witta Lührsen auf dem Gewissen hat?«
Erik antwortete: »Dann liegen wir mit Jesko Lührsen falsch.«
Sören nickte. »Mit Maart Bleicken auch, der sitzt noch. Und Dombrowsky? Mal sehen, ob er ein Alibi hat.« Seine Mimik veränderte sich mit einem Mal, er sah aus, als wäre er zutiefst erschrocken. »Heike Schrunz! Die hat gestern ihre Schwester zu Dr. Hillmot geschickt. Vielleicht, um zu vertuschen, dass sie zu Sandra Lührsen gehen wollte? Die hat sich ein Alibi zusammengebastelt, indem sie ihre Schwester ihre Arbeit machen ließ. Scheinbar hat sie nicht damit gerechnet, dass sie durchschaut wird.«
Erik stimmte ihm zu. »Vielleicht ist sie wegen der Kette zu Sandra Lührsen gegangen. Die beiden haben Streit bekommen …«
Sören sprang auf, riss die Küchentür auf und rief ins Haus: »Antje! Kannst du mal kommen?«
Die Gerichtsmedizinerin erschien kurz darauf. Sie hatte ihre gefütterte Lederjacke nicht abgelegt und trug auch noch den bunten Schal, den sie mehrfach um den Hals gewickelt hatte. Sie schien zu frieren, auch in der warmen Küche. »Was gibt’s?«
»Kann es sein, dass Sandra Lührsen gegen …?« Sören wandte sich an Erik. »Wann war Anja Schrunz bei Dr. Hillmot?«
Erik musste nicht lange nachdenken. »Zwischen sechs und sieben.«
Sören sah Dr. Mikkelsen fragend an. »Passt das? Könnte sie zu dieser Zeit getötet worden sein?«
Dr. Mikkelsen setzte sich zu ihnen und warf einen interessierten Blick zu der Kaffeemaschine, die Mamma Carlotta in Gang gesetzt hatte. »Die Leichenstarre setzt nach ein bis zwei Stunden ein. Voll ausgeprägt ist sie nach sechs bis acht Stunden. In der Regel löst sie sich wieder nach frühestens 24 Stunden.«
Erik sah auf die Uhr. »Wir haben jetzt halb zehn. Dann kann es also sein, dass sie zwischen sechs und sieben erschlagen wurde?«
»Passt.« Antje Mikkelsen nickte. »Die Totenstarre ist noch voll ausgeprägt. Wenn ich sie auf dem Tisch gehabt habe, kann ich euch vielleicht mehr sagen.« Sie ließ sich von Mamma Carlotta einen dampfenden Kaffeebecher vorsetzen und bedankte sich. »Tut gut. Ich hatte heute Morgen noch keinen.« Dann wurde sie wieder sachlich und formell. »Eine Kleinigkeit ist mir bereits aufgefallen. Die Tote hat eine ähnliche Verletzung, wie sie meinem Vorgänger bei Witta Lührsen aufgefallen ist. Ein kleiner Riss in der Halsgegend. Diesmal am Nacken.«
»Heißt das … dieselbe Tatwaffe?«, fragte Erik.
Kommissar Vetterich verhinderte, dass er eine Antwort bekam. Er trat in die Küche, mit einem Asservatenbeutel in der Hand, und zeigte ihn Erik. »Ein Strasssteinchen. Das ist bisher das Einzige, was wir gefunden haben. Schuhspuren gibt es jede Menge, in dem Garten sind gestern wohl viele herumgetrampelt. Kann sein, dass dieses Steinchen nichts mit dem Mord zu tun hat, aber wir stellen es natürlich trotzdem sicher.« Er verließ die Küche wieder und begab sich erneut ins Atelier, um dort in der Nähe der Tür nach Spuren zu suchen.
Mit einem Mal sagte Carolin: »Was ist mit Tove Griess? Hat der nicht gestern Abend damit gedroht, Sandra Lührsen umzubringen?«
»Madonna!« Mamma Carlotta griff sich ans Herz. »Das traust du ihm zu?«
Erik zog die Mundwinkel herab. »Tove Griess ist Choleriker. Wenn der gereizt wird … Wegen Körperverletzung ist der schon mehrmals dran gewesen.«
Die Tür sprang auf, einer der Spurensucher erschien in der Küche. Er wirkte aufgeregt. »Es sieht zwar so aus, als wäre die Frau in der Tür zum Atelier erschlagen worden …«
Antje Mikkelsen unterbrach ihn. »Der Täter muss draußen gestanden haben. Vielleicht hat Sandra Lührsen dort noch mit ihm gesprochen, sich dann umgedreht, um wieder ins Haus zu gehen, in diesem Augenblick wurde sie hinterrücks erschlagen und stürzte vornüber zu Boden.«
Sören nickte nachdenklich. »Das heißt, der Täter …«
Antje Mikkelsen unterbrach auch hier. »… oder die Täterin. Der Schlag war heftig, aber es könnte durchaus eine Frau gewesen sein. Aber sie oder er muss die Tatwaffe griffbereit gehabt haben.«
»Okay. Der Täter oder die Täterin.« Sören schien Schwierigkeiten damit zu haben, dass Sandra Lührsen einem Täter den Rücken zukehrte, der etwas in der Hand hielt, was er als Waffe benutzen konnte. »Dann muss sie sehr viel Vertrauen gehabt haben.«
Der Spurensucher übernahm wieder und ließ erkennen, dass er etwas ganz anderes zu berichten hatte. »Es sieht so aus, als wäre der Täter«, er stockte, »oder die Täterin schon vorher im Haus gewesen.« Er winkte Erik und Sören aus der Küche und ging ihnen ins Atelier voraus. Dort zeigte er auf zwei große Gemälde, die in zwei Ständern ruhten, mit einem Abstand von ungefähr dreißig Zentimetern. Eins davon schien älter zu sein, beim anderen waren die Farben noch frisch und feucht. »Da hat sich jemand so richtig ausgetobt«, meinte der Spurenfahnder und grinste leicht. »Soll das Kunst sein?«
Erik schüttelte den Kopf. Für ihn hatte so was nichts mit Kunst zu tun. Das Bild sah aus, als hätte jemand alle Farben, die es noch im Atelier gab, nacheinander auf die Leinwand geworfen. Er stellte sich Sandra Lührsen vor, wie sie wütend, verzweifelt und vor Wut kreischend vor der Staffelei gestanden und all ihre Emotionen mit den Farbresten, die ihren Gefängnisaufenthalt überdauert hatten, herausließ.
Der Spurensucher zog den Ständer mit dem Bild etwas weiter heraus, sodass es genauer zu betrachten war. Er wies in die Mitte des Bilds. »Das hier sieht so aus, als hätte sich jemand dagegen gelehnt. Jemand, der sich zum Beispiel zwischen den Bildern versteckt hat.« Er ging zur Tür des Ateliers, die ins Haus führte, und wartete dort, dass man ihm folgte. Dann öffnete er die Tür der kleinen Gästetoilette und zeigte auf einen Abdruck an der weißen gefliesten Wand. »Danach hat der Täter sich offenbar hier versteckt. Er hat sich an die Wand gelehnt.« Der Spurensucher umrundete in der Luft die Formen des Abdrucks. »Es sind die Farben von dem Bild, ganz sicher. Die Form passt auch.« Ein leichtes Grinsen ging über sein Gesicht. »Mir scheint, Sie suchen einen übergewichtigen Täter, Herr Wolf. Einen mit einem ziemlich dicken Hintern.«