Es war Violetta, die sich meldete. »Pronto.«
In fliegender Hast berichtete Mamma Carlotta, in welchem Schlamassel sie steckte, und flehte ihre Cousine an, ihr zu helfen. Wie erwartet war Violetta sofort dazu bereit. Sie schien sogar ein vergnügliches Abenteuer zu wittern. Mamma Carlottas Gefühle für ihre Cousine veränderten sich von einem Moment zum anderen. Man konnte von Violetta halten, was man wollte, sie drückte sich nie, wenn sie um etwas gebeten wurde.
Deren Frage, was sie tun könne, um Carlotta aus Merret Halligers Kosmetikstudio herauszuholen, blieb allerdings ohne konkrete Antwort. »Komm einfach her, dann wird dir schon was einfallen. Vielleicht kannst du mir helfen, aus dem Fenster zu klettern.«
Sie legte auf und ging, während sie auf Violetta wartete, von der Tür zum Fenster und wieder zurück. Das Schlimmste war in einem solchen Fall das Alleinsein. Selbst wenn die Aussicht auf die Lösung eines Problems nicht näher rückte, war es doch viel leichter, die Sinnlosigkeit sämtlicher Bemühungen zu zweit zu ertragen. Mamma Carlotta wusste, dass es ihr schon helfen würde, auf der anderen Seite der verriegelten Tür eine Stimme zu hören, die sie kannte. Dann konnte sie wenigstens mit ihrer Cousine gemeinsam beraten, was zu tun war. Notfalls konnte Violetta mit dem Fahrrad zu Erik fahren, um ihn um Hilfe zu bitten. Oder sie konnte Carolin und Felix alarmieren. Aber wie ihre Enkel sie aus diesem Schlamassel herausholen sollten, wusste sie nun wirklich nicht. Violetta dagegen war alles zuzutrauen. Sie hatte sich auch noch nie von Vorschriften und dem abhalten lassen, was sich angeblich gehörte oder was üblich war.
Da kam sie auch schon auf den Eingang des Kosmetikstudios zu! Violetta, groß und kräftig, mit energischen Schritten und entschlossener Miene, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, als wollte sie verhindern, dass sie später wiedererkannt würde. In den Verkaufsraum warf sie nur einen kurzen Blick und ging gleich ums Haus herum, vermutlich zu dem Seiteneingang, den sie am Vortag entdeckt hatte. Kaum war Mamma Carlotta dort hingelaufen, klopfte es schon an der Tür.
»Violetta! Die Tür ist verschlossen!«
»Was ist mit dem Fenster, das nach hinten rausgeht?«
Carlotta hörte Violettas Schritte, ging zu dem Fenster und zog an der Schnur, die an der Seite des Rollos hing, das sich nun hob. Aber das Fenster war genauso verschlossen wie die Tür, der Griff ließ sich nicht drehen. In dem kleinen Schloss, das Carlotta erkannte, steckte kein Schlüssel.
Violetta stand auf dem Parkplatz an dem Geländer, das die Vertiefung für das Kellergeschoss sicherte, und machte wilde Gesten, die wohl zeigen sollten, dass sie jeden Versuch für zwecklos hielt. Mamma Carlotta fragte sich, was ein Beobachter jetzt denken mochte, der auf ihre Cousine aufmerksam wurde. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass sie auffiel. Das nächste Haus war weit entfernt und außerdem hinter dichten Bäumen verborgen. Solange sich niemand vor den Türen des Kellergeschosses sehen ließ, waren sie einigermaßen sicher.
Carlotta zeigte ihrer Cousine pantomimisch, dass sie ihrer Meinung sei, dass dieses Fenster nicht geöffnet werden konnte und es überdies unmöglich war herauszuspringen, weil darunter ein ganzes Geschoss lag.
Violetta hatte unterdessen ein paar Schritte zur Seite gemacht und etwas anderes ins Auge gefasst. Ein weiteres Fenster? Wenn Carlotta das Viereck, das ihre Cousine in die Luft malte, richtig interpretierte, konnte es so sein. Fieberhaft dachte sie nach. Wo gab es in diesem Studio einen weiteren Raum mit einem Fenster?
Plötzlich fiel ihr ein, dass der Verkaufsraum drei Türen besaß, eine schmale, die nach links in das kleine Büro führte, dann die breite, mit Türschmuck versehene, durch die eine Kundin den Behandlungsraum betrat, und daneben eine weitere, sehr schmale, unauffällige. Wo mochte sie hinführen? Wenn es dort noch ein Zimmer gab, dann war es nur vom Verkaufsraum aus zu betreten. Also musste Carlotta sich zunächst dorthin trauen. Wieder zeigte Violetta pantomimisch, was sie vorhatte, dann schob Mamma Carlotta die Tür in den Verkaufsraum vorsichtig auf, sah, dass niemand in der Nähe war, und ging mit einigermaßen ruhigen Schritten, damit sie niemandem auffiel, der womöglich doch vor dem Schaufenster erschien, zu der Tür, die sich zum Glück öffnen ließ. Mamma Carlotta fand sich in einer winzigen Teeküche wieder. Zwei Hängeschränke, unter dem Fenster eine Anrichte mit einem Unterschrank, darauf eine Kaffeemaschine, daneben Abfall- und Wischeimer. Carlotta hatte Mühe, Violetta zu erkennen, weil es ihr nicht möglich war, dicht ans Fenster heranzugehen. Aber Violetta trat ein paar Schritte zurück, sodass sie gesehen worden konnte, und machte nun wilde Handzeichen, die Carlotta so interpretierte, dass es unter diesem Fenster sicherer aussah. Nur … wie sollte sie es erreichen? Es gab nur eine Möglichkeit. Sie musste auf die Anrichte klettern, das Fenster öffnen und dann herausspringen. Wohin? Da musste sie sich wohl auf Violetta verlassen.
Zum Glück fand sich eine Kiste mit Mineralwasserflaschen. Die zog sie heran und stieg darauf. So war es ihr möglich, auf die Anrichte zu klettern. »Madonna!« Unwillkürlich dachte sie daran zurück, wie sie in Sandra Lührsens Haus gezwungen gewesen war, vom Boden aufzuspringen, dabei die Decke um ihren Körper zu raffen und sich so schnell zu verstecken, dass Erik sie nicht sehen konnte. Es war schon erstaunlich, wozu man auch im Alter noch in der Lage war, wenn Gefahr drohte. Sie musste unbedingt in ihrem Dorf unter Gleichaltrigen die Frage zur Diskussion stellen, ob die körperlichen Fähigkeiten wirklich so rasant abnahmen oder ob es in Wirklichkeit nur das Zutrauen in sie war. Wenn auf dem Dorfplatz darüber geklagt wurde, dass Arthrose, Arthritis, Rheuma und Osteoporose so viel unmöglich machten, was früher kein Problem gewesen war, dann lag es in Wirklichkeit vielleicht nur daran, dass weniger von ihnen verlangt wurde? Sie selbst durfte jedenfalls auf Sylt schon mehrmals die Erfahrung machen, dass noch eine Menge möglich war, wenn es unbedingt sein musste. Sie würde demnächst in Panidomino ausführlich darüber reden, ob es vielleicht klüger war, sich nicht beim Gardinenaufhängen helfen zu lassen und der Aufforderung der Enkel, mit ihnen unter den Johannisbeerbüschen herzukriechen, nachzukommen, statt aufs Alter und steife Kniegelenke zu verweisen. Jedenfalls fand sie, dass sie Grund hatte, stolz auf sich zu sein, als sie endlich auf der Anrichte kniete.
Violetta drehte aufgeregt die rechte Hand in der Luft, was wohl bedeuten sollte, dass sie das Fenster öffnen könne, weil es darunter so aussah, als wäre das Herausspringen möglich und nicht lebensgefährlich. Das allerdings würde sie auf jeden Fall noch überprüfen, bevor sie sich traute und sich von Violettas Mutmacherei verführen ließ. Die hatte als junges Mädchen einmal eine Gleichaltrige dazu angestiftet, am Rosengitter eines Hauses hochzuklettern, in dem ein Junge wohnte, in den sie beide verliebt waren und dem nachgewiesen werden sollte, dass er in seinem Zimmer mit einem anderen Mädchen herumknutschte. Diese Angelegenheit war damals nicht gut ausgegangen. Das Mädchen war mit gebrochenen Beinen im Krankenhaus von Città di Castello gelandet, Violetta war als Drahtzieherin entlarvt worden, und der Junge hatte beide nie wieder eines Blickes gewürdigt.
Vorsichtig warf sie einen Blick hinaus. Tatsächlich! Unter diesem Fenster gab es eine solide Rabattenbepflanzung, die es vermutlich überleben würde, wenn eine übergewichtige italienische Mamma sich auf sie fallen ließ. Und wenn nicht, dann musste man solche Kollateralschäden in Kauf nehmen.
Violetta näherte sich dem Fenster mit ausgebreiteten Armen, um zu zeigen, dass sie ihre Cousine notfalls auffangen würde. Diese stellte erfreut fest, dass das Fenster zwar ebenfalls verschlossen war, dass hier aber in dem kleinen Schloss auf dem Griff ein Schlüssel steckte. Sie drehte ihn, der Griff lockerte sich, ließ sich drehen … und im selben Moment ging die Alarmanlage los.