Es war Heiligabend, als der kosmische Beobachter auf den Straßen New Yorks einem einsamen alten Mann begegnete, der sich Salinger nannte. Er war schäbig angezogen, ein armer Schlucker, todkrank vor Hunger und Kälte. Ja, es war der
Jerome David Salinger, der Autor von Der Fänger im Roggen
. Der kosmische Beobachter entschied, dass dieser Mann der Richtige für seine Studien war, und lud ihn zu McDonald’s ein. Während Salinger so verlegen wie gierig seine Chicken McNuggets und seinen Filet-O-Fish verschlang, erzählte er dem kosmischen Beobachter seine Lebensgeschichte.
Nachdem Der Fänger im Roggen
ihn berühmt gemacht hatte, zog er sich in New Hampshire aufs Land zurück. Er kaufte rund neunzig Morgen Ackerland an den Ufern des Connecticut River, errichtete sich auf einer Anhöhe ein Häuschen, pflanzte Bäume, legte ringsum Gärten an und sicherte seinen Besitz mit einem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun, der mit einer Alarmanlage verbunden war. Dort lebte er ein abgeschiedenes Leben.
Es war ein Bilderbuchort, unfassbar schön, ein unberührtes, irdisches Paradies. Das Leben als vorgeblich taubstummer Eremit in einer Hütte fernab der Zivilisation war offensichtlich nicht nur der Traum seiner Figur Holden Caulfield, sondern Salingers eigener. Nachdem er sich in seinem Häuschen niedergelassen hatte, verließ er sein Anwesen nur selten. Jeder Besucher musste sich vorab postalisch oder mit einer schriftlichen
Notiz, die er durch den Zaun reichte, anmelden. Salinger behandelte jedermann vor seinem Tor wie einen Fremden und wechselte kein Wort mit unangemeldeten Gästen. In der Öffentlichkeit sah man ihn so gut wie nie, und selbst wenn er gelegentlich mit seinem Jeep in die Stadt fuhr, um seine Einkäufe zu machen, reduzierte er die Gespräche auf ein Minimum. Sobald ihn jemand auf der Straße grüßte, ergriff er die Flucht. Nur die ersten drei Auflagen von Der Fänger im Roggen
zierte ein Foto des Autors auf dem Schutzumschlag, danach gab der Verleger dem Drängen Salingers nach und verzichtete darauf. Ein Foto von ihm zu finden war so schwierig, dass eine französische Tageszeitung einmal versehentlich das Porträt des Pressesprechers des Weißen Hauses, der ebenfalls mit Nachnamen Salinger hieß, zusammen mit einem Bericht über den berühmten Autor veröffentlichte. Nach seinem anfänglichen Ruhm erlahmte sein Schaffensdrang beträchtlich, und seine Publikationen wurden spärlich. So war er eben, und die großmütige US-amerikanische Öffentlichkeit nahm ihm seine Wahl nicht übel. Hätten sich die Zeiten nicht aufgrund der vom kosmischen Beobachter observierten kosmischen Vorsehung geändert, hätte J. D. Salinger ein zufriedenes Leben in Abgeschiedenheit verbracht, bis er im Alter von einundneunzig Jahren eines natürlichen Todes gestorben wäre. Nichts daran auszusetzen.
Bedauerlicherweise kam ihm seine Lebenslinie ausgerechnet dann in die Quere, als er schon auf dem besten Weg war, in die Anonymität abzutauchen. Schuld daran trug niemand anders als der kosmische Beobachter. Keine Ahnung, was in den Mann gefahren war – fest steht, dass er dafür sorgte, dass die Vereinigten Staaten von Amerika von der Demokratischen Volksrepublik
Korea erobert wurden. Die nordkoreanische Wissenschaft verließ sich bei diesem Unterfangen nicht etwa auf ihre primitiven Nuklearwaffen, sondern setzte den neu geschaffenen Tempospatialen Quantentopolator ein, eine Rundum-sorglos-Superwaffe.
Die Wiedereroberung Südkoreas war für die unbesiegbare nordkoreanische Armee nur der Auftakt für die Eroberung der restlichen Welt. Man muss sagen, dass sich die Koreanische Volksarmee wirklich vorbildlich verhielt, stets diszipliniert und ordentlich, ohne der Bevölkerung der eroberten Staaten auch nur Nadel und Faden zu stehlen. Selbst wenn sich vor Ort keine Barracken fanden, besetzten die Soldaten kein einziges Haus und schliefen lieber auf der Straße. Ihr ganzes Streben galt einzig der Befreiung der Menschheit, einschließlich der Befreiung von Körper und Seele. Die Welt war – ganz so, wie Salinger es in seinem Roman beschrieben hatte – rettungslos degeneriert: Der Kapitalismus hatte den Karren gründlich in den Dreck gefahren. Wie sehr litten die Leute unter mentalen Krisen, wie schnell folgte eine wirtschaftliche Katastrophe der nächsten! Es wurde jeden Tag schlimmer und tags darauf gleich noch schlimmer. Wozu noch leben? Salinger hatte gut daran getan, sich in seine abgeschiedene Hütte zurückzuziehen. Leider war er der Einzige, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Damit hatte er sich in der koreanischen Volksrepublik großen Respekt verschafft, viel größeren als in seiner eigenen Heimat – schlimmer noch: Sein Roman war überhaupt der Grund dafür, dass Nordkorea sich zur Befreiung der Menschheit entschlossen hatte. Diese arglosen, gutherzigen Vertreter der gelben Rasse hatten Salinger in ihr Herz geschlossen. Der Oberbefehlshaber der
Volksarmee persönlich hatte schon früh die Übersetzung von Der Fänger im Roggen
ins Koreanische veranlasst, und Generationen nordkoreanischer Schüler widmeten sich beflissen seiner Lektüre. Der Übersetzer hatte dazu folgendes Vorwort verfasst: Die Jugend unseres sozialistischen Vaterlands, liebevoll umsorgt von der Kommunistischen Partei Koreas, dem Sozialistischen Jugendbund und den Jungen Pionieren, und daher bewehrt mit den hohen Idealen des Kommunismus und gesegnet mit einem prächtigen und lebendigen Geist, ist dazu prädestiniert, bei der Lektüre eines Werks wie
Der Fänger im Roggen ihr eigenes Dasein mit den grauenhaften Lebensumständen im Kapitalismus zu vergleichen und auf diese Weise ihren Horizont zu erweitern und ihr Wissen zu mehren …
Kein Wunder, dass Salinger sich in Nordkorea viel größeren Ruhms erfreute als in den USA – er hatte die glänzende Hülle des Kapitalismus abgeschält, um den darunterliegenden Dreck bloßzulegen.
Die Eroberung der USA störte Salinger aus seinem Eremitendasein auf, denn die Medien, die den Eroberungsfeldzug der Volksarmee begleiteten, stellten ihn in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Eine Gruppe enthusiastischer Reporter stöberte ihn in seiner Hütte in New Hampshire auf und bat um ein Interview. Salinger lehnte wie üblich ab. Bislang hatte er überhaupt nur eine Ausnahme gemacht, für die sechzehnjährige Reporterin einer Schülerzeitung. Das war bislang sein einziges Interview gewesen. Die Journalisten aus Nordkorea, von ihrem Vaterland zu einer heroischen Mission auserkoren, ließen sich indes nicht so leicht abwimmeln. Vorsichtig schnitten sie mit Kneifzangen ein Loch in den Drahtzaun und umstellten Salingers Häuschen mit Kameras, um live über ihn zu berichten.
Salinger blieb stur. Nachdem er drei Tage und Nächte lang seine Tür vor ihnen verschlossen gehalten hatte, riss den Journalisten der Geduldsfaden. Sie waren schließlich die offiziellen Medienvertreter der Demokratischen Volksrepublik Korea. Aber selbstverständlich kamen sie aus einem friedlichen, freundlichen Land und würden sich nicht zu Gewalt hinreißen lassen. Sie hatten eine bessere Idee.
Bei Salinger klingelte das Telefon. Als er abnahm, meldete sich eine tiefe, bedächtige männliche Stimme. »Hier spricht der Leiter der Politischen Propagandaabteilung der Koreanischen Volksarmee. Werter Herr Salinger, wir möchten Sie höflichst ersuchen, unseren Reportern ein Interview zu gewähren, und als Zeichen unseres höchsten Respekts möchten wir Ihnen außerdem das Amt des Vizepräsidenten des nordkoreanischen Schriftstellerverbands antragen …« Salinger legte reflexartig auf. Dann brach er schluchzend zusammen. Das war nicht etwa ein Zeichen politischer Opposition. Er war einfach so.
In den Augen der Nordkoreaner allerdings ging Salinger nicht nur etwas zu weit in seiner aufgeblasenen Selbstmystifizierung, er hatte endgültig die Grenze zur Provokation überschritten. Genug war genug. Salingers Werke wurden im Herrschaftsgebiet Nordkoreas, also in der ganzen Welt, verboten und durften nicht mehr gedruckt werden. Es gab Gerüchte, er hätte in der Abgeschiedenheit mehrere neue Romane verfasst, und die amerikanischen Verleger hatten gehofft, wenigstens nach Salingers Ableben die Rechte an diesen Werken zu erwerben, um sie zu veröffentlichen … Vergeblich.
Als Nächstes wurde Salinger als Bote des korrupten kapitalistischen Lebensstils gebrandmarkt, der die geistige Verschmutzung
der Jugend vorantrieb. Allein der gnädigen und menschenfreundlichen Gesinnung der Koreaner war es zu verdanken, dass er weder eingesperrt wurde noch einen Schauprozess erdulden oder öffentliche Selbstkritik üben musste. Nein, Salinger durfte in seinem Häuschen bleiben. Er war nur nicht mehr ganz so allein, weil Tag und Nacht Personen in unförmiger Zivilkleidung auf seinem Grundstück patrouillierten.
Sein Name wurde nie mehr öffentlich erwähnt, und er war schnell vergessen. Selbst seine leidenschaftlichsten Fans löschten ihn aus ihrem Gedächtnis. Salinger war darüber gar nicht unglücklich, im Gegenteil. Lang lebe die Koreanische Volksarmee!
Er fand allmählich Gefallen daran, seine nordkoreanischen Bewacher durch die Fenster zu beobachten. Wie jung und adrett sie sind
, dachte er. Wie Rentiere aus dem fernen Osten. Und dann diese einzigartige Denkweise! Als würde man die komplexe Welt mithilfe von Bauklötzchen einfach und verständlich machen. Obwohl sie die Welt beherrschen, erinnern mich ihre Sprache und ihr Benehmen an meinen Holden Caulfield.
In der Tat!
Der Gedanke machte Salinger angenehm trunken, wie nach einem guten Glas Wein.
Aber sein Glück hielt nicht lange an. Bald darauf setzte ein groß angelegter Umbau der Wirtschaft ein, mit dem Ziel, die Vereinigten Staaten in ein riesiges Arbeiterparadies zu verwandeln, um dem Land neues Leben einzuhauchen. Unter der Führung der Landreformbrigade der Volksarmee wurde der einheitliche, allumfassende Plan umgesetzt. New Hampshire kam in diesem Plan fraglos eine besondere Rolle zu.
Eines Morgens wurde Salinger durch ohrenbetäubenden Lärm aus dem Schlaf geweckt. Noch ganz benommen, spähte er
aus dem Fenster und sah eine Reihe glänzend aufragender Baekdu Bulldozer, offenbar umgebaute Panzer vom Typ Ch’onma-ho, gegen sein Haus anrücken. Aufgebracht rannte er vor die Tür, was nicht allzu oft vorkam, und beschwerte sich bei den Bauarbeitern über den Verstoß gegen die Unverletzlichkeit des Eigentums. Mit dieser Argumentation hatte er selbstredend wenig Erfolg, vielmehr verriet sie ein tief in Salingers Bewusstsein vergrabenes Geheimnis, eine Wahrheit, die ihm vermutlich selbst bis dato verborgen geblieben war: die unauslöschliche Gier des Menschen nach Besitz und Reichtum. Wirklich tragisch. Sofort packten ihn ein paar nordkoreanische Soldaten mit der Energie junger Kälber und drückten ihn auf den Boden nieder. Die Bulldozer rückten näher und hatten sein Haus im Nu in Schutt und Asche gelegt. Salingers erster Gedanke war, Klage einzureichen, aber dann fiel ihm ein, dass es in den USA keinen Gerichtshof mehr gab. Ihm blieb also nur, sich aus Protest selbst zu verbrennen. Leider war partout kein Streichholz oder Feuerzeug aufzutreiben und, nun ja, im Grunde hatte er furchtbare Angst vor dem Tod. Anders als die Soldaten der koreanischen Volksarmee, die keine Sekunde zögerten, um ihr Leben für ihr Vaterland zu opfern.
So trat der obdachlos gewordene J.D. Salinger seine Wanderschaft durch die USA an. Da sein selbst gewählter Rückzug in die Anonymität dafür gesorgt hatte, dass es keine Fotos von ihm gab, war er jetzt ein Unbekannter, für den niemand einen Penny übrig hatte. Was lernen wir daraus? Wer einmal reich und berühmt geworden ist, tut gut daran, sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Schweigend hatte sich der kosmische Beobachter Salingers
Lebensbeichte angehört. Er sah keinen Grund, den Koreanern einen Vorwurf zu machen. Sie hatten getan, was sie tun mussten, und schließlich hatten sie die Menschheit tatsächlich befreit und sie vor der unaufhaltsamen Auslöschung durch das kapitalistische Chaos bewahrt. Salinger hatte sich selbst herabgewürdigt. Einfacher gesagt: Salingers Schicksal bestätigte das Ende der Gewissheit. Das war eine der simpelsten, leider allzu oft ignorierten Regeln des Universums. Alles war in endlosem Wandel begriffen. Das hatte etwas mit Quantenmechanik und Entropiezunahme zu tun. Wer nicht einmal das verstand, konnte wohl niemals begreifen, warum der Schöpfer des Universums Nordkorea geschaffen hatte. Die Koreaner hatten die Regeln unzweifelhaft begriffen. In dieser Welt, in einer solchen Zeitlinie konnte sich niemand erlauben, auf irgendwen herabzusehen oder ihn zu unterschätzen. Über Nacht konnten die Letzten die Ersten sein und die Welt auf den Kopf stellen.
Letztendlich beneidete der kosmische Beobachter die Koreaner. Leider konnte er kein Koreaner sein, denn er war Chinese. Koreaner, gar Nordkoreaner zu sein war nun einmal nicht jedermann vergönnt. Da er Chinese war, waren seine Weltsicht und Methoden von vornherein durch die Gesetze der Natur beschränkt. Er war immer nur Beobachter, kein Handelnder. Dabei war er es, der den Wandel herbeigeführt hatte, an dem er selbst nicht teilhaben konnte. Die Nordkoreaner waren noch jung, während er selbst schon ziemlich alt war. Das war die ultimative Einsamkeit. Ob die Koreaner das schon einmal erlebt hatten?
Der kosmische Beobachter sah sich diesen legendären Schriftsteller noch einmal genauer an, wie er dort saß, sich die Nase
schnäuzte und verstohlen ein paar Fritten in seine Taschen stopfte. Als ob das nicht schon tragisch genug wäre, hatte ausgerechnet dieser Mann, bevor die Dinge eine Wendung nahmen, einen verblüffenden Bestseller geschrieben. Besorgt fragte sich der kosmische Beobachter: Vielleicht war es das? Hatte etwa das Buch die Linie der Zeit durchbrochen und bewirkt, dass sie keine andere Richtung mehr einschlagen konnte? Schließlich hatten die Koreaner eben erst mit dem Umbau der Welt begonnen … Nun, wer konnte das wissen? Das war einfach zu viel für einen einzelnen Denkapparat.