Erik sah Merret Halliger an, als wäre er sehr enttäuscht von ihr. Er hatte darauf bestanden, dass das Gespräch, das er insgeheim Verhör nannte, im Polizeirevier stattfand. Ihr Mann hatte geschwiegen, als Merret Halliger ihre Handtasche holte und zu Erik und Sören ins Auto stieg. »Rufst du bitte die Kunden an, die heute noch Termine haben?«
Adrian Halliger hatte nur genickt und die Eingangstür geschlossen. Dort hatte Erik ihn stehen sehen, während er losfuhr, Sören auf dem Beifahrersitz, Merret Halliger hinter ihm, mit verriegelten Türen, damit sie nicht an einer Ampel auf die Idee kam zu fliehen.
Nun saß sie vor seinem Schreibtisch und ließ sich noch einmal fragen, wo das Treibholz am Tag zuvor geblieben war, das vorher und auch nachher ihr Schaufenster geziert hatte. Aber sie blieb bei ihrer Antwort: »Ihre Schwiegermutter irrt sich. Wie alt ist die Dame? Schon über sechzig, oder? Da nimmt das Urteilsvermögen bei manchen Menschen bereits ab. Ich sage Ihnen, dass die Treibholzskulptur seit ungefähr drei Wochen in meinem Schaufenster steht. Ununterbrochen.«
»Und warum kommt ausgerechnet heute Ihr Mann auf die Idee, an der Dekoration etwas zu ändern?«
»Weil ich ihn darum gebeten habe. Ich war nicht ganz zufrieden mit den Proportionen. Schon seit mindestens zwei Wochen sage ich zu ihm: Kannst du dir das nicht mal angucken? Heute hat er endlich daran gedacht. Mein Mann hat ein Händchen für so was. Architekten sind ja häufig Ästheten und sehr auf Formen fixiert. Ich war sicher, dass die Dekoration eine ganze andere Wirkung haben wird, wenn Adrian die Sache in die Hand nimmt.«
Erik beugte sich vor und sah sie eindringlich an. »Frau Halliger, es braucht ein paar Stunden, bis die KTU die Spuren genommen und ausgewertet hat. Spätestens dann wissen wir, ob Sandra Lührsen mit dem Treibholz erschlagen wurde, das in Ihrem Schaufenster stand. Die Gerichtsmedizinerin hat bereits ausgesagt, dass sie weiches, gebrochenes Holz in der Kopfwunde gefunden hat. So wie Treibholz! Es ist also sinnlos, alles abzustreiten. In ein paar Stunden werden wir ohnehin die Wahrheit kennen.« Er räusperte sich und ergänzte: »Und ich weiß, dass das Urteilsvermögen meiner Schwiegermutter sehr gut ist. Wenn sie sagt, das Treibholz war gestern nicht in Ihrem Schaufenster, dann glaube ich das.«
»Ich nenne das anders«, entgegnete Merret Halliger kühl. »Aussage steht gegen Aussage.«
»Ein raffinierter Plan übrigens.« Erik tat so, als zollte er ihr tatsächlich Anerkennung. »Die Tatwaffe ist ja immens wichtig bei der Aufklärung eines Mordfalls. Häufig bleibt sie unauffindbar. Oft wird sie vom Täter auch nachlässig weggeworfen, und wir entdecken sie. Manchmal nur zufällig. Aber wenn wir sie haben, dann haben wir auch viele Spuren, mit denen wir den Täter meist überführen können. In Ihrem Fall hätten wir die Tatwaffe vermutlich nicht gefunden, weil wir sie in Ihrem Schaufenster natürlich niemals gesucht hätten.«
Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Tatsächlich wirkte sie jetzt so sicher und unangreifbar, dass Erik unsicher wurde. Setzte er wirklich aufs falsche Pferd? Hatte seine Schwiegermutter sich getäuscht? Würde Vetterich gleich zu ihm kommen und ihm sagen, dass Sandra Lührsen mit diesem Treibholz nicht erschlagen worden war?
Er begann noch einmal von vorne. »Sie haben Sandra Lührsen gehasst.« Er sah sie fragend an, aber sie reagierte nicht. »Sie waren enttäuscht, dass sie freigekommen war und Sie sich nun wieder Sorgen um Ihre Ehe machen mussten.«
Noch immer starrte sie an seinem rechten Ohr vorbei an die Wand. Sie schien sich nicht für das zu interessieren, was er sagte.
»Wie hat Sandra Lührsen darauf reagiert, dass Sie ›Hure‹ an ihr Haus gesprayt haben? Sicherlich wusste sie, dass Sie dahinterstecken.«
Er rechnete damit, dass Merret Halliger es abstritt, aber sie ließ den Vorwurf im Raum stehen, ohne sich zu äußern.
»Waren Sie in ihrem Haus, als Sandra Lührsen den ersten Malkurs gab? Haben Sie sich eingeschlichen?« Er betrachtete ihre Figur. Sie war nicht schlank, hatte zwar einen relativ schmalen Oberkörper, schien untenrum aber breit gebaut zu sein. Also hatte sie vermutlich auch einen dicken Hintern?
»Natürlich war ich nicht bei ihr«, antwortete sie.
»Aber Ihr Mann wurde hinter dem Grundstück gesehen«, sagte Erik.
Sie zuckte mit den Schultern. »Mag sein.«
»Die Steine und die Brandfackeln – das waren Sie nicht?«
»Nein.«
»Wie sieht es mit Ihrem Alibi aus?«, fragte Erik, bekam aber keine Antwort mehr, denn sein Handy klingelte. Die Nummer des Anrufers erschien im Display, er kannte sie nicht.
Als er abnahm, prallte die Stimme seiner Schwiegermutter an sein Ohr. »Du musst sofort kommen, Enrico! Ich bin hinter dem Kosmetikstudio, zusammen mit … mit dem Mörder.«
»Was?« Mehr brachte Erik nicht heraus.
»Er hat es mir gerade gestanden«, sprudelte Mamma Carlotta heraus. »Er hat Witta und Sandra Lührsen umgebracht. Er will alles gestehen, weil ich nämlich … Ach, das erzähle ich dir, wenn du hier bist. Avanti! Subito!«
Damit war das Gespräch unterbrochen, auf der anderen Seite war aufgelegt worden. Erik starrte sein Handy an, als wüsste er nicht genau, ob er alles richtig verstanden hatte.