Carlotta Capella war müde, schrecklich müde. Nicht nur, dass sie am Vorabend spät zu Bett gegangen war, sie hatte auch sehr schlecht geschlafen. So was passierte ihr selten. Bisher hatte sie sich immer darauf verlassen können, dass ihr Schlaf erholsam war, selbst dann, wenn er nicht lange gedauert hatte. Das war an diesem Tag anders. Sie fühlte sich wie gerädert, war häufig aufgewacht und hatte dann Schwierigkeiten gehabt, wieder einzuschlafen. Manchmal waren von unten undefinierbare Geräusche in die erste Etage gedrungen, gelegentlich hatte sie etwas aus Carolins Zimmer gehört, dann wieder war es der Wind gewesen, der an den Rollläden gerüttelt hatte. Eine laute, unruhige Nacht.
Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinunter. Nur gut, dass Violetta und Dr. Hillmot immer sehr lange schliefen und sich nicht blicken ließen, bevor Heike Schrunz kam, um bei der Morgentoilette zu helfen. Sie würde eine Stunde für sich haben, in Ruhe einen Espresso trinken können und über das nachdenken, was sie am Abend zu hören bekommen hatte. Vielleicht war auch noch Zeit, später mit Erik und Sören darüber zu sprechen, wenn sie beim Frühstück saßen.
Die beiden waren erschöpft heimgekommen. Eigentlich wäre es wichtig gewesen, sie mit einem opulenten Abendessen zu verwöhnen, ihnen während der Antipasti zu zeigen, dass es schön war, nach einem anstrengenden Arbeitstag heimzukommen, beim Primo über das zu reden, was der Tag an Rätseln hinterlassen hatte, beim Secondo klarerzusehen und beim Löffeln des Dolce zu vergessen, was tagsüber nicht gelungen war. Der Espresso diente dann dazu, Optimismus auf den nächsten Tag zu wecken, und Rotwein sorgte für die nötige Bettschwere und schnelles Einschlafen. So musste ein Abend aussehen! Aber leider war das mit dem liebevoll zubereiteten und üppigen Abendessen nichts geworden. Wie auch? Mamma Carlotta hatte weiß Gott genug anderes zu tun gehabt, es war keine Zeit zum Einkaufen und Kochen gewesen. Der schreckliche Tag hatte mit dem Auffinden von Sandra Lührsens Leiche begonnen. Terribile! So was machte jeden Menschen fertig. Dann die Sorge um Carolin und ihre Beziehung zu Maximilian. Würde sie sich noch an ihr Versprechen gebunden fühlen, jetzt, wo ihre Nonna ihr eigenes nicht mehr halten konnte? Dann die aufregende Stunde im Schönheitssalon, Violettas Überfall und ihre gemeinsame Flucht. Und schließlich ihr Beitrag, der dazu geführt hatte, den Täter zu erwischen. Erik hatte sie am Abend sogar ausdrücklich gelobt, das hatte er noch nie getan. Wenn sie nicht zufällig in Käptens Kajüte erfahren hätte, dass Merret Halliger versucht hatte, mit einer anderen Treibholzskulptur die eine zu ersetzen, die die verräterischen Spuren trug, hätte Adrian Halliger nicht so schnell überführt werden können. Nun würde es nicht mehr lange dauern, und das Treibholz, das sie in der Mülltonne des Kosmetikstudios gefunden hatte, würde als Mordwaffe identifiziert werden. Kommissar Vetterich hatte versprochen, sich zu beeilen, um alle Spuren zu sichern.
Eigentlich also ein erfolgreicher Tag, wenn er auch mit ein paar zusammengesuchten Antipasti, aufgewärmtem Carbonara-Kartoffel-Auflauf und übrig gebliebenen Spaghetti geendet hatte, die Mamma Carlotta zusammen mit Knoblauchzehen in heißes Olivenöl geworfen, mit Petersilie überstreut und als Spaghetti aglio e olio serviert hatte. Ein Resteessen, das ihren eigenen Ansprüchen überhaupt nicht standhielt. Aber immerhin hatten Erik und Sören beide Mordfälle aufgeklärt. Also insgesamt dennoch ein erfolgreicher Abend.
Wenn da nur nicht die Sorge um Carolin gewesen wäre. Und dazu die Tatsache, dass sie selbst ihre kosmetische Behandlung noch immer nicht bezahlt hatte. Ein Ding der Unmöglichkeit! Die Capellas hatten noch nie Schulden gemacht. Dino hatte immer gesagt: Wir leisten uns nur das, was wir bezahlen können. Zwar hatte sie leider das Geld, das ihr versprochen worden war, nicht erhalten, aber was konnte Merret Halliger dafür? Auch dass sie weggelaufen war, ehe die Prozedur beendet werden konnte, war nicht deren Schuld. Nein, da wollte sie sich nichts nachsagen lassen. Schließlich war ihr Schwiegersohn der Kriminalhauptkommissar von Sylt, er hatte einen Ruf zu verlieren! Merret Halliger würde selbstverständlich ihr Geld bekommen, das sie sicherlich jetzt, wo ihr Mann verhaftet worden war, besonders gut gebrauchen konnte. Gleich, wenn der Salon öffnete, würde Mamma Carlotta bei ihr erscheinen und das Geld auf die Theke blättern. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, in welcher Verfassung Merret Halliger war. Vielleicht hatte sie den Salon auch dichtgemacht, um sich nicht neugierigen Fragen stellen zu müssen?
Mamma Carlotta holte einen Zwieback, kochte sich einen doppelten Espresso und ließ sich seufzend am Tisch nieder. Sie wollte jeden Augenblick der Stille genießen, bevor es nebenan im Wohnzimmer unruhig wurde, musste nur aufpassen, dass sie nicht im Sitzen einschlief. Nein, sie wollte sich unbedingt noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was Erik gestern Abend nach seiner Rückkehr berichtet hatte. Es war schrecklich gewesen zu hören, wie Adrian Halliger die Schwiegermutter von Sandra Lührsen niedergeschlagen hatte. Noch schrecklicher war es gewesen, sich anhören zu müssen, dass Adrian Halliger geglaubt hatte, sein Leben, seine Ehe, seine Liebe zu seiner Frau retten zu können, indem er sich der sexuellen Verführung entledigte. Sandra musste weg, so hatte er gesagt. Sie hatte nicht einsehen wollen, dass sie nur ein belangloser Flirt für ihn gewesen war, dass er seine Ehefrau liebte, wenn er sie auch regelmäßig mit anderen Frauen betrog. Vor allem hatte sie nicht einsehen wollen, dass sie fünf Jahre ihres Lebens geopfert hatte, ohne jetzt den Lohn dafür zu kassieren.
»Er hatte einmal gemordet«, hatte Erik gesagt, »und war ungestraft davongekommen. Scheinbar glaubte er, dass ihm das noch einmal gelingen könnte.«
Und Sören hatte nachdenklich ergänzt: »Es ist verrückt, aber er scheint seine Frau wirklich zu lieben. Obwohl er sie ständig betrogen hat. Dombrowsky hatte recht: Adrian Halliger kann offenbar nicht anders. Er hat sehr darunter gelitten, dass er seiner Frau nicht bieten konnte, was sie seiner Meinung nach verdiente, dass das Geld immer knapp war, dass sie viel arbeiten musste, damit ihr Lebensstil nicht den Bach runterging, und es sogar irgendwie geschafft hatte, den Salon in Wenningstedt auf Vordermann zu bringen, während er selbst nicht viel zum Haushaltseinkommen beitragen konnte.«
Dr. Hillmot hatte genickt, als hätte er Verständnis für Adrian Halliger. »Das muss seinem Selbstbewusstsein stark zugesetzt haben. Vermutlich hat er sich deshalb seine Erfolgserlebnisse bei anderen Frauen geholt.«
Daraufhin war Stille eingekehrt, sogar Violetta hatte versucht, sich in Adrian Halligers Schicksal hineinzudenken, ohne zu reden.
Schließlich hatte Erik gesagt: »Ein durch und durch erfolgloser Mann, wenn man von seinem Erfolg bei Frauen absieht. Er hat eine Frau umgebracht, um an Geld zu kommen, aber nicht mal das ist ihm gelungen. Anschließend war er noch genauso mittellos wie vorher. Er hat damit leben müssen, dass die Frau, der er Liebe vorgegaukelt hatte, für diesen Mord bezahlte, und hat auch sie umgebracht, weil er ihre Forderungen nicht erfüllen konnte und wollte. Was für ein verpfuschtes Leben!«
Heute, in wenigen Stunden, würde Adrian Halliger sein Geständnis unterschreiben, Vetterich würde den Beweis dafür vorlegen, dass Sandra Lührsen mit dem Treibholz erschlagen worden war, das Mamma Carlotta aus der Mülltonne geholt hatte. Ein Treibholz, das noch mit einigen Strasssteinen besetzt war, die Sandras Haut aufgerissen hatten. Mamma Carlotta fiel ein, dass auch Witta Lührsen eine solche winzige Verletzung gehabt hatte. Merkwürdig, Adrian Halliger hatte doch ausgesagt, er habe nach einem schweren Kerzenleuchter gegriffen und damit zugeschlagen …
Auch aus dem Frühstück, wie es in diesem Hause aufgetischt wurde, wenn Mamma Carlotta zu Besuch war, wurde an diesem Morgen nichts. Erik begnügte sich mit einem starken Kaffee und erklärte, er habe mit Sören verabredet, im Büro zu frühstücken. Sören wolle belegte Brötchen beim Bäcker in der Nähe des Rathauses besorgen.
Mamma Carlotta seufzte schwer. Violetta und Dr. Hillmot hatten alles durcheinandergebracht. Erst dieses missglückte Abendessen und nun ein fehlendes Frühstück, weil sich niemand wohlfühlte, wenn Heike Schrunz jeden Augenblick zu erwarten war und Violettas Sprachorgan erwachte. Carolin hatte sich auch schon von der ersten Mahlzeit des Tages abgemeldet, die würde sich beizeiten einen Kaffee ins Zimmer holen und sich ganz auf die Reportage konzentrieren, auf die Menno Koopmann schon sehnsüchtig wartete. Mit Felix war ohnehin nicht zu rechnen. Er würde schlafen, so lange es ging, und sich den Rest des Tages unauffällig verhalten, damit Violetta nicht auf ihn aufmerksam wurde.
Als Heike Schrunz klingelte, ließ Mamma Carlotta die Pflegerin herein, schob sie Richtung Wohnzimmertür und machte deutlich, dass mit ihr an diesem Tag nicht zu rechnen war. Sie wollte auch keine Ohrenzeugin werden, wenn Heike Schrunz Dr. Hillmot aus dem Schlaf holte, und nicht dafür zuständig sein, Violetta die Zeit zu vertreiben, bis ihr Dickerchen vorzeigbar war. Nein, sie wollte weg. Aber natürlich erst, nachdem sie ihre Enkelin daran erinnert hatte, wie schön es war, im Elternhaus zu leben. Während Heike Schrunz ihren Kommandoton anstellte und im Wohnzimmer für Violettas Protestgeschrei sorgte, trug Carlotta ein Frühstückstablett in Carolins Zimmer. Sie saß schon an ihrem Laptop und arbeitete so angespannt, dass sie ihre Großmutter nur am Rande wahrnahm. »Danke, Nonna. Wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte sie, ohne aufzublicken. Auf Mamma Carlottas Erklärung, sie wolle zu Merret Halliger gehen, um ihre Schulden zu bezahlen, antwortete sie nicht. Sie schien es gar nicht registriert zu haben.
Während Mamma Carlotta sich im Flur die Jacke überzog, hörte sie, wie im Wohnzimmer die Rollläden hochgingen und die Pflegerin mit strenger Stimme verlangte, dass der Doktor sich aus dem Bett bewegte und seine Verlobte das Zimmer verließ. Schnell griff Mamma Carlotta nach einem Schal und den Handschuhen und drückte sich geräuschlos aus der Tür. Erst auf der Straße zog sie die Handschuhe an und wickelte sich den Schal um den Hals.
Während sie die Westerlandstraße entlangging, litt sie unter dem Gefühl, dass dieser Tag ein schicksalhafter sein würde. Wenn Carolin mit der Reportage fertig war und sie wirklich Koopmann fürs Inselblatt geben wollte, würde die Entscheidung fallen. Sylt oder Hamburg! Es war wirklich höchst ärgerlich, dass Mamma Carlotta nicht mehr auf die Einhaltung des Versprechens pochen konnte, das Carolin nur gegeben hatte, wenn sie ihrerseits ein Versprechen hielt. So erleichtert Mamma Carlotta war, dass ihre Aufgabe als Aktmodell unerledigt bleiben würde, so sehr bedauerte sie andererseits, dass sie Carolin dadurch nicht mehr in die Pflicht nehmen konnte. Wie würde sie sich entscheiden?
Es war kurz nach zehn, als sie vor dem Kosmetikstudio ankam, aber die Tür war noch verschlossen. Im Schaufenster gab es ein Schild mit den Ladenöffnungszeiten, danach hätte Merret Halliger um zehn die Tür aufschließen müssen. Andererseits erinnerte sich Mamma Carlotta mit einem Mal daran, dass sie ihren Mann aufgefordert hatte, alle Termine abzusagen, als sie Erik hatte folgen müssen. Dann war es möglich, dass der Schönheitssalon geschlossen blieb. Oder hatte Merret Halliger ihre Kundinnen erneut angerufen, um ihnen zu erklären, dass ihre Verhaftung ein Irrtum gewesen war? Dass nicht sie, sondern ihr Mann zwei Frauen ermordet hatte? »Dio mio, no!« Wer war schon bereit, ein solches Telefonat zu führen!
Mamma Carlotta wartete ein paar Minuten, dann beschloss sie, zu Budnikowsky zu gehen und Spülmittel und Scheuerschwämme einzukaufen. Als sie zurückkehrte, fiel ihr der dunkelgrüne Mini auf. Merrets Auto, das zehn Minuten vorher noch nicht neben dem Kosmetikstudio gestanden hatte. Mamma Carlotta atmete auf. Jetzt bekam sie endlich die Gelegenheit, wie ein ehrlicher Mensch für das zu bezahlen, was sie bekommen hatte. Während sie auf das Auto zuging, überlegte sie, ob sie Merret Halliger darauf hinweisen könnte, dass sie einen Teil der Behandlung gar nicht erhalten hatte. Wenn es auch ihre eigene Schuld gewesen war, würde die Kosmetikerin vielleicht trotzdem bereit sein, ihr einen Teil des Betrags zu erlassen? Andererseits war sie durch Carlotta und ihre Cousine in erhebliche Schwierigkeiten geraten und würde sich womöglich nicht gern konziliant zeigen. In diesem Fall würde Carlotta die Gelegenheit bekommen, sich zu entschuldigen. Auch das würde ihr guttun. Sie hatte doch immer Wert darauf gelegt, sich anständig und fair zu verhalten.