Die Sache mit der Entspannung klappte nach wie vor überhaupt nicht. Im Gegenteil. Mamma Carlotta war voller Anspannung, lauschte auf die Stille in ihrer Nähe und auf die Geräusche, die von der Straße kamen, Stille viel zu nah und Geräusche viel zu weit entfernt. Die Maske auf ihrem Gesicht wurde immer härter. Sie tastete danach und spürte etwas, was sich anfühlte wie der bröckelnde Putz an dem Gartenhaus in Panidomino, das ihr Sohn schon so lange neu streichen wollte. So was sollte schöner machen, ihre Haut feiner, ihre Ausstrahlung jugendlicher? Wie hatte sie nur darauf reinfallen können? Und dieses Peel-off? Was das bedeutete, konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Ärgerlich, diese englischen Vokabeln für Dinge, die scheinbar niemand so richtig verstehen sollte. Besonders ärgerlich, dass sie nicht gewagt hatte einzugestehen, dass ihr der Sinn dieser Begriffe völlig unklar war.
Wieder versuchte sie es mit Entspannung, schreckte aber schon bald erneut auf. Da war eine Bewegung gewesen, ein Geräusch. Sie setzte sich auf, ohne Rücksicht auf ihre Peel-off-Maske. Die Türklinke bewegte sich. Nicht die der Tür, die Merret Halliger verschlossen hatte, sondern die andere, von der sie nicht wusste, wohin sie führte. Nach draußen? So war es ihr vorgekommen, als sie den kühlen Luftstrom verspürt hatte, der unter der Tür in den Raum drang. Oder in einen ungeheizten Raum?
Nun rief jemand ihren Namen. »Carlotta! Apri!«
Sie sollte die Tür öffnen? Tatsächlich steckte im Schloss dieser Tür ein Schlüssel. Innen! Aber warum sollte sie öffnen? Merret Halliger hatte die andere nicht umsonst verschlossen. Sie wollte sich entspannen und sich nicht von ihrer Cousine die Ruhe nehmen lassen. Also war es besser, nicht auf Violettas Stimme zu achten. Sie war leise, aber so eindringlich, dass sie dennoch zu verstehen war. Es sei gefährlich für Carlotta, hierzubleiben, zischte sie ganz nah am Schlüsselloch, sie müsse raus aus diesem Schönheitssalon. Die Kosmetikerin sei bereits geflüchtet. Vermutlich hätte sie ein Feuer gelegt oder eine Bombe irgendwo versteckt. In Kürze würde das Studio in Flammen aufgehen, das ganze Geschäftsgebäude würde in die Luft fliegen …
Mamma Carlotta hatte noch nie den Horrorgeschichten geglaubt, die Violetta am Fließband produzierte, wenn ihr gerade danach war. Schon als Kind hatte sie, wenn die Fantasie mal wieder mit ihr durchging, behauptet, der nächste Bauer sei soeben von einer wild gewordenen Kuh niedergetrampelt und der Briefträger von einem Landstreicher überfallen worden und läge tot im Straßengraben. Aber in diesem Fall war es anders. Merret Halliger hatte Dreck am Stecken, so viel stand fest. Ihre Treibholzskulptur war gestern verschwunden gewesen, und sie log, wenn sie etwas anderes behauptete. Noch dazu hatte sie vor ein paar Minuten erfahren, dass die Schwiegermutter des leitenden Ermittlers sich in ihre Hände begeben hatte, eine Frau, die ihr Geheimnis durchschaut hatte. War es nicht tatsächlich möglich, dass sie versuchte, diese Frau ein für alle Mal loszuwerden?
Für Mamma Carlotta gab es nun kein Halten mehr. Sie sprang von der Liege, fühlte, wie weiße Krümel von ihrem Gesicht fielen, stand nach zwei, drei Schritten schon an der Tür und schloss sie auf. Violetta fiel beinahe in den Raum, mit solcher Wucht hatte sie sich gerade in diesem Moment gegen die Tür geworfen, scheinbar mit dem Vorsatz, sie aufzubrechen, wenn Carlotta nicht auf der Stelle den Schlüssel umdrehte.
»Avanti!«, schrie sie und drängte Mamma Carlotta ins Freie. »Subito!«
Die Novemberkälte prallte ihnen entgegen, so gewaltig, dass sie im ersten Augenblick kaum von großer Hitze zu unterscheiden war. Carlotta zog das Handtuch, das sie noch um die Schultern trug, vor der Brust zusammen und folgte Violetta ums Haus herum zur Straße. Dort trat ein Autofahrer erschrocken auf die Bremse, als er sie sah, der Fahrer des nachfolgenden Wagens, der hinter ihm auf den Parkplatz fuhr, wollte dasselbe tun, war aber leider nicht so reaktionsschnell und prallte dem ersten Fahrzeug auf die Stoßstange.
»Madonna!«, flüsterte Mamma Carlotta, von dem schrecklichen Verdacht gelähmt, dass sie schuld an diesem Unfall war. Sie hatte ja bemerkt, wie erschrocken der Fahrer gewesen war, als er ihr weiß getünchtes Gesicht gesehen hatte. Violetta dagegen lief auf den nächsten Pkw zu, der genug Abstand gehalten hatte, um zum Stehen zu kommen, dessen Fahrer aber hastig sämtliche Türen seines Wagen verriegelte und nur angstvoll die beiden Frauen anstarrte, Violetta mit ihren in alle Richtungen abstehenden krausen Locken und Mamma Carlotta mit dem kalkweiß angestrichenen Gesicht. Seine Begleiterin war nicht minder erschrocken, aber noch handlungsfähig. Sie riss geistesgegenwärtig ihr Handy aus der Tasche und hielt es hoch, um ein Foto zu machen.