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Erik betrachtete das belegte Brötchen eingehend, bevor er hineinbiss. Er hatte es geahnt, es schmeckte nicht besonders gut. Der Käse war fade, die Brötchenhälften aufgeweicht, die Tomatenscheibe und die Salatblätter dazwischen sahen zwar gut aus, halfen aber dem Geschmack nicht weiter.

Sören ging es ähnlich. »Wann werden wir wieder bei deiner Schwiegermutter frühstücken können?«

Erik stöhnte. »Ich glaube, Violettas Rückflug geht erst in zwei Wochen.«

Beide verstummten, besahen sich ihre Brötchen wie ein Delinquent seine Henkersmahlzeit und führten ihre Kaffeebecher nur widerwillig zum Mund. Der Kaffee war genauso fade wie die Brötchen.

»Ich bin gespannt«, sagte Erik, »wie Carolin sich entscheidet.«

Sören versuchte, ihm Mut zu machen. »Ich glaube, sie wird bleiben.«

Erik allerdings bezweifelte es. »Besonders gemütlich ist es bei uns zurzeit nicht.«

»Trotzdem.«

»Das werde ich Violetta nie verzeihen, dass sie mir Carolin vergrault.« Nach einer langen Zeit des Schweigens sagte Erik: »Ich kann nicht vergessen, wie Adrian Halliger gestern geweint hat. Irgendwie … ist mir das trotz allem nahegegangen. Er ist ein Mörder und tut mir dennoch leid.«

Sören ging es ähnlich. »Es gibt wohl viele Männer, die sich über ihre beruflichen Erfolge und ihr Einkommen identifizieren. Er hat sich wie ein Versager gefühlt, weil er nicht so viel verdiente, wie er gehofft hatte, als er sich selbstständig machte. Mir kam er während seines Geständnisses auch vor wie eine tragische Figur. Und dass er immer wieder nach seiner Frau gefragt hat …«

»Er hat gesagt, er sei sicher, dass sie heute zu ihm kommen würde.«

Wieder trat eine lange Zeit der Stille ein, dann standen sie auf und beschlossen, das Geständnis, das Adrian Halliger am Tag zuvor abgelegt hatte, an diesem Tag zu vertiefen. »Ich will Einzelheiten wissen«, sagte Erik. »Ich will diesen Mann verstehen.«

Adrian Halliger war in den Verhörraum geführt worden, saß auf einem Stuhl, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien verschränkt. Er trug dasselbe Hemd und dieselbe Jeans wie am Vortag, sah aber dennoch gut gekleidet aus. Als er aufblickte, war zu erkennen, dass er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Seine Augen waren rot gerändert, sein Blick war trübe. »Ist meine Frau gekommen?«

Erik schüttelte den Kopf. »Sie hat sich noch nicht gemeldet.«

»Sie hat nicht angerufen? Gestern? Nach meiner Verhaftung?«

Erik erwiderte nichts, setzte sich ihm gegenüber und wartete, bis Sören an seiner Seite Platz genommen hatte. »Heute geht es um Einzelheiten, Herr Halliger. Bitte schildern Sie mir noch einmal den Mord an Witta Lührsen.«

Adrian seufzte, fing aber bereitwillig noch einmal an. Dass er in Wittas Haus eingebrochen sei, was überraschend einfach gewesen war. »Ein Fenster war gekippt, das war kein Problem.« Denn berichtete er, dass er ins Schlafzimmer gegangen sei und sich dort die Schränke vorgenommen habe. »Witta hat ja kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Geld im Haus aufbewahrte. Und Geld wird meistens zwischen der Wäsche versteckt.« Dann aber habe sie mit einem Mal in der Tür gestanden. »Sie hat mir gedroht, die Polizei zu rufen. Da habe ich rotgesehen.«

»Und Sie haben sich den Kerzenleuchter gegriffen«, ergänzte Erik.

Adrian Halliger nickte. »Ja.«

»Ein Kerzenleuchter im Schlafzimmer?«, fragte Sören. »Das ist ungewöhnlich. Stand der nicht im Wohnzimmer?«

Halliger begann zu stottern. »Ja, richtig. Also … sie war zurückgegangen ins Wohnzimmer, und ich war ihr gefolgt. Und dann …«

»Wo lag sie, nachdem Sie sie niedergeschlagen hatten?«

»Auf dem Teppich.«

»In der Mitte des Raums? In der Nähe der Tür? Unterhalb des Fensters?«

»In der Mitte, glaube ich. Aber genau kann ich mich nicht erinnern. Ich war natürlich sehr aufgeregt und habe mir die Leiche nicht länger angeschaut.«

»Leiche?«, wiederholte Erik. »Sie wussten sofort, dass Witta Lührsen tot war?«

»Ja, das war klar zu erkennen.«

»Und dann?«

»Dann bin ich abgehauen.«

»Wieder durchs Fenster zurück?«

»Nein, durch die Tür.«

»Und das Fenster? Das ist offen geblieben?«

Adrian Halliger zögerte, dann bejahte er und fragte erneut nach seiner Frau. »Sie wird mich heute besuchen wollen. Sie werden sie doch zu mir lassen?«

Als Erik und Sören in ihr Büro kamen, wartete Kommissar Vetterich dort auf sie. In der Hand hielt er das Treibholz, das lange Zeit das Schaufenster des Kosmetikstudios geziert hatte. »Das andere habe ich weggelegt. Es war so, wie Sie sagten: Da war nichts dran, kein Hautfetzen, kein Haar von Sandra Lührsen.«

Erik zeigte auf das Treibholz, das Vetterich in Händen hielt. »Aber dort?«

Der Leiter der KTU grinste. Er ließ sich auf einem Stuhl nieder und betrachtete das Treibholz, als wäre er an der Kunst von Paul Lührsen interessiert. »Dies ist eindeutig die Mordwaffe, mit der Sandra Lührsen umgebracht wurde. Hautpartikel, Blutreste, feine Knochensplitter, alles da.« Er zeigte auf ein paar Strasssteinchen, mit denen die Skulptur besetzt war. »Der Riss in ihrem Nacken muss von diesem Steinchen gekommen sein.« Er wies auf ein grasgrünes Teil mit feinen Spitzen, das am Ende des Hauptastes steckte.

Erik war wie elektrisiert. »An Witta Lührsens Hals hat es eine ähnliche Verletzung gegeben. Kann es sein, dass sie auf die gleiche Weise entstanden ist?«

»Schon möglich.« Kommissar Vetterich schien zu überlegen, ob er vor fünf Jahren einen Fehler gemacht hatte. »Gab es in dem Haus von Witta Lührsen diese Skulpturen?«

»Einige. Ihr Mann war ja der Künstler. Er hat viele mit Strasssteinchen verziert. Tove Griess verkauft sie. Da gibt es nur wenige Treibhölzer, die ohne diese Verzierung auskommen.«

Sören mischte sich ein. »Aber Adrian Halliger sagt, er hat mit einem Kerzenleuchter zugeschlagen.«

»Er sagt auch«, erwiderte Erik sehr langsam und nachdenklich, während er sich seinen Schnauzer glatt strich, »dass die Leiche auf dem Teppich in der Mitte des Wohnzimmers gelegen hat.«

Sören sah seinen Chef überrascht an, auf seinem Gesicht breitete sich ganz allmählich eine Erkenntnis aus. »Sie lag im Schlafzimmer.«

»Wo aber kein Kerzenleuchter stand …«