Violetta stieß Carlotta an und ermahnte sie, erstens bei ihrem Bummelschritt zu bleiben und zweitens nicht zu humpeln. Sie dürften nicht auffallen, das sei wichtig. Dass ausgerechnet Violetta es schaffte, sich unauffällig zu verhalten, spornte Mamma Carlotta an und ließ sie vergessen, dass sie bei ihrem beherzten Sprung aus dem Küchenfenster umgeknickt war und nun unter Schmerzen im rechten Fußgelenk litt. Aber die Freude darüber, dass es ihr gelungen war, auf die Arbeitsfläche zu klettern, dass sie die Nerven gehabt hatte, sich bäuchlings in die Fensteröffnung zu legen, um mit den Füßen so nahe wie möglich an den Erdboden zu reichen, dass sie sich aus dem Blickfeld aller hatten retten können, die auf den Alarm aufmerksam geworden und in den Hauseingängen erschienen waren, all das hatte sie auf Flügeln der Euphorie auf die Straße getragen. Ehe jemand nach der Polizei gerufen und andere auf das offene Fenster aufmerksam gemacht hatte, waren sie zu harmlosen Spaziergängern geworden, die auf der Hauptstraße in Richtung Meer schlenderten. Und jetzt hatten sie nur kehrtgemacht, weil sie bemerkt hatten, dass im Kosmetikstudio etwas passiert sein musste. So wie andere auch …
Ein Streifenwagen erschien noch vor Erik und Sören. Zwei Beamte sprangen heraus, rüttelten an der Eingangstür und liefen dann nach hinten. Dort wurde ihnen das offene Fenster gezeigt, das den Alarm ausgelöst hatte. Einer der beiden Beamten war erfindungsreich, holte aus einem Keller einen Tisch, stieg darauf, hangelte sich außen am Fenstersims hoch und schaffte es, in das Fenster zu klettern. Als Erik und Sören eintrafen, brach er gerade mit einem festen Fußtritt die Eingangstür von innen auf, sodass die beiden das Kosmetikstudio betreten konnten. Carlotta und Violetta ließen sich ein paar Minuten Zeit, ehe sie erschienen.
Erik starrte seine Schwiegermutter verblüfft an. »Was willst du denn hier?«
Sie lächelte zuckersüß. »Du weißt, was hier gestern passiert ist. Bei dem ganzen Durcheinander habe ich meine Behandlung nicht bezahlen können. Das muss ich unbedingt nachholen. Man will sich ja nichts nachsagen lassen …« Diese typisch deutsche Formulierung kannte sie von ihrer Nachbarin, die sie häufig benutzte, wenn etwas getan werden musste, was lästig, aber unvermeidbar war.
Erik drehte sich wortlos um, weil Sören nach ihm rief. »Niemand hier!«
Mamma Carlotta warf Violetta einen Blick zu, der sie daran erinnern sollte, was sie verabredet hatten. Natürlich hatte Carlotta sich gefragt, kaum dass sie sich auf die Hauptstraße gerettet hatten, wie Erik erfahren konnte, was sie beobachtet und belauscht hatte. Merret hatte ein Telefonat geführt, in dem das Wort Santiago vorgekommen war. Von der Hauptstadt Chiles hatte Mamma Carlotta schon gehört und war sofort von dem Verdacht angefallen worden, dass Merret sich nach Südamerika absetzen wollte. Warum? Das konnte sie sich auf die Schnelle nicht erklären. Aber sicher war, dass Erik davon erfahren musste.
Es war einfach. Nur ein Schritt zur Seite, und sie stand in dem kleinen Büro, ohne dass jemand auf sie aufmerksam geworden war. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Kulis, und es gab einen Zettelkasten, aus dem sie den oberen Zettel nahm und das Wort »Santiago« aufschrieb.
Als Erik sich zu ihr umdrehte und merkte, dass sie noch da war, reichte sie ihm den Zettel. »Guarda, Enrico! Das habe ich gerade gefunden.«
Er war wütend, das sah sie. Aber sie konnte darüber hinwegsehen. Schließlich wusste sie, dass sie etwas Richtiges tat, wenn Erik es auch nie erfahren würde. »Merkwürdig, oder? Aber vielleicht hat das ja etwas zu bedeuten.«
»Wo hast du das gefunden?«, herrschte Erik sie an.
Mamma Carlotta machte eine vage Handbewegung in Richtung Bürotür. »Da irgendwo.«
Er nahm den Zettel mit einer unwirschen Bewegung an sich, dann sagte er: »Besser, ihr geht jetzt.«
»Certo, Enrico.«
Mamma Carlotta drehte sich um und zwinkerte Violetta zu, die ihr folgte, ohne sich im Geringsten auffällig zu benehmen. Eigentlich hätte Erik es bemerken müssen, aber der starrte nun den Zettel an und überlegte, was er zu bedeuten hatte.
Sören erschien an seiner Seite, und Erik sagte: »Die Schrift kommt mir bekannt vor.«
Mamma Carlotta erschrak zu Tode. Daran hatte sie nicht gedacht. Natürlich hatte ihr Schwiegersohn schon gelegentlich ihre Handschrift gesehen, in Briefen und auf Einkaufszetteln, dass er sie erkennen könnte, hatte sie trotzdem nicht vermutet.
Zum Glück sagte Sören: »Das kann ja nur Merret Halliger geschrieben haben.«
Nun nickte Erik. Grazie a dio, er nickte.
Und wieder war es Sören, der schneller dachte als sein Chef. »Kann es sein, dass sie flüchten will? Nach Santiago?«
Erik sah ihn an und strich sich zögernd den Schnauzer glatt. »Warum?«
Sören schien etwas zu ahnen. Er zog sein Handy aus der Tasche und lief nach draußen, um in Ruhe zu telefonieren. Carlotta und Violetta bewegten sich langsam und extrem unauffällig in dieselbe Richtung.
Wen er anrief, konnten sie jedoch nicht hören. Er wurde scheinbar mehrfach weitergereicht, stellte sich immer wieder erneut vor, trug jedes Mal dieselbe Bitte vor, die Mamma Carlotta jedoch nicht verstehen konnte. Schließlich bedankte er sich, das war eindeutig zu hören, und steckte zufrieden sein Handy ein. Er nahm weder Violetta noch die Schwiegermutter seines Chefs zur Kenntnis, als er zu Erik zurückging.
Sie hörten, wie er zu ihm sagte: »Sie hat für heute Abend einen Flug nach Santiago gebucht. Aber keine Sorge, sie wird aufgehalten. Am besten, wir schicken Rudi und Enno nach Hamburg. Die sollen sie festnehmen und nach Sylt zurückbringen.«
Violetta wurde ungeduldig. Sie, die wenig Deutsch verstand, langweilte sich bald. »Avanti, Carlotta!«
Mamma Carlotta folgte ihr. Mehr würde sie heute sowieso nicht herausbekommen. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, stießen mal hier und mal dort an, überholten sich gegenseitig und waren am Ende noch konfuser als am Anfang. Warum sollte Merret Halliger fliehen wollen? Ihr Mann war der Mörder. Oder hatte sie ihm geholfen? Hatte sie Angst, wegen Beihilfe verhaftet und verurteilt zu werden? Sie drückte ihrer Cousine dankbar die Hand. Violetta war doch viel netter, als es manchmal den Anschein hatte.