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Mamma Carlotta fuhr der Schreck in alle Glieder, als ihr klar wurde, dass sie etwas vergessen hatte. »Madonna! Ich habe einen Termin!« Hektisch sah sie auf die Uhr und schob sich eilig das letzte Pommes-frites-Stäbchen in den Mund. »Im Kosmetikstudio.«

Tove glotzte sie verständnislos an. »Sie? Was soll das denn für einen Sinn haben?«

Diese Frage war Mamma Carlotta unangenehm, denn sie hatte sie sich auch schon gestellt und keine Antwort gefunden.

»Sie sind doch keine Tussi, die sich Matsche ins Gesicht schmieren lässt und glaubt, dass sie danach jünger aussieht. Wieso wollen Sie überhaupt jünger aussehen?«

»Will ich ja gar nicht. Ich dachte nur …« Nein, was sie gedacht hatte, konnte sie Tove und Fietje nicht begreiflich machen. Merret Halliger hatte sie überredet, und sie war nicht stark genug gewesen, das Einführungsangebot zurückzuweisen. Außerdem war ihr ein Batzen Geld für das Putzen von Sandra Lührsens Haus versprochen worden und später dann auch dafür, dass sie sich als Aktmodell zur Verfügung gestellt hatte. Geld außer der Reihe, das sie, wie sie gedacht hatte, ruhig mal für das eigene Wohlbefinden ausgeben konnte. Daraus war nun nichts geworden, sie würde keinen Pfennig bekommen. Trotzdem atmete sie heimlich erleichtert auf. Der Kelch, sich als Aktmodell zur Verfügung zu stellen, war an ihr vorübergegangen. Dafür hatte sie gerne geputzt, ohne bezahlt zu werden.

Sie zählte ihr Geld auf die Theke und stand auf. Nein, der Termin in dem Kosmetikstudio war nun mal abgemacht, da konnte sie nicht zurück. Wäre der Malkurs an diesem Tag wiederholt worden, hätte sie Merret Halliger wohl tatsächlich absagen müssen, aber nun stand der Nachmittag zu ihrer freien Verfügung. Warum sollte sie sich nicht mal was gönnen? Außerdem bestand ja die Möglichkeit, dass Merret Halliger etwas mit dem Tod von Sandra Lührsen zu tun hatte. Koopmann hatte ihren Mann hinter dem Grundstück gesehen. Warum sollte nicht auch Merret Halliger selbst sich dort herumgetrieben haben? Sandra Lührsen war ihre Rivalin. Dass sie sie loswerden wollte, damit ihr Mann nicht erneut eine Affäre mit ihr begann, war verständlich. Und dass sie dafür Gewalt angewendet hatte, war durchaus denkbar. Wenn Frauen ihre Ehe und ihre Liebe retten wollten, waren sie zu allem fähig. Es konnte also nicht schaden, während der Behandlung ein unverfängliches Gespräch zu beginnen und Merret Halliger vielleicht die eine oder andere verräterische Auskunft zu entlocken.

Zum Glück war noch Zeit genug, nach Hause zu laufen. In ihrem Portemonnaie war nicht genug Geld, für einen Besuch im Kosmetikstudio musste sie das Säckchen aus Samt mit den aufgestickten Perlen heraussuchen, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Darin bewahrte sie ihr Erspartes auf, das nur für besondere Dinge ausgegeben wurde. Und eine kosmetische Behandlung war natürlich etwas Besonderes.

Als sie ins Haus kam, hörte sie Stimmen aus der Küche, Dr. Hillmot, der das fantastische Essen lobte, das Violetta auf den Tisch gebracht hatte, und ihre Stimme, die sein Lob verlegen zurückwies. »Wurstel con salsa al curry aus Cabina del Capitano! Das ist keine Kunst, Dickerchen.«

Aber während Mamma Carlotta die Treppe hochlief, hörte sie Dr. Hillmot sagen, dass es eben auch darauf ankäme, ein Essen zu präsentieren, und das könne niemand so gut wie seine Violetta.

Dass Mamma Carlotta die Augen verdrehte, bekam niemand mit, auch Violetta nicht, die in der Küchentür erschien, weil sie ihre Cousine gehört hatte. »Carlotta? Endlich! Da bist du wieder.«

Mamma Carlotta verschwand in Lucias Nähzimmer, in dem sie übernachtete, wenn sie auf Sylt war, und rief: »Ich muss gleich wieder weg. Ich will nur eben …«

Sie hörte Violettas Schritte auf der Treppe, riss den Koffer vom Schrank, holte eilig das Samtsäckchen heraus und stopfte es in ihren Ausschnitt, weil sie nicht verraten wollte, dass sie viel Geld für etwas so Überflüssiges wie eine kosmetische Behandlung ausgeben wollte. Wie hatte Tove gesagt? Sich Matsche ins Gesicht schmieren lassen! Dio mio, sie musste verrückt geworden sein!

»Was hast du vor?« Violetta erschien in der Tür, auch an diesem Tag gekleidet wie jemand, der sich am Kleidercontainer bedient und dort rausgesucht hatte, was ihm in die Hände kam. Eins passte nicht zum anderen, allerdings war daraus eine Mischung geworden, die insgesamt dennoch harmonisch war. Wie Violetta das hinbekommen hatte, war Mamma Carlotta ein Rätsel. Sie war sicher, dass Dr. Hillmot hingerissen gewesen war, als Violetta am Morgen vor ihm erschien.

»Ich habe einen Termin …« Mamma Carlotta versuchte es noch einmal mit dieser Formulierung, merkte aber gleich, dass sie nicht zu ihr passte. Termine hatten berufstätige Menschen, die wichtige geschäftliche Dinge zu besprechen hatten, eine italienische Mamma hatte einfach etwas vor. »… im Kosmetiksalon«, ergänzte sie und schämte sich ein bisschen, weil sie glaubte, dass Violetta noch nie ein Ladenlokal von innen gesehen hatte, in dem etwas so Banales wie Kosmetik betrieben wurde. Sie selbst ja bisher auch noch nicht. Sie war aber immerhin dabei gewesen, als die Tochter von Signora Mariani neben dem Friseurladen ihrer Mutter einen Salone di bellezza eröffnete, einen Schönheitssalon, der allerdings nur aus einem Raum bestand, in dem es eine bequeme Liege und viele frische Handtücher gab. Die Tuben, Töpfchen und Tiegel auf dem Regal daneben hatten sehr eindrucksvoll ausgesehen, und es hatte wunderbar geduftet. Die Frau des Bürgermeisters hatte gleich einen Besuch bei der Signorina abgemacht und war danach voll des Lobes gewesen. Angeblich hatte ihr Mann ihr an diesem Abend ein Kompliment gemacht, das derart außergewöhnlich gewesen war, dass sie es unmöglich vor den Ohren aller anderen Frauen wiederholen konnte. Seitdem wurde viel über dieses Kompliment gerätselt und durchaus von der einen oder anderen erwogen, den eigenen Mann herauszufordern, indem man selbst sich zu einer solchen Behandlung entschloss. Letztlich aber hatte bei jeder die Sparsamkeit gesiegt. Die Signorina hatte ihren Schönheitssalon bald wieder schließen müssen und war nach Città di Castello gezogen, wo es viele Frauen gab, die an der Vervollkommnung ihrer Schönheit interessiert waren.

Violetta war entgeistert. »Cosmetici?« Tropea, der Ort, in dem sie wohnte, wurde von vielen Touristen besucht und hatte daher auch alles zu bieten, was mit Kosmetik zusammenhing, aber dass ihre Cousine sich eine Schönheitsbehandlung gönnte, konnte sie kaum glauben. »Dove?«

»Auf der Hauptstraße, nicht weit von hier. Bei Merret Halliger. Sie hat mir die Behandlung quasi aufgedrängt. Ein Einführungsangebot …« Mamma Carlotta schob Violetta beiseite und lief vor ihr die Treppe hinab. »Ich muss mich beeilen.«

Violetta lief ihr hinterher. »Ich komme mit. Das möchte ich auch haben.«

Mamma Carlotta drehte sich an der Haustür um. »Das ist sehr teuer.«

»Ich frage mein Dickerchen.«

»No, Violetta. Da kann man nicht einfach hingehen. Da braucht man einen Termin.«

»Un appuntamento? Impossibile. Aspetta …«

»Nein, ich kann nicht warten. Und das mit den Terminen kannst du mir glauben.«

Mamma Carlotta riss ihre Jacke vom Bügel, gleichzeitig die Haustür auf und warf sie schon hinter sich zu, als sie die Jacke noch nicht angezogen hatte. Das erledigte sie auf dem Weg zur Westerlandstraße und ärgerte sich dann, dass sie keinen Schal und keine Handschuhe dabeihatte. Nur gut, dass der Weg nicht weit war. Und Violetta hatte garantiert nicht verstanden, wo der Kosmetiksalon war, den ihre Cousine besuchen wollte, und wie die Besitzerin hieß.

Schwer atmend blieb sie kurz darauf vor dem Schaufenster stehen, um erst mal zu Luft zu kommen und nicht außer Atem bei Merret Halliger zu erscheinen. Im selben Moment vergaß sie Violetta und starrte ins Schaufenster. Die große Treibholzskulptur in der Mitte der Dekorationen! Sie war zurück! Und wieder hatte Merret daran die Kosmetikartikel mit den hübschen grünen Schleifen befestigt. Wo mochte das Treibholz gestern gewesen sein? Mamma Carlotta merkte, dass sie wieder bei Atem war. Es würde also einiges geben, über das man mit der Kosmetikerin plaudern konnte.