Dr. Hillmot begrüßte seine Violetta mit viel Herzlichkeit, langatmiger Küsserei, ausgiebiger Tätschelei und der Behauptung, sie sei noch genauso schön wie vorher, auch ohne kosmetische Behandlung. Während Violetta ihrem Liebsten erzählte, warum es dazu nicht gekommen war, dass sie nicht nur einen Termin nötig gehabt hätte, sondern auch ihre Cousine aus Lebensgefahr retten musste, stieg Mamma Carlotta die Treppe hoch, um den Blick in einen Spiegel zu wagen.
Kurz vor der Badezimmertür öffnete sich leise und vorsichtig Carolins Tür. Sie machte einen langen Hals und versuchte zu erkennen, was sich im Erdgeschoss tat, dann bemerkte sie ihre Großmutter. »Nonna! Wie siehst du denn aus?«
Dieser Satz lockte auch Felix aus seinem Zimmer, der sich bis zu diesem Augenblick wohl ebenfalls verbarrikadiert hatte, um nicht mit einem Wunsch von Dr. Hillmot konfrontiert zu werden, der während Violettas Abwesenheit sich selbst überlassen gewesen war. Beide schienen enttäuscht zu sein, dass es mit der Ruhe im Haus schon wieder vorbei war, denn Violettas Organ dröhnte durch sämtliche Etagen. Beide waren aber auch entsetzt, als sie ihrer Nonna ins schneeweiße, krümelnde Antlitz sahen.
»Was ist mit dir passiert?«
Mamma Carlotta schob die Kinder beiseite, ging ins Bad und ließ die Tür offen stehen. Dann drehte sie den Wasserhahn auf und klatschte sich so lange mit beiden Händen das Wasser ins Gesicht, bis ihre Haut wieder Mimik zuließ und sie nicht mehr befürchten musste, dass durch Gefühlsregungen jedweder Art der Zellerneuerungsprozess von ihrem Gesicht abplatzte.
Carolin begriff als Erste. »Das war eine Peel-off-Maske. Die hättest du nur abzuziehen brauchen.«
»Meinst du, so wirkt sie nicht?« Mamma Carlotta sah erschrocken in den Spiegel und dachte an das viele Geld, das sie für die Behandlung bei Merret Halliger bezahlt hatte. Nein, hätte bezahlen müssen! Madonna! Violetta hatte sie zur Zechprellerei verführt. Was, wenn Merret Halliger glaubte, sie sei verschwunden, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnte oder wollte? »Dio mio! Ich bin gar nicht zum Bezahlen gekommen! Was macht das für einen Eindruck! Der Ruf eures Vaters …!«
Die Kinder standen kopfschüttelnd in der Tür des Badezimmers, während Dr. Hillmot im Erdgeschoss eine Geschichte erzählt bekam, in der ein Schönheitssalon in Flammen aufging.
Felix sah seine Oma entgeistert an. »Du hast dich im allerletzten Moment in Sicherheit gebracht? Und dann redest du vom Bezahlen?«
»Nonsenso!« Mamma Carlotta lockte die Kinder ins Bad und schloss die Tür. Die beiden hockten sich auf den Badewannenrand, Mamma Carlotta ließ den Toilettendeckel herunter und nahm dort Platz. So schnell wie möglich und so ausführlich wie nötig erzählte sie den beiden, was geschehen war. Von dem Treibholz, das verschwunden und wieder aufgetaucht war, von Merret Halligers Lüge und Violettas Behauptung, die Kosmetikerin habe sie eingeschlossen und sei dann geflüchtet, um selbst nicht mitzuerleben, wie ihr Schönheitssalon in Flammen aufging. »Es stimmt, dass sie mich eingeschlossen hat«, erklärte sie zum Schluss. »Ich dachte aber, es ginge ihr darum, mich vor Violetta zu schützen. Die wollte ja unbedingt dabei sein, während ich behandelt wurde. Aber wie soll man sich entspannen, wenn Violetta im Raum ist?«
»Völlig unmöglich«, konstatierte Felix. »Mit Violetta im Raum bekommt man Mordgedanken.«
»Aber warum ist Merret Halliger dann abgehauen?«, fragte Mamma Carlotta. »Sie schließt mich ein und lässt mich dann allein?«
Das fanden Carolin und Felix auch sehr merkwürdig und dachten über alle Eventualitäten nach, während Mamma Carlotta ihre Geschichte zu Ende erzählte. Ein netter Autofahrer hatte nicht lange gefragt, hatte gesehen, dass sie Hilfe brauchte, hatte sie einsteigen lassen, ihr eine Decke zur Verfügung stellt, die sie sich umhängen konnte, und sie in den Süder Wung gefahren. »Er hat die Polizei verständigt, weil er Violetta geglaubt hat, dass eine Katastrophe bevorstand.«
Carolin war beruhigt. »Dann brauchen wir Papa nicht mehr anzurufen. Der weiß vermutlich längst Bescheid.« Ihr Blick wurde nachdenklich. »Meinst du, dass das was mit Sandra Lührsen zu tun hat?«
Mamma Carlotta hatte den bösen Verdacht, dass es ihrer Enkelin bei der Beantwortung dieser Frage vor allem um die Reportage ging, die mit der Anreicherung durch eine Katastrophe natürlich noch brisanter wurde. »Vielleicht hat sie Sandra Lührsen umgebracht«, flüsterte sie. »Mit dem Treibholz aus ihrem Schaufenster.«