Merret Halliger kam Erik vor wie eine schlechte Schauspielerin, die zwar ihren Text gelernt hatte, es aber nicht schaffte, ihn mit Leben zu füllen. Kalt und emotionslos schilderte sie den Abend vor fünf Jahren, an dem Witta Lührsen ihr Leben lassen musste. Nicht einmal ihre Kleidung passte zu ihrer Rolle, als hätte der Kostümbildner keine gute Arbeit geleistet. Merret Halliger sah aus wie eine Geschäftsfrau, elegant und teuer gekleidet, gestand aber ohne mit der Wimper zu zucken, dass sie eine Mörderin war. Seit sie wusste, dass sie verloren hatte, dass das Spiel aus war, spulte sie ihr Geständnis ab, als wollte sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Ich dachte, Adrian wollte sich mit Sandra treffen«, begann sie, als sie nach dem Abend vor fünf Jahren gefragt wurde. »Ich habe ihm nicht geglaubt, als er sagte, er sei im Fitschen verabredet. Erst bin ich ihm gefolgt, dann habe ich Sandra auf dem Weg nach List gesehen und bin ihr hinterher. Ich hatte den Verdacht, dass Adrian sich nach dem Essen früh verdrücken wollte, um sich danach noch mit Sandra zu treffen. Doch dann sah ich, dass sie zu ihrer Schwiegermutter fuhr. Witta war nicht da, aber Sandra hat geduldig vor dem Haus in ihrem Auto gewartet. Und als Witta kam, früher als sonst, ist sie ausgestiegen und mit ihr ins Haus gegangen.« Ein feines, messerscharfes Grinsen zog über ihr Gesicht, kalt und angsteinflößend. »Witta hat ein Fenster geöffnet, das machte sie immer, wenn sie heimkam, und auch immer, bevor sie schlafen ging. Ich konnte jedes Wort verstehen, und als ich näher rangegangen bin, konnte ich auch sehen, was vor sich ging.«
»Sandra Lührsen hat ihre Schwiegermutter um Geld gebeten?«
»Nein, sie wollte kein Geld. Sie hat ihr vorgeworfen, dass sie schlecht über sie redet, dass sie ihren Ruf auf Sylt zerstört, dass sie kein gutes Haar an ihr lässt. Aber Witta hat dagegengehalten. Sie wusste, dass Sandra ein Verhältnis mit meinem Mann hatte. Und sie hatte sich vorgenommen, Jesko darüber aufzuklären, was für eine Schlampe seine Frau war. Er sollte sich endlich scheiden lassen. Daraus entstand ein wüster Streit, und schließlich hat Sandra sich eine der Treibholzskulpturen geschnappt, die bei Witta herumstanden, und zugeschlagen. Witta ist sofort zu Boden gegangen und Sandra mitsamt ihrer Waffe aus dem Haus gelaufen. Sie hat die Skulptur in den Kofferraum geworfen und ist losgefahren.«
»Die Tatwaffe hat sie vermutlich unterwegs entsorgt«, vermutete Erik. »Und Sie?«
»Ich bin durch das offene Fenster geklettert und habe mich umgesehen. Witta war tot, ich konnte in aller Ruhe die Schränke nach Geld durchsuchen.«
»Und Sie sind fündig geworden?«
Merret Halliger nickte, als wäre von einer Banalität die Rede, als würde sie zu einem Ladendiebstahl befragt. »Überall steckte Geld. Am Ende hatte ich genug für einen Neuanfang.«
Sören schüttelte den Kopf, als könnte er ihr nicht glauben. »Und der Rest? Den kennen Sie von Sandra Lührsen?«
»Sie hat mich vor Feinkost Meyer angequatscht.« Sie sah von Erik zu Sören und wieder zurück. »Sie waren ja in der Nähe, Sie müssen das gesehen haben.«
Erst als die beiden Bestätigung signalisierten, fuhr sie fort: »Sie wollte mich am Abend besuchen, sie wusste, dass Adrian nicht zu Hause sein würde.« Nun war für Augenblicke Schluss mit ihrer Kühle, mit der Gefühllosigkeit. »Damit bewies sie mir, dass sie wieder Kontakt mit meinem Mann hatte. Aber ich hatte es ja schon geahnt.«
»Was wollte sie von Ihnen?«, fragte Sören.
»Geld. Sie hatte sich während der fünf Jahre wohl zusammengereimt, dass ich es gewesen sein musste, die sich das Geld geholt hat. Sie selbst hatte nach dem Mord nichts gefunden, und sie wusste ja, dass ich in der Nähe wohne.«
»Moment!« Erik hob die Hand. »Sie ist direkt nach dem Mord nach Hause gefahren, das hat sie damals ausgesagt, und das hat ihr Mann in seinem Brief bestätigt. Er hat auch geschrieben, dass er gemeinsam mit ihr schlafen gegangen ist. Sandra hat das Haus nicht noch einmal verlassen.«
Merret Halliger zog die Mundwinkel herab. »Jesko, dieser Dummkopf! Der hat nicht mal gemerkt, dass seine Frau ihm ein Schlafmittel ins Bier gegeben hat. Der hat nicht geschlafen, der lag praktisch im Koma. Dass Sandra wieder aufgestanden und nach List gefahren ist, hat der gar nicht gemerkt. Am nächsten Morgen hat er sich nur gewundert, wie tief und fest er geschlafen hat.«
»Sandra Lührsen hat das Haus ihrer Schwiegermutter nach Geld durchsucht?«
»Aber sie hat nichts gefunden. Und nach ihrer Freilassung hat sie mein Kosmetikstudio gesehen. Dadurch wurde ihr Verdacht bestätigt. Sie wusste, dass ich nicht in der Lage war, so was aus eigener Kraft zu finanzieren. Und dass ich auf Adrian nicht bauen konnte, wusste sie auch. Sie wollte das Geld zurück. Sollte ich mich weigern, wollte sie mich anzeigen. Sie war davon überzeugt, dass die Polizei mich dann auch für die Mörderin von Witta halten würde.« Sie sah Erik und Sören fragend an. »Stimmt das?«
Erik antwortete: »Wir halten Sie auch jetzt noch für die Mörderin von Witta Lührsen.«
Nun war endgültig Schluss mit ihrer Gefühlskälte. »Ich war es nicht!« Ihre Stimme wurde laut und unbeherrscht. »Ich habe Sandra gesagt, ich würde der Polizei die Wahrheit verraten, ich würde aller Welt erzählen, dass damals die Richtige verurteilt wurde. Aber sie hat nur gelacht. Das würde mir nicht helfen, hat sie gesagt. Es kann niemand für ein und dieselbe Tat zweimal verurteilt werden.« Sie sackte wieder in sich zusammen, ihre Stimme wurde leiser. »Ich habe mich erkundigt, es stimmt.«
Den Mord an Sandra Lührsen gestand sie mit so schwacher Stimme, dass Erik Mühe hatte, sie zu verstehen. Es war ein geplanter Mord gewesen, eiskalt vorbereitet und ebenso eiskalt durchgeführt. Zunächst hatte sie ihren Mut gekühlt, indem sie Steine und Brandfackeln in Sandra Lührsens Garten geschleudert hatte, aber dabei war sie von ihrem Mann erwischt worden, der sie zurückgehalten hatte. Adrian Halliger hatte geahnt, was sie plante, und war ihr gefolgt. Er hatte sie angefleht, Sandra in Ruhe zu lassen, hatte sie darauf hingewiesen, dass der Chefredakteur des Inselblatts in der Nähe war, und sie gefragt, ob es am nächsten Tag ein Foto von ihr in der Zeitung geben sollte. Dann würde sie ihren Schönheitssalon dichtmachen können.
»Da habe ich beschlossen, dass Sandra Lührsen ein für alle Mal aus meinem Leben verschwinden muss«, sagte Merret Halliger. »Ohne Wiederkehr.«
Sie hatte sich überlegt, dass die Treibholzskulptur in ihrem Schaufenster die richtige Waffe war. Eine ganz ähnliche Waffe wie die, der Witta Lührsen zum Opfer gefallen war. Eine Waffe, die später wieder ins Schaufenster gesetzt werden sollte, als wäre sie nie zweckentfremdet worden. »Sie hätten die Tatwaffe lange suchen können«, sagte sie verächtlich, aber dann veränderte sich ihr Gesicht. Hass und Wut erschienen in ihren Augen und in ihren Mundwinkeln. »Wenn nur Ihre Schwiegermutter nicht bei mir aufgetaucht wäre!«
Darüber wollte Erik auf keinen Fall reden. Ohne sich eine Reaktion anmerken zu lassen, ohne Merret Halliger zu zeigen, wie froh er war, dass sie seiner Schwiegermutter nichts mehr anhaben konnte, fragte er nach dem Mord an Sandra Lührsen. »Sie haben sich in ihr Haus geschlichen?« Er dachte an den Abdruck auf dem frischen Gemälde und den gleichen Abdruck im Gäste-WC . »Und als die Gelegenheit günstig war …«
»Sie wollte abhauen«, sagte Merret Halliger. Und nun erschien in ihrer Miene zu all der Wut und dem Hass auch noch Triumph. »Als sie mich in ihrem Atelier sah, wusste sie gleich, was ich wollte. Aber ich habe sie an der Tür erwischt.«