Der Morgen war grau und regnerisch, aber dennoch schön. Er war kalt und schickte einen Wind voraus, der nichts Gutes verhieß, trotzdem würde der Tag wunderbar werden, Mamma Carlotta war sicher. Das lag daran, dass dieser Morgen einem herrlichen Abend folgte, an dem das Glück über Carolins Heimkehr alles überstrahlt hatte. Tilla Speck hatte sich bereit erklärt, mit Carolin nach Hamburg zu fahren und ihre Sachen aus Maximilian Witts Wohnung zu holen. Erik und Sören hatten sich nicht freinehmen können, aber Tilla hatte gespürt, dass Erik keinen Tag verstreichen lassen wollte, an dem sich Carolin womöglich anders entschied oder Maximilian es schaffte, ihren Entschluss ins Wanken zu bringen. Sie waren früh aufgebrochen, das war Carolins Wunsch gewesen. Auch sie selbst schien Angst zu haben, dass sie zu lange über ihre Entscheidung nachdachte und dann am Ende nicht mehr wusste, was richtig für sie war.
Mamma Carlotta war glücklich! Das Kind würde noch an diesem Tag wieder im Süder Wung einziehen! Und das war natürlich ein Grund, sich auf ein Festessen vorzubereiten, das nur aus Carolins Lieblingsgerichten bestand. Mamma Carlotta beschloss, sich frühzeitig zu Feinkost Meyer aufzumachen, um einzukaufen, was sie brauchte. Aber sie benötigte noch etwas anderes: jemanden, dem sie erzählen konnte, was sich alles zugetragen hatte, und zwar inklusive aller Begebenheiten, die sie Erik vorenthalten musste. Frau Kemmertöns, ihre Nachbarin, wäre in diesem Fall nur zweite Wahl gewesen, denn selbstverständlich musste vor allem Tove Griess erfahren, dass er nicht mehr in dem Verdacht stand, Sandra Lührsen umgebracht zu haben. Sicherlich hatte er ein paar schlaflose Nächte hinter sich. Die allerdings gönnte Mamma Carlotta ihm, vielleicht würde er demnächst vorsichtiger sein, wenn er jemandem androhen wollte, ihn umzubringen.
Fietje Tiensch hatte gerade den ersten Schluck seines Frühstücksbiers getrunken, Tove trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Zapfhahn herum, als wartete er auf etwas, von dem er nicht wusste, ob es ihm gefallen würde.
»Sie hätten ruhig schon eher kommen können«, maulte er. »Garantiert wissen Sie längst, was Sache ist.«
Sogar Fietje Tiensch, der nie gute oder schlechte Laune hatte, sondern immer gleichgültig reagierte, nörgelte herum. »Was ist eigentlich mit meinem Kumpel Maart? Wieso sitzt der noch? Hat Ihr Schwiegersohn immer noch nicht rausgefunden, dass Maart unschuldig ist? Was macht der eigentlich den ganzen Tag? Wofür kassiert der sein Gehalt?«
Kritik an ihrer Familie, das hätte Fietje wissen müssen, brachte Mamma Carlotta in Harnisch. »Mein Schwiegersohn ist ein schwer arbeitender Kriminalbeamter. Das sollten Sie wissen, Signor Tiensch!« Ihre Stimme klang laut und scharf.
»Ist ja schon gut«, murmelte Fietje, der es nie auf eine Auseinandersetzung ankommen ließ. »Ich meine ja nur …«
»Kriegt man eigentlich keine Nachricht, wenn man von der Liste der Verdächtigen gestrichen wurde?«, schimpfte Tove. »Ein mieser Service ist das. Das sehe ich genauso wie Fietje.«
»Glauben Sie denn, dass Sie nicht mehr auf der Liste stehen?«, fragte Mamma Carlotta zurück und bemühte sich um ein provokantes Lächeln. »Vielleicht bekommen Sie ja heute noch eine Vorladung von meinem Schwiegersohn.«
Tove schlug mit der Faust auf die Theke. »Ich war’s nicht.«
»Das können Sie meinem Schwiegersohn dann ja erzählen.« Carlotta nickt zum Kaffeeautomaten. »Bekomme ich nun endlich meinen Cappuccino?«
Brummend machte Tove sich an die Arbeit. Er war gerade dabei, das Kakaopulver auf den Milchschaum zu stäuben, da öffnete sich die Tür, und herein trat – Maart Bleicken. »Moin! Ich brauche einen Kaffee. Die Plörre im Knast ist ungenießbar.« Er setzte sich zu Fietje. »Gibst du einen aus?«
Fietje nickte gutmütig, während Tove sich an die Produktion eines Kaffees machte, nachdem er Carlotta ihren Cappuccino vorgesetzt hatte. »Besteht keine Fluchtgefahr mehr?«
»Der Fall ist ja aufgeklärt. Der Mann von der Kosmetikerin hat ein Geständnis abgelegt. Danach konnte ich gehen.«
Drei Augenpaare richteten sich auf Mamma Carlotta, jeder der Männer wartete auf eine ausführliche Berichterstattung von Mamma Carlotta, die sonst immer alle Neuigkeiten mit größtem Eifer zum Besten gab. Aber diesmal schwieg sie, unter Aufbietung aller psychischen Kräfte, doch sie schaffte es. Jemand, der die Fähigkeiten ihres Schwiegersohns infrage stellte, hatte es nicht verdient, von ihr auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Tove und Fietje würden begreifen, wie gekränkt sie war, wenn sie später erfuhren, dass ihnen die eigentliche Sensation vorenthalten worden war. Toves despektierliche Bemerkung nach ihrem Besuch im Kosmetiksalon hatte sie auch noch nicht vergessen. Nein, dieser Tag war nicht geeignet, Toves und Fietjes Neugier zu stillen und sich selbst den Wunsch zu erfüllen, über etwas Erlebtes lang und breit zu reden.
»Na, wir werden ja demnächst im Inselblatt lesen, was gewesen ist«, lockte Tove und warf Mamma Carlotta einen schnellen Seitenblick zu. Natürlich rechnete er nun damit, dass er nicht bis zum nächsten Morgen würde warten müssen, um zu erfahren, was sich auf Sylt zugetragen hatte. Aber Mamma Carlotta rührte in ihrem Cappuccino, ohne etwas zu sagen, trank einen Schluck und sagte noch immer nichts.
Auch Fietje konnte es nicht mehr ertragen und fand wohl, dass seine Art, Mamma Carlottas Mitteilungsfreude zu reizen, besonders clever war. »Sicherlich wird Menno Koopmann heute noch auf ein Bier vorbeikommen. Von dem erfährt man ja immer, was am nächsten Tag in der Zeitung stehen wird.«
Mamma Carlotta wusste, dass das eine glatte Lüge war. Auf so was fiel sie nicht rein. Sie suchte ihr Geld für den Cappuccino aus der Jackentasche, legte es auf die Theke und sah sich vielsagend um, ehe sie aufstand. »Damit wird es bald vorbei sein, Signori! Demnächst werden Sie es nicht mehr mit Menno Koopmann, sondern mit Carolin Wolf zu tun bekommen.«
Während sie Käptens Kajüte verließ, kam sie sich vor wie Signora Ceccarelli, die in Panidomino sehr unbeliebt war, weil sie sich, wenn sie etwas wusste, was auch alle anderen gern erfahren wollten, stets in Andeutungen erging, damit sie später behaupten konnte, sie hätte nichts verraten. Darüber ärgerten sich alle noch mehr, als wenn sie gar nichts erfahren hätten. Nun, als Mamma Carlotta mit dem erhebenden Gefühl auf den Hochkamp trat, unangebrachter Neugier in den Weg getreten zu sein, verstand sie, warum Signora Ceccarelli Freude daran hatte, jemanden zurückzulassen, der zwar mehr wusste als vorher, aber viel weniger, als er gehofft hatte. Dio mio, so was schien dem Selbstbewusstsein gutzutun.
Die Freude daran dauerte jedoch nur bis zur Ecke Westerlandstraße. Kaum hatte sie sie überquert, wusste sie schon, dass sie am Nachmittag einen weiteren Cappuccino in Käptens Kajüte trinken und ausführlich darlegen würde, warum Adrian Halliger ein Geständnis abgelegt hatte, obwohl seine Frau die Täterin war. Und dass ihr Schwiegersohn mit der Überführung von Sandra Lührsen vor fünf Jahren genau richtiggelegen hatte, würde sie besonders detailliert abhandeln. Vielleicht würde sie auch am frühen Abend ihre Cousine auf einen Prosecco ins Hotel Horizont einladen und dort eine kleine Plauderei mit dem unsympathischen Hoteldirektor führen. Sie würde ihm gerne klarmachen, dass ihre Enkelin es nicht nötig hatte, um die Fortsetzung ihrer Ausbildung im Hotel zu bitten, weil sie längst etwas Besseres gefunden hatte. Ob es wirklich besser war, würde sich zwar erst noch herausstellen müssen, aber zu einer kleinen Hochmütigkeit durfte sie sich ruhig schon hinreißen lassen. »Meine Enkelin wird demnächst für die Presse arbeiten.« Das klang doch sehr gut.
Schade nur, dass Erik den Plänen seiner Tochter so kritisch gegenüberstand. Natürlich war er in erster Linie glücklich, dass Carolin am Abend wieder zu Hause einziehen würde, aber dass er demnächst zu Koopmann freundlich sein musste, belastete ihn schwer. Mamma Carlotta sah ihrem nächsten Besuch auf Sylt mit gemischten Gefühlen entgegen …