Wenn ich es mir genau überlege, hatten die Sterne am Himmel dieses Schicksal sicher nicht vorgesehen.
Aber die Sterne sind zerbrochen, und damit ist der letzte Beweis verschwunden. Wir haben den Scheitelpunkt erreicht, an dem die Zeit zusammenbricht. Links liegt die Vergangenheit, rechts – rechts sollte die Zukunft liegen.
Aber die Sterne sind zerbrochen.
Außerdem bin ich Zhang Xiaobo begegnet.
1
Sie hatte keinen Regenschirm dabei. Die Wettervorhersage hatte für den Abend Regen angekündigt, doch als sie nach dem Abendessen am Schuhständer vorbeiging, war der Schirm, den sie eigens dort abgestellt hatte, verschwunden.
Auf dem Gehweg liefen noch andere in der gleichen Schuluniform wie sie, formten ein dünnes Rinnsal, das von der Straße in die Schule hineinströmte. Tang Jiaming betrat den Hörsaal durch die Hintertür, am Kopf der ansteigenden Sitzreihen, gerade rechtzeitig, als die erste Glocke zum Beginn des selbstständigen Abendstudiums läutete. Die meisten Plätze unter den Neonröhren waren besetzt. Es war das letzte Schulhalbjahr vor den Universitätseintrittsexamen, und die Schule hatte für die vielversprechenden Schulabgänger jeden Abend um sieben
Intensivkurse angesetzt. Nur etwa dreißig von zweihundert Schülern aus vier Jahrgangsklassen hatten sich mit den Ergebnissen ihrer Probeexamen für die Teilnahme an den Intensivkursen qualifiziert. Alle anderen fanden sich nach dem regulären Unterricht hier im Hörsaal zum Selbststudium ein.
Zhu Yin winkte ihr von einer der hinteren Reihen aus zu, sie hatte Jiaming einen Fensterplatz freigehalten.
»Ganz schön voll hier heute! Das Billardzimmer wird wohl immer noch renoviert?«
»Es wird ziemlich regnen heute Abend«, murmelte Zhu Yin. Sie hatte ihr Haargummi im Mund, während sie mit den Händen das Haar am Hinterkopf zusammennahm. Sie war ständig damit beschäftigt, neue Zopffrisuren auszuprobieren. Selten hatte sie die Hände frei.
»Schreib doch bitte die Lösung direkt für mich auf«, bat sie Jiaming und deutete mit dem Kinn auf die beiden Übungshefte vor ihr. »Deine Krakelschrift abzuschreiben ist mir zu anstrengend.«
»Die Addition komplexer Zahlen wirst du auch allein hinbekommen.« Jiaming schob die Übungshefte zu Zhu Yin zurück. Manchmal half sie ihr bei den Hausaufgaben. Manchmal auch nicht.
Mit finsterer Miene flocht Zhu Yin weiter ihre Zöpfe. Sie war also immer noch sauer wegen dieser Sache. »Ich bin deine beste Freundin, Jiaming, oder?«
»Hm.« Jiaming ließ ihren Blick über den Saal schweifen.
»Die beste Freundin von allen, nicht wahr?«
»Klar.«
»Warum?
«
Jiaming lachte. Sie drehte sich Zhu Yin zu. Wie hübsch sie ist!
»Weil ich gern so wäre wie du.«
»Lügnerin!« Zhu Yin war zufrieden. Ihre schwarzen Augen blitzten. Jedes Detail des Raums spiegelte sich in ihren glänzenden Pupillen. Jiaming mochte sie wirklich, auch deshalb, weil es so leicht war, sie glücklich zu machen.
Jiaming gähnte. Draußen war es ungewöhnlich düster, gleich würde das Gewitter losgehen. Aber niemand außer ihr schien das zu bemerken.
Die anderen spielten mit ihren Handys, schrieben die Hausaufgaben ab, lasen Comics oder Klatschblätter, dösten, rauchten, kicherten oder nibbelten an etwas herum, schoben Nachrichten unter den Bänken durch … So war das immer. Nur in den ersten beiden Reihen hockten die Streber und konzentrierten sich drei Stunden lang auf die Zusatzaufgaben. Jeden Tag das Gleiche. Das Licht der Neonröhren verschluckte alle warmen Töne, während ihre unruhigen jungen Körper in den Uniformen bebten. Hin und wieder unterbrach lautes Lachen oder Rufen die undurchdringliche Geräuschkulisse. In der Luft lag eine Duftmischung aus Instantnudeln Marke Kleiner Waschbär
, Schinkenwurst, Haarspray und Gummistiefeln. Sie genoss es, einfach in diesem Gewimmel abzutauchen.
Sie liebte sie alle.
»Schlecht geschlafen?«, fragte Zhu Yin.
»Nein. Zu viel gegessen.«
»Ich mache dir nachher eine schicke Frisur, dein Haar sieht ja grauenhaft aus.«
»Wenn du magst.«
Plötzlich ein heftiger Schlag. Ein gewaltiger Windstoß hatte
das große Fenster aufgedrückt, und bevor noch jemand reagieren konnte, prasselten von draußen Sand und kleine Kiesel auf die Schüler ein, und der Wind blätterte Bücher und Hefte um. Alles schrie durcheinander, während der Gewittersturm rücksichtslos durch den Hörsaal wirbelte. Die anderen Fenster ächzten bedenklich in den Angeln, und ihr Glas drohte zu zerspringen.
Jiaming sprang auf und drückte das Fenster zu. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick.
Aber sie sah Zhang Xiaobo.
Er stand auf der Betonmauer der Schule, schwankend, der Wind drohte, ihn jeden Moment herunterzuwehen. Die Mauer war ziemlich hoch, Jahr für Jahr schien sie höher zu wachsen. Jiaming konnte von ihrer Warte aus nicht sagen, ob er herunterspringen wollte. Es war möglich. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann. Sie kannte schließlich noch nicht einmal seinen Namen.
Sie sah, wie Xiaobo in die Hocke ging, um ein Feuerzeug aufzuheben. Er rollte das Reibrad, bis die Flamme aufzüngelte, steckte aber nichts damit an, sondern starrte einfach auf die Flamme, während er sie mit der Hand vom Wind abschirmte. Die Flamme musste seine Handfläche verbrennen. Und sie erhellte sein Gesicht.
Das Fensterglas vor Jiamings Augen beschlug.
Genau genommen war Xiaobo gar nicht ihr Typ. Viel zu blass, zu mager, zu große Augen, die tief in den Höhlen saßen. Doch nun war er ausgerechnet in diesem Augenblick auf der Schulmauer aufgetaucht.
Es war der Sommer 1998. Die heftige Sturmbö kam vom Meer her und brachte den warmen, feuchten Geruch nach Salz
und Fisch mit sich. Die Schatten der Bäume tanzten. Jiaming hatte die Bäume noch nie so schwanken gesehen. Sie presste das Gesicht gegen die Scheibe und starrte auf die dunklen, tanzenden Umrisse. Vielleicht würden sie eines Tages ihre Wurzeln aus dem Boden reißen und davonlaufen. Der Junge war genau im richtigen Moment auf dem einzigen Stück Mauer aufgetaucht, das nicht hinter Bäumen verborgen lag, die wild züngelnde Flamme seines Feuerzeugs erhellte die bräunlichen Blutflecken auf seinem weißen Hemd. Die feuchten Windböen trugen entfernte Klänge afrikanischer Buschtrommeln an Jiamings Ohr.
Die Flamme erlosch.
Der Regen prasselte nieder.
»Was gibt es da zu sehen?«, fragte Zhu Yin von hinten.
»Wie heftig der Regen ist.«
»Ich habe einen großen Schirm dabei. Komm doch erst mit zu mir, dann nimmst du ihn …«
»Wo hast du diesen Schirm her?«
»Von einer Freundin.«
»Zieh dich erst einmal um.«
Jiaming ging in ihr Zimmer und zog sich trockene Sachen an. Der nasse Haufen zu ihren Füßen war kalt und starr wie abgestreifte Schlangenhaut. Der Regen war so heftig gewesen, dass der Schirm nicht viel genutzt hatte.
Zurück im Wohnzimmer, sah sie stumme Bilder über den Fernsehbildschirm flimmern. Sie nahm die Fernbedienung und zappte durch die Kanäle. Bei ihr zu Hause stellte nie jemand den Ton des Fernsehers an. Es schaltete ihn aber auch niemand ab
.
»Hast du noch Hausaufgaben zu machen?« Die Stimme kam hinter einem Berg mit Planskizzen hervor.
»Ich habe schon alles erledigt.«
»Übermorgen habe ich früher Feierabend, wir könnten zusammen auswärts essen gehen.«
Jiaming antwortete nicht gleich, weil gerade ein Haufen MK-82-Bomben ihre Aufmerksamkeit fesselten, die auf dem Bildschirm vom Himmel fielen. In der nächsten Sekunde ging alles in Flammen auf. Jetzt fiel es ihr ein.
»Übermorgen ist dein Geburtstag.«
»Was wünschst du dir?«
»Warum sollte ich mir etwas zu deinem
Geburtstag wünschen? Was ist los?«
Er ignorierte die Frage.
»Na dann … Wie wär’s mit einer CD von Sarah Brightman?«
»Schreib es mir auf, ja? Zeit fürs Bett.« Er ging in die Küche, holte ein Glas Milch und reichte es ihr. Dann sah er zu, wie sie die Milch trank.
Jeden Abend vor dem Schlafengehen gab Vater ihr ein Glas warme Milch zu trinken.
»Einfach scheußlich! Wer kauft denn so was?« Die bleiche Frau starrte angewidert auf das Haargummi in ihrer Hand.
»Alle! Die gibt es in unzähligen Farben. In der Schule trägt das fast jede.« Sie wechselten einen Blick und mussten laut lachen.
»Langes Haar macht so viel Arbeit.«
»Mir hast du mit langem Haar besser gefallen. Damit siehst du wie ein braves kleines Mädchen aus.« Die bleiche Frau strich
Jiaming über die kurzen Haare. Ihre Hand war so weiß, als schiene das Mondlicht auf sie.
»Mir ist es so lieber.«
»Was macht die Schule?«
»Alles wie immer. Gestern gab es ein ziemlich heftiges Gewitter …« Ihre Stimme versagte, aber sie fasste sich schnell wieder. »Ich hatte keinen Schirm dabei, aber Zhu Yin hat mir ihren geliehen.«
Sie wartete auf die bekannte Frage: Ist dieses Mädchen immer noch so launisch?
Sie wusste schon, was sie antworten würde.
Aber die Frage blieb aus. »Ein ziemlich heftiges Gewitter«, wiederholte die Frau Jiamings Worte.
»Übermorgen ist Vaters Geburtstag«, sagte Jiaming.
Die bleiche Frau schwieg. Dann griff sie in ihre Tasche. »Komm, wie schauen uns die Sterne an.«
Sie zog ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt heraus und breitete es sorgsam und geduldig aus. Mit jedem Auffalten erhellte sich ihr Gesicht, und ihre Haut sah aus, als habe man darunter ein weißes Licht angeknipst. Ob es ein warmes oder kaltes Licht war, blieb so diffus wie ihre Freude. Das handtellergroße Papier war unter ihren geschickten, gleichmäßigen Bewegungen zu einem riesigen Plan aufgefaltet worden, der sich nicht auf einen Blick erfassen ließ.
Symbole, Linien und Formen breiteten sich in alle Richtungen aus, immer noch genauso fremdartig wie beim ersten Anblick. Es war eine Scheibe, die sich sehr schnell drehte
.
Ein Astrolabium aus Papier. Vom griechischem

, der Sternnehmer.
»Schau, das hier sind deine Sterne.«
2
Im Sportunterricht mussten sie einen 800-Meter-Lauf absolvieren. Aber schon nach der ersten Runde waren kaum mehr Mädchen auf der Bahn.
Jiaming beobachtete, wie der Sportlehrer versuchte, ein paar Mädchen, die sich vor dem Laufen drückten, zurück auf die Bahn zu jagen. Widerwillig bummelten sie über den Platz. Sobald Mädchen in die Pubertät kamen, schienen sie nicht mehr ordentlich rennen zu können. Nicht nur wegen der wippenden Brüste – sie schienen einfach rundum schwerfällig zu werden. Oder es gehörte dazu, sich zu zieren.
»Du bist ja heute gut drauf«, sagte Zhu Yin.
Jiaming sah sie überrascht an. Sie hatten sich mit einigen Mitschülerinnen auf das Basketballfeld verkrümelt und taten so, als würden sie dort Korbwerfen üben.
»Da ist doch was im Busch.« Zhu Yin näherte sich ihr wie die Maus, die den Käse wittert.
Jiaming ging nicht auf sie ein.
»Hast du wieder von ihr geträumt?«
Jiaming hatte ihr von dem wiederkehrenden Traum erzählt, den sie hatte, seit sie sieben Jahre alt war. Von der Frau, die so blass war, dass ihr Gesicht wie reines Weiß strahlte. Zhu Yin hatte das nie vergessen
.
»Und worüber habt ihr letzte Nacht geredet?«
»Ich habe ihr erzählt, dass mein Vater übermorgen Geburtstag hat.«
»Hast du diesmal ihr Gesicht erkennen können? Sah sie aus wie deine Mutter?«
Sie hatte das Gesicht der Frau schon immer deutlich gesehen. Nur wie das Gesicht ihrer Mutter aussah, wusste sie nicht mehr. Ihre Mutter war bei einem Schiffsunglück gestorben, als Tang Jiaming vier Jahre alt war.
»He, ihr zwei!« Eine Stimme unterbrach sie. »Euer Lehrer!«
Ihr Sportlehrer kam mit der Trillerpfeife im Mund auf sie zu. Jiaming und Zhu Yin rollten mit den Augen, trotteten zurück auf die Tartanbahn und liefen den anderen hinterher. »Danke!«, rief Zhu Yin im Vorübergehen dem Schüler zu, der sie gewarnt hatte.
Jiaming traf seinen Blick. Sie erkannte ihn sofort.
»Kennst du den?«, fragte sie Zhu Yin.
»Nur vom Sehen. Der ist in der Bestengruppe. Ein komischer Typ.«
»Wie heißt er?«
»Zhang Xiaobo.«
Ohne den Sturm, die davonstrebenden Bäume, das wilde Flackern der Feuerzeugflamme, ohne die Mauer – ohne all das wirkte er ruhig und freundlich. Geradezu normal. Jiaming zwang sich, nicht zurückzublicken. Bloß keinen falschen Verdacht aufkommen lassen.
Die bleiche Frau hatte ihr gesagt, dass die Sterne ihr Glück wünschten.
Ungewollt lächelte sie
.
»Was macht dich so fröhlich?«, fragte Zhu Yin.
»Ich dachte an meinen Traum von gestern Nacht. Ich habe ihr die Haargummis gezeigt, die gerade so angesagt sind, und sie fand sie auch ziemlich scheußlich.«
»Welche denn?«
Jiaming schickte einen vielsagenden Blick in Richtung eines Mädchens, das auf der Bank neben der Tartanbahn saß. Dort saß man nur, wenn man eine schriftliche Entschuldigung wegen Krankheit hatte. Als sie endlich über die Ziellinie waren, stand das Mädchen auf.
»Hast du die gesehen, die sie trägt?«
Zhu Yin lachte. »Stimmt, die sehen bescheuert aus.«
Das Mädchen kam jetzt auf Jiaming zu, zögerte aber, als sie Zhu Yin bei ihr stehen sah.
Zhu Yin zog eine Grimasse. »Wir sehen uns nachher«, sagte sie zu Jiaming und ging.
»Hallo Jiaming.« Das Mädchen blinzelte in der Sonne.
»Hallo Lina.«
Lina war eine der Ersten gewesen, die die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich zog. Schon mit zwölf legte ihr Körper den Babyspeck ab, bekam Kurven und Konturen, verströmte einen warmen Duft und lenkte die Blicke der männlichen Mitschüler auf die Wölbungen unter ihrer Schuluniform. Ständig scharten sie sich um sie, nicht nur die Gleichaltrigen. Niemand musste sich jedoch Sorgen machen, dass sie mit ihrem Sexappeal zu weit gehen würde. Lina war so dickfellig wie eine Elefantenkuh und schleppte ihren üppigen Körper träge und desinteressiert mit sich herum. Sie bemerkte die Gegenwart ihrer Verehrer nur,
wenn es ihr gerade nützlich sein konnte. Dann setzte sie die Aufmerksamkeit gezielt für sich ein. Zum Beispiel, wenn sie ein Attest für die Befreiung vom Schulsport brauchte.
Jetzt benutzte sie Jiaming als Ausrede, um sich am Kiosk etwas Süßes zu holen. Lina bestand darauf, sie einzuladen.
»Ich nehme zweimal Eis«, sagte Jiaming. »Eins für mich und eins für Zhu Yin.«
Lina lächelte. »Mein Arzt, weißt du, der für traditionelle chinesische Medizin, gestattet mir überhaupt nichts Kaltes, nicht mal rohen Fisch.«
Das Beste an Lina war, dass man sie reden lassen konnte, ohne zuzuhören. Anders als viele andere Mädchen in diesem Alter nahm sie sich selbst einfach nicht so ernst. Das hatte etwas Entspannendes.
»Bei euch scheint es abends beim Selbststudium ziemlich locker zuzugehen, wie ich höre«, sagte Lina.
»Warum auch nicht, wir haben schließlich nicht extra viele Hausaufgaben. Das sieht in euren Intensivkursen sicher anders aus.«
Lina drückte ihr etwas in die Hand. Jiaming starrte auf die Geschenkbox mit dem feinen Samtbezug. Sie öffnete sie. Es war ein neuer Füller von Parker. »Lina?«
»Ich hatte einfach einen Stift zu viel.« Lina lächelte zuckersüß.
»Sieht teuer aus. Ob man dafür besondere Tinte braucht?« Die bleiche Frau zog die Kappe ab und testete die Feder.
»Wahrscheinlich gibt es dafür schicke Spezialtinte. In Geschenkverpackung.
«
»Warum hat sie dir das geschenkt?«
Jiaming schwieg. Ein oder zwei Geheimnisse durfte man durchaus für sich behalten.
Die bleiche Frau packte sie am Kinn. »Gib ihn ihr zurück. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Wenn ich das täte, hättest du noch mehr Grund zur Sorge.«
Die bleiche Frau hielt sie fest und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. »Ich habe ihre Sterne gesehen. Sie gefallen mir nicht.«
»Wenn ich ihr Geschenk nicht annehme, wird sie glauben, dass ich sie hintergehe. Verstehst du?«
Die bleiche Frau ließ sie los.
Jiaming setzte sich neben sie. »Und meine Sterne? Gefallen sie dir?«
»Ja.« Ihr Blick war mild wie ein Seufzen. »Du bist ein gutes Mädchen. Das sagten mir die Sterne schon, als du geboren wurdest.«
Ein Schatten glitt über Jiamings Herz. Etwas schnürte ihr die Brust zu. Das sinnlose Licht des Fernsehbildschirms flimmerte auf ihr.
»Können die Sterne wirklich sprechen?« Diese Frage hatte sie noch nie gestellt, denn sie glaubte nicht daran.
»Aber ja!«, sagte die bleiche Frau. »Gestern haben sie mir erzählt, dass du jemanden kennenlernen würdest … jemand Besonderen. Einen, der im Wasser erscheint und im Feuer verschwindet. Die Sterne wünschten dir Glück, das sagte ich dir bereits.«
»Und heute? Was sagen die Sterne?«
Die bleiche Frau faltete ihr Astrolabium auf. Jiaming verfolgte jede ihrer Bewegungen, jedes Detail dieses Vorgangs, mit dem
sie längst vertraut war. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto mehr fühlte sie sich, als wäre sie weit, weit weg. Aber sie war hier. Oder auch nicht. Ihr eigenes Selbst hatte sie im Stich gelassen. Irgendwo in ihrem Innern fühlte sie die Leere, die man verspürt, wenn man im Stich gelassen worden ist. Sosehr sie sich auch bemühte, sie zu ignorieren, so sehr zitterte sie vor Kälte … und schwindelte ihr vor Süße.
Diese Sterne, Symbole aus den Tiefen des unendlichen Universums, erschienen jetzt mit nie da gewesener Klarheit auf dem Papier.
»Morgen wirst du glücklich sein. Du nimmst einen Weg, den du für gewöhnlich nicht gehst, und triffst am Vormittag eine Verabredung. Die Sterne sagen, dass dir jemand Wichtiges begegnen wird, der Mann deines Lebens. Diese Verabredung ist entscheidend für dein Schicksal, also sieh dich vor, dass du keine falschen Entscheidungen triffst. Die Sterne reden, hörst du? Sie reden, alle durcheinander. Hörst du das? Sie möchten, dass du glücklich wirst.«
Die bleiche Frau redete immer schneller. Sie wiederholte sich. Sie geriet ganz außer Atem durch das schnelle Sprechen, wurde aber nicht langsamer. Wie ein Rad, das sich unkontrolliert weiterdreht. Ihre Worte wurden immer wirrer, bis sie nur noch sinnlos Silben stammelte und ihr Körper vor Anstrengung bebte. Plötzlich krallte sie ihre knochigen Finger in Jiamings Schultern und gab ein schrilles, wieherndes Lachen von sich.
Jiaming umarmte sie. »Spiel nicht die Verrückte, Mama. Hör auf damit.«
3
Jiaming konnte sich nicht genau erinnern, wann die bleiche Frau zum ersten Mal aufgetaucht war. Es musste an ihrem sechsten Geburtstag gewesen sein, vielleicht noch früher. Sie hatte geträumt. Mitten in der Nacht öffnete sie die Augen und erblickte eine Frau, die an ihrem Bett saß.
Die Haut der Frau war schneeweiß. So ungewöhnlich weiß, dass sie im Dunkeln zu leuchten schien – ein Stern.
Sie sprach die Frau an. Seltsamerweise hatte sie gar keine Angst vor ihr. Das war es, was dieses Erlebnis für sie zu einem Traum machte.
»Du bist so weiß, leuchtest du etwa?«
»Nein, ich nicht. Das sind die Sterne. Schnell, frag mich: ›Wer bist du?‹«
»Wer bist du?«
»Ich bin deine Mutter.«
»Du spinnst. Meine Mutter ist tot.«
»Ja, ich bin verrückt.« Die bleiche Frau legte die Hand auf den Mund und kicherte.
Sie hatte keine Angst vor ihr. Auch später nicht, als die bleiche Frau eines Nachts wirklich verrücktspielte und sie mit ihren dünnen Fingern strangulierte. Sie fürchtete sie nicht.
Meistens blieb die bleiche Frau sehr still.
Ansonsten unterhielten sie sich wie normale Menschen. Jiaming erzählte ihr, was in der Schule passierte, und manchmal gab die bleiche Frau einen Kommentar dazu ab. In den meisten Dingen waren sie sich einig. Immer wieder redete die bleiche
Frau von den Sternen. Sie brachte Jiaming viel über die Sterne bei, ihre Position am Himmel, ihre Namen, ihre Farben, ihre Geschichte und – ihre Sprache.
»Hör genau hin! Du kannst sie an ihrer Stimme erkennen. Um zu verstehen, was sie sagen, musst du sowohl auf die Worte als auch auf den Tonfall achten. Sie singen auch gern.«
Tang Jiaming hörte nichts.
Die Sterne konnten nicht sprechen.
Und was machte das schon. Am Morgen verschwanden sie sowieso. Genau wie die Träume.
Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages den Worten der verrückten Frau glauben würde.
An jenem Morgen entschied sie, am Südausgang ihres Wohnviertels den Bus zur Schule zu nehmen. Sie war schon lange nicht mehr während der Stoßzeiten Bus gefahren. In den ersten Bus konnte sie sich schon nicht mehr hineinquetschen. In den zweiten passte sie gerade noch mit einem Bein, aber es gab nicht genug Platz, um ganz einzusteigen. Als sie zögernd in der Tür stand, packte sie plötzlich eine Hand am Arm und zog sie mit einem Ruck in den Bus.
In der dunklen Menge der Passagiere erkannte sie Xiaobo. Sein Gesichtsausdruck war frostig, und er machte nicht den Eindruck, als wäre er derjenige, der ihr in den Bus geholfen hatte.
Der Bus war wirklich rappelvoll. Niemand konnte mehr seine Grenzen wahren, dicht an dicht musste jeder den Druck von allen Seiten ertragen. Wie Sardinen, die in eine unmögliche Form gepresst und in eine Dose verschweißt worden waren
.
Das durfte nicht sein, diese Nähe zu ihm. Obwohl noch eine Frau zwischen ihnen stand, waren sie zu eng beieinander. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn anzusehen. In seinem ausdruckslosen Gesicht lagen tiefschwarze Augen. Wie Wasser in einem Abgrund. Unwiderstehlich.
Fall bloß nicht in diese Augen.
Mit Mühe drehte sie ihren Kopf so, dass sie ihn nicht ansehen musste. Ihre Wange blieb schmerzhaft gegen das Rückgrat ihres Vordermanns gequetscht, aber sie machte sich nichts daraus.
Der Bus verlangsamte die Fahrt und hielt an der nächsten Haltestelle. Wer aussteigen musste, zwängte sich durch die Menge zum Ausstieg. Xiaobo rührte sich nicht. Die Tür ging auf, und Jiaming schloss die Augen. Die Aussteigenden drückten sich an ihr vorbei. Sie könnte sich einfach mit ihnen treiben lassen, hinaustragen lassen von der Menge, sich nicht so benommen fühlen.
Stattdessen ertrug sie das Schubsen und Drängen, hielt sich starr an der Halteschlaufe fest und verteidigte ihre Stellung, bis sich die Türen schlossen. Wieder spürte sie die Schläge afrikanischer Buschtrommeln in der Brust. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
»Du wirst zu spät kommen.« Sie hatte nicht bemerkt, dass Xiaobo sich neben sie gestellt hatte.
Ihr Kopf war leer. Der Bus fuhr weiter, an der Schule vorbei. In zehn Minuten würde der alte Mann im Pförtnerhaus das Tor schließen. Das Schulgebäude wurde immer kleiner und verschwand hinter den Reihen hoher Wutong-Bäume. Sie schloss die Augen. Das von den Bäumen zu feinen Mustern gefilterte Licht drang durch ihre Augenlider. Etwas versetzte ihrem Herzen einen Stich
.
»Jetzt kommst du auf jeden Fall zu spät.« Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel.
Sie fuhren weiter bis zur Endhaltestelle, wo sie in den Bus umstiegen, der zur Schule zurückfuhr. Sie setzten sich hintereinander und wechselten weder Worte noch Blicke.
Kurz vor der Haltestelle der Schule lehnte er sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Welche Fächer hast du heute Vormittag?«
Verrückte Dinge passieren, weil das Schicksal es so will, man kann nichts dafür.
Jiaming drehte sich zu Xiaobo um.
Der Bus hielt, die Türen gingen auf. Die Türen gingen zu. Keiner von beiden bewegte sich.
Es war schon halb neun.
Als sie schließlich in die Schule kam, war es zwölf. Auf dem Weg zur Cafeteria hielt der Studiendirektor sie auf und schleifte sie in sein Büro.
Die paar Stunden gefehlt zu haben konnte nicht allzu schlimm sein, daher war sie nicht sehr beunruhigt. Aber sie lag falsch.
Als sie aus dem Büro kam, suchte sie Zhu Yin und zog sie in eine Ecke der Cafeteria. Noch bevor sie etwas sagen konnte, platzte Zhu Yin heraus: »Ja, ich war’s, die ihnen erzählt hat, dass du für Lina den Test geschrieben hast. Hast du ja auch!«
»Sie haben dich bestimmt um Beweise gebeten.«
»Sicher …« Zhu Yin verstummte.
»Also hast du behauptet, ich hätte es dir selbst gesagt. Dass ich alle vier Probeexamen an Linas Stelle geschrieben hätte.« Sie stellte sich so vor Zhu Yin, dass sie ihrem Blick nicht ausweichen
konnte. »Aber das habe ich nie gesagt, und du weißt es genau. Eben hat der Studiendirektor mit mir gesprochen.«
»Hast du ihm erzählt …«
»Ich habe ihm gesagt, dass Lina wohl dank ihres eigenen Fleißes so gut abgeschnitten hat.«
»Warum nimmst du diese Schlampe in Schutz? Ich habe euch doch gesehen!«
»Was hast du gesehen? Dass ich ihren Testbogen aufgehoben habe, als er ihr runtergefallen ist?«
»Warum hilfst du ihr? Es will mir nicht in den Kopf. Unerträglich, wie sie hier herumstolziert, als sei sie schon Studentin an einer Eliteuni! Alle sollen wissen, was für eine Blenderin sie ist, ein Niemand ist die. Wenn ich es beweisen könnte, dann würde ich …«
»Aber du kannst es nicht beweisen. Trotzdem Glückwunsch, immerhin ist es dir gelungen, ihr weiszumachen, dass ich sie denunziert hätte.« Jiaming war alles andere als sauer. Zhu Yin hatte ja keine Ahnung, wie richtig sie lag.
Sie hatte Lina geholfen, weil es so einfach war. Was interessierten sie die Noten, das alles. In der restlichen Zeit hatte sie ihren eigenen Testbogen ausgefüllt. Für sie war es ein Witz, aber offenbar sah das nicht jeder so.
»Ich verstehe es einfach nicht. Hat sie dich mit einem Stift gekauft? Ich habe ihn doch gesehen, den schicken Füller«, schimpfte Zhu Yin weiter. »Jiaming! Jetzt bleib doch hier!«
Zhu Yins Stimme verlor sich hinter ihr.
»Ich muss mit dir reden.« Xiaobo hatte sie auf dem Treppenabsatz abgepasst. Seine Miene war finster
.
»Wollten wir uns nicht nach der Schule bei McDonalds treffen?«
»Warum erzählst du so blöde Lügengeschichten? Meinst du, irgendwer nimmt dir das ab?«
»Wie kommst du darauf, dass ich lüge?« Sie lehnte sich an die Wand, damit er nicht merkte, wie sie zitterte.
Die Sterne hatten gesagt, Xiaobo sei wichtig.
»Wer soll dir glauben, dass du für Lina die Tests geschrieben hast? Der Studiendirektor hat sie zu sich zitiert, und jetzt heult sie nur noch. Muss man aus lauter Eitelkeit andere quälen?«
Er glaubte also den anderen, einfach so.
Jiaming biss sich auf die Lippe. Etwas steckte in ihrem Hals und drohte, sie zu ersticken. Sie wollte nichts sagen, es täte ihr zu weh. Aber … Er war ihr so wichtig. Vielleicht war er es wert, hatte er es verdient, dass sie sich die Worte aus der Brust riss.
»Und was, wenn ich dir sage, dass ich es wirklich getan habe?«
Sie funkelte ihn an. In seinen Augen musste doch irgendetwas Vertrautes sein.
»Du bist einfach verdorben.«
Abrupt wandte sie sich ab. Sie hatte etwas Vertrautes entdeckt, nur nicht das, was sie suchte. Es tat so weh, dass sie nicht wagte, ihn anzusehen.
Doch, er würde sich ihre Erklärung anhören, und alles würde gut werden. Sie musste nur …
Die Schulglocke läutete.
»Lass uns nach der Schule noch einmal reden, ja?«
Xiaobo eilte zum Unterricht. Sie lief ihm zuerst nach, dann hielte sie inne, drehte sich um und stieg die Treppe wieder hinunter
.
Sie würde einfach gehen. Diesen ganzen Blödsinn hinter sich lassen, diese Schule. Sie würde über die Straße gehen, durch die Drehtür zu McDonalds reingehen, sich eine große Cola kaufen, auf einem gemütlichen Sessel sitzen, nichts tun, nichts denken und warten, bis die Schule aus war.
Sie hatte niemandem erzählt, dass sie die Tests für Lina geschrieben hatte. Niemandem. Heute Abend würde sie ihm die ganze Geschichte erzählen wie einen Witz. Einfach so, unbefangen. Sie würde ihre Worte genau abwägen, wenn sie ihm die Details berichtete. Auf keinen Fall sollte er sich schuldig fühlen.
4
Die Eiswürfel schmolzen und verschwanden in der dunklen, süßen Flüssigkeit. Die meisten Leute achteten nicht darauf, wie Eiswürfel sich auflösten. Und die bleiche Frau? Ob sie jemals auf das unaufhaltsame Verschwinden der Dinge geachtet hatte? Was würden ihre Sterne dazu sagen?
Die Sterne wollen, dass du glücklich bist.
Welche Sterne waren das, die sie glücklich machen würden? Sie wusste es nicht und würde auch keine Antwort suchen.
Die bleiche Frau schlief noch. Jiaming weckte sie nicht. Die Cola, die sie für die Frau gekauft hatte, war schon warm, aber sie wollte sie nicht wecken. Selten hatte sie die bleiche Frau so friedlich gesehen.
»Wie spät ist es?« Die bleiche Frau war aufgewacht, und ihr Blick fiel auf den Fernseher, wo der Nachrichtensprecher gerade die Inlandsnachrichten verkündete. »Es ist noch so früh.
Wolltest du dich nicht mit ihm treffen? Du hättest heute Morgen anders handeln sollen als sonst.«
»Ich habe ihn getroffen. Wir haben uns für nach der Schule bei McDonalds verabredet. Hier, ich habe dir eine Cola mitgebracht.«
»Wie war euer Treffen? Ein bisschen früh zu Ende, oder?« Die bleiche Frau warf den Kopf zurück und lachte. »Und, glaubst du mir jetzt? Ich bin nicht verrückt. Die Sterne sagen die Wahrheit.«
»Lass uns die Sterne ansehen, Mama.«
Die bleiche Frau stellte die Cola ab und breitete fröhlich ihre Sternenkarte aus. Das sich drehende Astrolabium kam zum Stehen, und alle Symbole lagen deutlich vor ihnen. Die Frau sah sie sich an. Sie wollte etwas sagen, aber es kam kein Ton heraus.
»Mama, alles in Ordnung? Was sagen die Sterne?«
Die bleiche Frau sank in den Sessel. Sie war bleicher als je zuvor.
»Warum verbirgst du dich im Schatten?«, fragte sie Jiaming.
»Mein Anblick würde dir nicht gefallen«, antwortete sie. »Meine Kleider sind ganz dreckig.«
Sie hatten sie bei McDonalds in den Sessel gedrückt und absichtlich Cola auf ihr verschüttet. Lina war nicht dabei gewesen, sie stand etwas abseits, mit verheultem Gesicht.
»Haben sie dich geschlagen?«
Blaue Flecken, ein paar Kratzer, aufgeplatzte Lippen. Jiaming fuhr mit der Zunge darüber. Blut schmeckte ganz ähnlich wie Cola.
»Die Mädchen mochten keine Cola mit Eis.«
Das Mädchen, das die Cola verschüttet hatte, war auch die erste, die sie geohrfeigt hatte. Dann hatten sie sie vor Lina
gezerrt und sie so lange geschubst, bis sie vor ihr auf die Knie fiel, auf die harten Fliesen.
Dann kamen die Ohrfeigen, eine, zwei, drei. Alles vor den Augen der anderen Kunden und Angestellten, vor den Passanten draußen, die durch die Fensterscheiben starrten, vor Lehrern, die sich scheinbar unbeteiligt unter die Menge gemischt hatten.
Eine riss ihren Kopf an den Haaren nach hinten, sodass sie den Blick nicht senken konnte. Jeder sollte ihr Gesicht sehen. Sie hielt die Augen geschlossen. Seht sie euch an, diese miese Kröte. Zu doof, um ihre eigenen Examen zu bestehen, aber erzählt herum, sie hätte für eine Spitzenschülerin die Klausuren geschrieben!
»Du weißt, wer es war, nicht wahr? Hast du es geraten oder in den Sternen gelesen?« Jiaming wischte der bleichen Frau die Tränen von den Wangen. »Nicht weinen. Findest du das nicht lustig?«
Hätte sie ihre Augen nicht geschlossen gehalten und die Gesichter der Mädchen gesehen, wäre sie wohl in hysterisches Lachen ausgebrochen. Die ganze Sache war ihr bis dahin wie ein dummer Scherz erschienen.
»Haben dir die Sterne erzählt, wie oft sie mich geohrfeigt haben? Genau siebenundzwanzig Mal. Ich habe ihnen das Zählen abgenommen, da ich ja sonst nichts zu tun hatte. Aber das war nicht das eigentliche Problem. Was mich, bevor Lina gegangen ist, wirklich interessiert hätte, war, woher sie gewusst haben, dass sie mich bei McDonalds finden. Woher, Mama? Warum hat ausgerechnet der Mensch, der so wichtig für mich ist, sich auf ihre Seite geschlagen? Frag die Sterne, Mama, bitte!
«
Die bleiche Frau saß zusammengerollt im Sessel und kaute sich unbewusst die Fingernägel ab. Nur ihre weit aufgerissenen Augen starrten, als wären sie unabhängig von ihrem Körper und ihrem Willen, gebannt auf die Sternenkarte.
Jiaming riss ihr die Finger aus dem Mund. »Was sagen die Sterne? Was sagen sie dir, meine verrückte Mutter? Wofür steht das hier zum Beispiel?«
Sie deutete auf ein Symbol.
»Für den Mond.«
»Der Mond, ja?« Sie nahm den Stift. Die bleiche Frau stieß einen spitzen Schrei aus und versuchte, sie mit ihren zerbissenen Fingern aufzuhalten, aber Jiaming hatte das Symbol schon gründlich ausgestrichen. Ihr Stift glitt über das Papier und ließ das Mondsymbol an anderer Stelle erscheinen. »Da ist er jetzt.«
»Du weißt nicht, was du da tust.«
»Und das hier?« Die Bleistiftspitze deutete auf ein anderes Symbol.
»Pluto.«
»Viel zu voll dort, findest du nicht?« Sie strich Pluto aus und setzte den Stift irgendwo anders an. »Hier ist er viel besser aufgehoben.«
Die bleiche Frau raufte sich die Haare und schluchzte laut auf.
»Wein doch nicht. Sieh her. Die Sterne sind woanders, aber die Welt bleibt, wie sie ist. Die Sterne erzählen nämlich nichts. Sie wissen nichts von der Zukunft. Weder die Zukunft noch die Gegenwart noch die Vergangenheit haben irgendetwas mit deinen Scheiß-Sternen zu tun.«
Weinend beugte sich die bleiche Frau über die Sternenkarte,
als wäre sie ihr totes Kind. Tränen liefen über ihre Wangen und tropften auf das Papier, sodass das es sich wellte wie ein See, in den man einen Stein geworfen hat. Die Symbole vibrierten wie Spiegelungen auf dem Wasser. Dann bewegten sie sich, langsam, vorsichtig, zurück auf ihre angestammten Positionen.
Mit unbewegter Miene sah Jiaming zu. Das musste wieder so ein billiger Trick sein.
Die Sterne erzählen nichts, sie wissen nichts über die Zukunft, sie haben keine Macht.
Das wusste sie besser als jeder andere.
»Du weißt nicht, was du angerichtet hast!«, sagte die Frau mit tränenerstickter Stimme.
»Doch, ich weiß es genau. Beinahe hätte ich dir alles abgenommen. Heute Morgen habe ich zum ersten Mal im Leben geglaubt, dass ich es verdiente, glücklich zu sein.«
Mein Name ist Tang Jiaming.
Meine Mutter ist verrückt.
Als ich vier Jahre war, ist meine Mutter bei einem Bootsunfall ertrunken. Erst als ich älter wurde, begriff ich, warum mein Vater mir das erzählt hat. Nach dem Tod meiner Mutter sind wir in ein anderes Haus umgezogen. Vater ist Architekt, er hat viel Zeit in die Renovierung des Hauses gesteckt. Das Haus wirkt kleiner, als es ist, wir hatten immer reichlich Platz. Ich bin zur Schule gegangen wie die anderen Kinder. Eines Nachts habe ich von der bleichen Frau geträumt. Sie hatte ein Papier voll seltsamer Symbole bei sich und sagte, aus den Symbolen ließe sich mein Schicksal ablesen. Ich habe ihr nicht geglaubt. Obwohl ich Nacht für Nacht von ihr geträumt habe, habe ich ihren Weissagungen nie geglaubt, den Weissagungen der Sterne
.
Bis ich Xiaobo begegnet bin.
Weil ich mich nach Liebe gesehnt habe.
So sind die Menschen.
Er öffnet die Tür und findet mich überrascht auf dem Sofa. »Du bist zu Hause?«
»Tut mir leid. Ich weiß, wir wollten zusammen essen gehen. Ich habe vergessen, dass es heute Abend war.«
»Ist nicht schlimm.« Er zieht die Sarah-Brightman-CD aus der Tasche. »Für dich.«
Immer erfüllt er mir jeden Wunsch. Ganz gleich, wie ich mich betrage. Nie weist er mich zurecht. Ganz anders als die anderen Väter.
Er fragt auch nicht nach den blauen Flecken in meinem Gesicht. So ist er schon immer gewesen. Ich wurde gemobbt, aber er hat so getan, als bemerke er nichts.
Deshalb musst du klüger werden und besser auf dich aufpassen
, hat die bleiche Frau immer zu mir gesagt.
»Wolltest du mir etwas sagen? Weil du extra früher nach Hause gekommen bist, meine ich.«
»Nein, ich wollte nur schön mit dir zu Abend essen. Bekommst du keinen Ärger, wenn du heute Abend nicht zum Selbststudium gehst?«
»Keine Sorge. Jetzt bist du schließlich schon da, und ich gehe nicht mehr hin. Lieber unterhalten wir uns ein bisschen.« Ich stehe auf und dimme das Wohnzimmerlicht.
Noch nie war es so dämmrig in unserem Wohnzimmer. Für gewöhnlich sind immer alle Lichter an, und der Fernseher läuft.
»Was tust du da?
«
Ich stelle mich vor den Spiegel gegenüber dem Fernseher und presse mein Gesicht gegen das Glas. Ich starre hinein, sehe, was ich nicht sehen soll: die bleiche Frau in ihrer Gefängniszelle.
»Unidirektionales Glas, nicht wahr?« Ich drehe mich zu ihm um. »So klein ist unser Wohnzimmer gar nicht.«
Mein Name ist Tang Jiaming.
Meine Mutter ist verrückt.
Mein Vater ist ein ausgezeichneter Architekt. Er hat ein Geheimzimmer in unser Wohnzimmer eingebaut, in das er meine Mutter gesperrt hat. Zwölf Jahre lang. Die bleiche Frau ist kein Traum. Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Dass die Geschichte von ihrem Ertrinken nicht stimmte. Bevor wir andere belügen, belügen wir erst uns selbst.
»Seit wann weißt du Bescheid?«
»Seit mir aufgefallen ist, wie extrem müde mich die Milch macht, die du mir immer zu trinken gibst.«
Was mein Vater nicht weiß: Obwohl mich die Drogen so müde machten, ließen sie mich immer noch nachts aufwachen und die bleiche Frau sehen. So fest ich auch schlief, mitten in der Nacht weckte mich eine geheimnisvolle Kraft, und ich fand mich neben der bleichen Frau wieder, wie ein Gegenstand, den man aus der Luft fallen gelassen hat.
Wenn du nicht möchtest, dass irgendwer von deiner verrückten Frau weiß, warum hast du sie nicht gleich hinter dicken Mauern versteckt?
Hätte ich ihm diese Frage gestellt, wäre seine Antwort sicher
gewesen: Deinetwegen. Niemand sollte wissen, dass das Mädchen eine Irre zur Mutter hatte.
Nein. Die Gelegenheit zu dieser Antwort gebe ich ihm nicht.
»Trink. Du hast in letzter Zeit nicht genug geschlafen.« Ich hole ein Glas warme Milch aus der Küche und stelle es ihm mit einem milden Blick hin.
Er trinkt. Ich wusste, dass er das tun würde, ganz egal, was ich hineingetan hätte.
Alles wäre ihm lieber, als mir zuhören zu müssen.
»Wann hat sie anfangen, wirres Zeug zu reden?« Ich setze mich ihm gegenüber und lege tröstend meine Hände auf seine zitternden Knie.
»Sie war immer schon eigenartig, schon bei unserer ersten Begegnung. Behauptete, sie höre seltsame Stimmen. Immerzu wollte sie jedermanns genaue Geburtszeit und den Geburtsort wissen, und manche Menschen konnte sie grundlos nicht ausstehen. Für mich waren das nur harmlose Macken. Aber dann kamst du zur Welt und sie …« Er sieht mich an, und es kostet ihn sichtlich Mühe fortzufahren. »Sie bestimmte dein Schicksal mithilfe ihres Astrolabiums und behauptete, du würdest eines Tages in der Lage sein, die Erzählungen der Sterne zu ändern. Man müsse dich schützen. Sie wurde immer verrückter …«
»Du hast Angst bekommen.«
»Ich weiß nicht, ob sie wirklich verrückt ist. Vieles, was sie vorhergesagt hat, ist eingetreten. Vor ihr hatte ich keine Angst. Aber die anderen Leute, du weißt ja gar nicht, wie …
«
Er weiß genau, dass ich nicht verrückt bin, hat die bleiche Frau einmal zu mir gesagt. Ich erinnere mich noch gut an ihren Gesichtsausdruck, als sie das sagte. Mir fällt jetzt noch so einiges andere ein.
Bevor er einschläft, stelle ich ihm eine letzte Frage.
»Du hattest schon lange aufgehört, sie zu lieben, nicht wahr?«
»Nein, nein, so ist das nicht. Ich liebe sie. Ich habe sie immer geliebt.«
Die furchtbarste aller möglichen Antworten.
Die Milch lässt ihn einschlafen, bevor er losheult wie ein Baby. Natürlich liebt er sie. Ihretwegen hat er das einseitig gerichtete Glas eingebaut, damit sie den Fernseher sehen konnte, der immerzu eingeschaltet war. Und vor allem, damit sie mich sehen konnte.
Trotzdem, Papa: Deine Antwort ist dermaßen verkorkst.
5
Ich heiße Tang Jiaming.
Ich habe keinen Vater und auch keine Mutter. Ich kann die Sprache der Sterne verändern, das heißt, ich kann das Schicksal beeinflussen.
Morgen früh werde ich pünktlich zur Schule gehen. Ich werde so tun, als ob nichts geschehen wäre, und weiter die brave Schülerin mimen. Ich werde nicht so tun, als ob ich so wäre wie die anderen. Ich werde mich nie mehr von den anderen verletzen lassen. Ich werde einfach nur ich selbst sein. Das ist gar nicht so schwer, vor allem nicht, wenn man einmal weiß, wie man das Schicksal ändern kann.
Die bleiche Frau wird sich freuen. Ich glaube ihr und werde ihre
Weissagungen erfüllen. Ich habe ihr Astrolabium abgemalt und mich daran versucht, ihre Sterne zu verschieben. Ein unbeabsichtigtes Ergebnis meiner Versuche war, dass sie gestorben ist. Das habe ich nicht gewollt, aber ich will mich nicht herausreden. Es steht außer Frage, dass ich ihren Tod zu verantworten habe. Sie sollte sich freuen.
Zhu Yin wird sich wieder mit mir vertragen. Das steht in ihren Sternen. Dort steht noch einiges mehr über ihre Sehnsüchte.
Beim nächsten Vollmond wird der ganze Jahrgang Nacktfotos von Lina im Posteingang finden. In jener Nacht werden Linas Sterne sehr zerbrechlich werden, sie wird sterben wollen. Sie wird sich am höchsten Pfeiler der Schule erhängen, und ihr üppiger Körper wird dort baumeln wie ein Blatt im Wind. In jener Nacht werden ihr femininer Duft, der Geruch des Todes und der Gestank ihrer Exkremente Zhang Xiaobo anlocken. Er wird ihre Leiche umschwirren wie eine konfuse Arbeitsbiene, betört von den Gerüchen. Nicht einmal der Tod wird ihr den zarten Zimtgeruch des jungen Mädchens rauben. Sie wird bezaubernd sein, bezaubernd wie nie zuvor. Ruhig und gefasst, wie ein Meer von Schokolade, wird sie ihn anlocken. Warum sollte er ausgerechnet dann vorbeikommen, wenn nicht das Schicksal es so wollte? Warum sonst konnte er mitten im Sturm ein Feuer entfachen, wenn nicht das Schicksal es so wollte? Er wird das Seil aufbinden und sie herunterlassen. Ihr Körper wird noch warm sein, voll von der Wärme des Sommers. Ihre von Natur aus dunkle Haut wird strotzen vor Elastizität und Glanz. Besonders anziehend für ihn werden ihre Beine sein, weich und rund und voller Exkremente. In jener Nacht werden ihn ungeahnte Wellen von Hunger und Besessenheit überkommen, das Blut wird in seinen Adern kochen. Der Tod wird seine Adern anschwellen lassen und
ihm ungeahnte Kräfte verleihen. Wenn er die Hände in ihre Bluse steckt und gierig ihre Schokoladenbrüste knetet, wird er nicht mehr das vom Verwesungsgeruch angelockte Insekt sein, nicht mehr verwirrt sein. Er wird sich selbst finden. Er wird die violetten Lippen küssen, und dann wird er zärtlich ihre Zunge umspielen, wieder und wieder, unermüdlich. So wird er zu sich selbst finden, seine Ängste verstehen lernen, seine Sehnsüchte entdecken. Wissen, wer er ist.
Komm zu mir, zärtlicher Geliebter. Das Böse wird unser Band sein.
Von jetzt an kannst du mich verfluchen, wie man sein Schicksal verflucht.
Deine Sterne, das bin ich.
Wenn ich den Spiegel anlächle, weiß ich, dass er mich von der anderen Seite sehen kann. Jetzt ist er der Insasse des Gefängnisses, das er selbst errichtet hat. Ich habe etwas für ihn gekocht, es steht vor ihm auf dem Tisch.
»Das ist das Fleisch der bleichen Frau. Davon wirst du dich fortan ernähren.«
Das ist die Wahrheit. Ich werde gelassen hier abwarten. Früher oder später wird er anfangen zu essen. Er wird glauben, dass ich seine Sterne manipuliert habe, um ihn zum Essen zu bringen.
Aber er irrt sich. Ich habe seine Sterne nicht angerührt. Es war ihm von Geburt an vorbestimmt, dass er die bleiche Frau fressen wird.
»Wenn du die Sterne bewegst, änderst du das Schicksal. Wenn du die Sterne bewegst, zerbrichst du sie. Bewege niemals unbedacht die Sterne«, hat die bleiche Frau gesagt und ist gestorben
.
Heute Nacht sind viele Sterne zerbrochen, und es werden noch viele Sterne mehr zerbrechen. Trotzdem wird der Himmel niemals ganz schwarz werden.
Ein Stern wird für immer leuchten. Ein einzelner Stern wird auf mich verzichten können.