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Der Leiter des Pflegedienstes war beunruhigt, als Erik am Telefon nach Heike Schrunz fragte. »Was ist los? Gibt’s Ärger?«

Erst als er einsehen musste, dass er von Erik keine Auskunft erhalten würde, nannte er die Adresse einer Familie, der Heike Schrunz zurzeit bei der Pflege eines kranken Kindes half, und vorsichtshalber auch die Anschrift des nächsten Patienten. Dass es nur um eine Zeugenaussage ging, schien Herr Asmussen nicht glauben zu können, offenbar traute er seiner Pflegerin durchaus die eine oder andere Straftat zu. »Es ist so schwer, Pflegepersonal zu finden«, stöhnte er, als litte er bereits unter der Vorahnung, Heike Schrunz könnte verhaftet werden.

Sören kannte das schwer kranke Kind, dessen Eltern in der Pflege unterstützt werden mussten, die Familie wohnte nicht weit von ihm entfernt. Er wies auf das Haus, kaum dass sie in die Westerheide eingebogen waren. Davor stand der Wagen mit dem Aufdruck Pflegedienst Asmussen . »Sie ist noch da.«

Erik entschloss sich, Heike Schrunz nicht in Verlegenheit zu bringen und die Familie des kranken Kindes nicht in Aufregung zu versetzen. »Wir warten. Es kann ja nicht mehr lange dauern.«

Tatsächlich öffnete sich die Tür des Mehrfamilienhauses schon wenige Minuten später, und heraus trat eine Frau in einem dunklen Parka, unter dem weiße Hosen und weiße Crocs hervorschauten. Erik betrachtete sie genau, während sie auf ihren Wagen zuging. War das wirklich Heike Schrunz? Oder kam deren Zwillingsschwester auf ihn zu?

Sie blieb stehen wie vom Donner gerührt, als sie Erik und Sören erkannte. »Was wollen Sie von mir?«

»Guten Tag, Frau Schrunz«, sagte Erik mit steifer Höflichkeit. »Heike Schrunz oder Anja Schrunz? Können Sie sich ausweisen?« Doch er winkte ab, ehe sie reagieren konnte. »Wenn Sie mit Ihrer Schwester die Pässe getauscht haben, bin ich nach der Kontrolle nicht schlauer als vorher.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Sie haben gemerkt, dass Anja gestern bei Ihnen war?« Sie wartete Eriks Bestätigung nicht ab, sondern nickte ergeben. »Ich dachte es mir gleich. Dieser Doktor ist ein schlauer Fuchs, dem kann man nichts vormachen. Seine sogenannte Verlobte merkt ja gar nichts, wenn es ihr nicht direkt auf die Zehen fällt. Deswegen hatte ich Hoffnung. Aber als die heute Morgen so komisch waren …«

Eriks Stimme klang nun schneidend. »Wo sind Sie gestern Abend gewesen, als Sie eigentlich in meinem Haus Dr. Hillmot versorgen mussten? Bei Sandra Lührsen?«

»Was hätte ich dort tun sollen?«, kam es widerspenstig zurück.

»Sie auf die Kette ansprechen?« Es war Sören, der nun antwortete. »Sie fragen, warum sie so sicher war, dass die Kette ihrer Schwiegermutter gehört hat?«

»Ich war nicht bei Sandra Lührsen.«

»Wo dann?«

»Einkaufen, shoppen. Es gibt demnächst eine Verlobung in meiner Familie, ich brauche ein neues Kleid. Und bei meiner Schwester war ein Patient ausgefallen.«

Erik zückte sein Notizbuch. »Dann nennen Sie mir bitte die Geschäfte, in denen Sie gestern waren.«

»Ich weiß nicht, ob sich da jemand an mich erinnert.«

»Wenn nicht, wäre das sehr ungünstig für Sie, Frau Schrunz.«

»Sie haben wohl noch nicht gehört«, fragte Sören, »dass Frau Lührsen ermordet wurde?«

»Was?« Heike Schrunz blieb der Mund offen stehen. Aber Erik war sich keineswegs sicher, dass ihre Verblüffung echt war. Vielleicht war sie auch eine talentierte Schauspielerin. Das mochte auch der Grund sein, warum die beiden Schwestern schon häufig ihre Rollen getauscht hatten und nur selten dabei aufgefallen waren. »Damit habe ich nichts zu tun.«

»Sie haben sicherlich Quittungen über Ihre Einkäufe«, sagte Erik.

»Ich habe gar nichts gefunden. Ich war bei Jensen und … Ja, wo war ich denn noch? Ach ja, bei Hellner. Aber nichts hat mir gefallen. Und was mir gefiel, war zu teuer.«

»Sind Sie gesehen worden? Haben Sie jemanden getroffen?«

»Bei diesem Wetter ziehen sich alle Leute ihre Kapuzen über, dann wird man ja quasi unsichtbar.«

Zum Beweis griff sie nach der Kapuze ihres Parkas und zeigte, dass sie recht hatte. Der Besatz des künstlichen Pelzes reichte so tief in ihr Gesicht, dass ihre Augen kaum zu sehen waren.

Dann schob sie die Kapuze wieder zurück. »Werden Sie Herrn Asmussen verraten, dass ich mit Anja den Dienst getauscht habe?«

Erik zuckte mit den Schultern. »Es gibt für mich keinen Grund, es zu verschweigen.«

»Ich bekomme Ärger«, sagte sie. »Dabei ist ja kein Schaden entstanden. Anja machte ihre Sache genauso gut wie ich.«

Sören schüttelte den Kopf, als könnte er ihre Einstellung nicht verstehen. »Das hat vielleicht etwas mit Vertrauen zu tun?«

»Dr. Hillmot hätte es sicherlich auch unproblematisch gefunden«, ergänzte Erik, »wenn Sie mit offenen Karten gespielt hätten. Haben Sie heute Morgen mit ihm darüber gesprochen? Waren Sie überhaupt wieder selbst da oder noch einmal Ihre Schwester?«

»Ich war selbst da. Er hat jedoch keinen Verdacht geäußert. Aber, wie gesagt …«

»… er war komisch«, sagte Sören. »So viel zum Thema Vertrauen.«

»Was soll ich tun?«, fuhr Heike Schrunz ihn an. »Asmussen hat mir mit Kündigung gedroht.«

Eriks Gesicht war unbewegt. »Dann haben Sie jetzt vermutlich eine Menge Ärger am Hals. Nicht nur die drohende Kündigung, sondern auch den Verdacht, Sandra Lührsen umgebracht zu haben.«