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Als ich ein Jahr alt war, nahm meine Mutter – so erzählte sie mir später – mich auf den Arm, um mit mir einkaufen zu gehen, und auf der Straße begegnete sie einem buddhistischen Mönch.
Der Mönch streichelte mir den Kopf, der damals genauso kahl war wie sein eigener, und murmelte einige Worte, die wie die Verse eines Gedichts klangen. Als meine Mutter nach Hause zurückgekehrt war, erzählte sie meinem Vater davon, und mein Vater, der ein wenig mehr Bildung als meine Mutter genossen und immerhin die neunte Klasse abgeschlossen hatte, erkannte, dass es sich nicht um ein Gedicht, sondern um ein Koan handelte. Er notierte sich die wenigen Bruchstücke, an die sich meine Mutter noch erinnerte, doch erst mithilfe des Dorfschullehrers fand er den vollen Wortlaut jenes Koans heraus, das mein Schicksal bestimmen sollte.
Wolken treiben am Himmel, und die Leere wird offenbar.
Die Wahrheit ist frei von Staub.
Immer wieder fragt der Mönch: »Was hat die Lehre zu bedeuten, die der Patriarch nach China gebracht hat?«
Doch der Meister zeigt nur auf die Zypresse im Hof.
Meine Eltern vermuteten, dass sich hinter diesen Worten irgendein tieferes Geheimnis verbarg, und deshalb gaben sie mir einen neuen Namen: Chongbai (»Immer wieder Zypresse«).
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Ich heiße Zhou Chongbai, und ich bin eine Teigtasche, die in einem Dämpfaufsatz gegart wird.
Alle atmen sie in einem fort ein und aus, und dabei starren sie auf die weißen Atemwolken, die aus den Mündern der andern kommen, als wären sie Cartoonfiguren, aus deren Köpfen Denkblasen mit logischen Überlegungen, nackten Frauen oder erstarrten Flüchen aufsteigen. Dann verflüchtigt sich der Dunst, bis nichts als aufgedunsene, grobe Gesichter zurückbleiben. Unter dem kreischenden Röhren des Luftreinigers setzen sich die Mädchen in der hinteren Reihe schweigend ihren Mundschutz auf, gleiten mit den Fingern über ihre Handys und runzeln die Stirn.
Ich muss nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es schon nach Mitternacht ist. Auf WeChat antwortet meine Frau mir nicht mehr.
Man hat mich auf die Schnelle hierherkommandiert. Meine Frau und ich waren gerade auf dem Heimweg von einem Spaziergang. Auf einer Fußgängerbrücke kamen wir an einem Kerl in einem Armeemantel vorbei, der uns mit einer so tiefen, klangvollen Stimme, dass wir beide zusammenzuckten, zurief: »Am 4. Januar fällt der Meteorschauer der Quadrantiden auf die Erde, das dürfen Sie nicht verpassen …«
Ich wartete auf das, was man im Marketingjargon einen »Call to action« nennt – »Treten Sie dem Club XY bei« oder »Rufen Sie unsere Hotline an«. Er hätte auch ein einfaches Teleskop oder etwas dergleichen aus seiner Manteltasche ziehen können
mit den Worten »Jetzt nur noch 88 Yuan!«. All das wäre als erfolgreiche Verkaufsstrategie durchgegangen. Aber stattdessen wiederholte er nur so monoton wie ein Anrufbeantworter: »Am 4. Januar fällt der Meteorschauer der Quadrantiden …«
Mission gescheitert.
Enttäuscht ließen wir ihn stehen. In diesem Moment klingelte mein Handy.
Es war Lao Xu. Schuldbewusst lugte ich zu meiner Frau hinüber, die reflexartig ihre missmutige Miene aufsetzte. Trotzdem nahm ich den Anruf entgegen, und so bin ich hier in diesem Raum gelandet.
»Deine Mutter«, gab mir meine Frau noch mit auf den Weg, »soll uns bloß nicht mehr die Ohren volljammern, wie sehr sie sich einen Enkel wünscht – du bist doch so ein Waschlappen, da hat sie doch schon ein Baby!«
»Chongbai!« Lao Xu reißt mich aus meinen Gedanken zurück in die giftgeschwängerte Luft. Angeblich leben er und seine Frau schon seit drei Jahren getrennt. Der Grund ist unklar – ich weiß nur, dass er mir manchmal seltsam nachdrücklich auf die Schulter klopft. »Du bist für die Strategie verantwortlich, also lass mal hören, was deine Meinung ist!«
Ich spähe durch die Rauchschwaden und versuche das hingekritzelte Kauderwelsch auf dem Whiteboard zu entziffern: User Insights, Selling Points, Marktrecherche … Bunte Markerlinien verbinden die Wörter zu Drei-, Fünf-, Sechs- und Siebenecken. Nichts als Bockmist. Reiner Bullshit.
Der Druck im Dämpfer steigt unaufhörlich. Schweißtropfen bilden sich auf meiner Stirn, rollen über meine Wangen, tropfen von meinem Kinn
.
»Ganz schön heiß, was? Hier, wisch dir mal das Gesicht ab.« Lao Xu hält mir ein zerknittertes Papiertaschentuch von ominöser Farbe hin. Ich wage nicht, es zurückzuweisen.
»Herr Wan war ziemlich unzufrieden mit unserem letzten Marketingkonzept. Er wollte schon die Agentur wechseln. Für diesmal konnte ich ihn noch bei uns halten, aber wenn wir es jetzt wieder vermasseln, sollte dir klar sein, was das bedeutet.«
Das billige Taschentuch löst sich auf und bleibt in Fetzen an meinem Gesicht kleben.
Herr Wan ist unser Gott. Er ist der Boss eines Internetunternehmens. Von zehn Leuten, die einen in den Straßen von Zhongguancun, dem »Silicon Valley Chinas«, ansprechen, betreibt einer Netzwerk-Marketing, zwei ein Schneeballsystem, drei verkünden die Gegenwart des Heilands, und alle anderen sind irgendwelche CEOs von irgendwelchen IT-Start-ups. Aber wenn man diese zehn in einem dreiminütigen Rededuell Mann gegen Mann gegeneinander antreten lassen würde, würde die letzte Gruppe ganz gewiss einen triumphalen Sieg davontragen. Denn diese Leute wollen dir nicht bloß irgendeine Sache verkaufen – sie wollen dir eine Idee verkaufen, die die Welt verändert. Sie sprechen nicht für die Götter, sie sind
die Götter.
Solch ein Gott ist Herr Wan.
Dank Lao Xus Bemühungen ist es unserer mickrigen kleinen Agentur geglückt, ihn als Kunden zu gewinnen. Nun geben wir für ihn die Dollars, Euros, Yen und Yuan aus, die in immer neuen Schüben von diversen Unternehmensengeln und Private-Equity-Fonds hereinfließen, und helfen seiner Firma, den Markt für seine App zu erweitern, den Bekanntheitsgrad seines Produkts zu erhöhen und die täglichen Useraktivitäten zu steigern,
damit Herr Wan mit den neuen Zahlen noch mehr Investitionen an Land ziehen kann.
Das Laufrad dreht sich immer weiter.
Aber was ist der springende Punkt?
»Und? Was ist jetzt der springende Punkt?« Lao Xus spröde Stimme trifft mich wie eine U-Bahn, die durch einen Tunnel auf mich zurauscht. Eine unsichtbare Kraft presst so heftig auf mich ein, dass mir schwarz vor Augen wird. Schwankend stehe ich auf und meide die Blicke der anderen. Ich fühle mich, als würde ich eine zweidimensionale Welt bewohnen: Mein Körper besteht aus lauter Punkten, ich kann sie nur nicht sehen.
»Es … es gibt da ein Problem mit dem Produkt.« Ich rechne damit, von Lao Xu heruntergeputzt zu werden, und ducke mich vorsorglich.
»Und mehr als so eine beschissene Floskel hast du uns nicht zu sagen?«
Ich verstumme.
Wans Mitgründer – nennen wir ihn Y – ist ein ehemaliger Kommilitone von ihm von der USTC. Wan hat Y, der lange in den USA gelebt hat, dazu beschwatzt, nach China zurückzukehren und ein Schlüsselpatent von ihm in den Aufbau der Firma zu stecken. Bei diesem Patent handelt es sich um eine digitale Wasserzeichentechnologie, die nicht leicht zu erklären ist, weil sie Kenntnisse in Informatik und Mathematik voraussetzt.
Um ein simples Beispiel zu geben: Angenommen, man macht ein Foto und versieht es mithilfe von Ys patentierter Technologie mit einem digitalen Wasserzeichen, das für das bloße Auge unsichtbar ist, dann kann man, egal, wie sehr das Foto später bearbeitet wird – selbst wenn achtzig Prozent einfach
weggeschnitten werden –, mit einem speziellen Algorithmus immer noch das Originalbild rekonstruieren. Das Geheimnis besteht darin, dass das unsichtbare Wasserzeichen selbst alle Informationen über das Foto zum Zeitpunkt seiner Anwendung in sich trägt.
Dies ist natürlich nur die einfachste Anwendungsmöglichkeit für diese Technologie. Sie könnte zur Echtheitsüberprüfung in vielen Bereichen – zum Beispiel Medien, Finanzen, Kriminalistik, militärische Sicherheit oder Medizin – benutzt werden. Die Anwendungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt.
Aber nachdem Y nach China zurückgekehrt war, mussten die beiden Mitgründer entdecken, dass die Schlüsselbranchen, an denen sie interessiert waren, für Außenstehende kaum zugänglich waren. Die Schwierigkeit lag nicht etwa darin, dass die Schranken so hoch gewesen wären, sondern darin, dass man diese Schranken noch nicht einmal erkennen konnte. Nach wiederholten Rückschlägen wählten beide deshalb notgedrungen einen Umweg: Sie stiegen fürs Erste in die Unterhaltungsbranche ein, in der Hoffnung, wenn ihre Technologie erst einmal bei den einfachen Verbrauchern Anklang gefunden hätte, würde sie sich ausbreiten und allmählich auch im Unternehmensumfeld Fuß fassen.
Herr Wan führt ständig das Wort »sexy« im Mund, als wäre dies der einzige Maßstab, um alles in der Welt zu messen. Aber sein Produkt ähnelt eher einer löchrigen Gummipuppe, die schlaff und zerknittert im Schatten vor sich hin schrumpelt.
»Warum benutzt ihr das Produkt unseres Kunden denn nicht?«, blafft Lao Xu die jungen Dinger an, die hinten an der Wand sitzen
.
Prompt erbleichen ihre hübschen Gesichtchen, während sie angestrengt so tun, als würden sie Notizen machen.
Wenn man »Truthgram« – so heißt Wans App – benutzt, wird jedes Foto, das man damit macht, automatisch mit einem digitalen Wasserzeichen versehen, und egal, wie oft das Foto weiterverschickt und wie stark es mit Photoshop bearbeitet wird, ein Tastendruck genügt, und das Original ist wiederhergestellt. Das Marketing konzentrierte sich anfangs auf den Sicherheitsaspekt: Mit
Truthgram muss sich meine Mutter nie mehr Sorgen machen, dass mein Gesicht auf einem gefakten Pornofoto auftaucht.
Wir haben für die Firma nicht nur neue Vertriebskanäle erschlossen, sondern auch eine Web-Marketingaktion namens »Stunde der Wahrheit« konzipiert. Dafür rekrutierten wir hundert junge Frauen, denen wir für ihre Selfies »Truthgram« zur Verfügung stellten. Die Fotos bearbeiteten wir so lange mit Photoshop, bis alle Frauen wie Göttinnen aussahen. Dann stellten wir die Fotos zusammen mit einer animierten GIF-Datei ins Internet, die erklärte, wie man Wans App herunterladen konnte, um die Wahrheit zu enthüllen: »Mach aus der Schönen das Biest in nicht einmal einer Sekunde!«
Bei den männlichen Usern – oder vielmehr: Losern – fand die Aktion ein begeistertes Echo: Sie produzierten eine Vielfalt von nutzergenerierten Inhalten, indem sie unseren Werbegag aufgriffen und kreativ abwandelten. Die weiblichen User dagegen schäumten vor Wut und schimpften auf unser Produkt: Es mache sich einen Spaß daraus, Frauen zu diffamieren und ihr legitimes Schönheitsstreben als pervers-narzisstischen Betrugsversuch zu verunglimpfen. Wir beschworen mit unserer Aktion sogar eine mittlere PR-Krise herauf
.
Ich für meinen Teil fand, wir hatten genau unser Ziel erreicht: Wer einen Markt erschließen will, muss so präzise wie mit einer Nadel den wunden Punkt seiner potenziellen Kunden treffen. Er muss sie emotional packen, und wenn dabei kein Blut fließt, ist die Nadel entweder zu stumpf, oder sie hat ihr Ziel verfehlt.
Aber Herr Wan war von Anfang an der Meinung, unsere Aktion könnte nur kurzzeitig ein wenig Aufmerksamkeit erregen und würde langfristig dem Image seines Produkts schaden. Die Zahlen gaben ihm recht: Nach einem kurzen Hoch sackten die Download-Zahlen bald in den Keller und erholten sich nie mehr. Selbst die männlichen User, die wir mit unserer Aktion gewonnen hatten, machten mit der Zeit keinen Gebrauch mehr von der App, weil wir es versäumt hatten, sie mit ständig neuen Inhalten zu füttern.
»Ich mache mir kaum Gedanken darüber, ob meine Fotos sicher sind. Mir ist es wichtiger, dass die Leute mich von meiner schönsten Seite zu sehen bekommen«, erklärte ein durchschnittlich aussehendes Mädchen im Rahmen einer Nutzerbefragung. Das Fotoalbum auf ihrem Handy quoll über von unzähligen Selfies, die so übertrieben aufgehübscht waren, dass keines von ihnen ihr mehr ähnelte. Trotzdem hielt sie alle dreißig Minuten ihr Handy in einem 45-Grad-Winkel über sich, schürzte die Lippen zu einem Lächeln und schoss ein Foto von sich.
Wenn das Fundament eines Turms auf einer Wanderdüne am Strand erbaut ist, kann man kaum erwarten, dass der Turm steht, bis die Flut kommt.
Lao Xu starrt mich an, und ich starre das Whiteboard an; das Whiteboard starrt uns alle an, und wir alle starren unsere Handys an. Wir ähneln einem Vogelschwarm, der sich im Smog verirrt
hat. Abgelenkt von den flimmernden Monitoren um uns herum, haben wir völlig vergessen, in welche Richtung wir eigentlich fliegen wollen. Unterdessen ist die kalte Nacht hereingebrochen, und Raubtiere schleichen mit knurrenden Mägen heran.
Mein Handy piept zur Warnung, dass ihm der Strom ausgeht. Statt Strom zu sparen, besteht meine instinktive Reaktion darin, mir die jüngsten Posts meiner WeChat-Kontakte anzusehen, so als müsste ich unbedingt noch das letzte bisschen Saft in meinem Handy weidlich auskosten, statt ihn an irgendwelche unsichtbaren Hintergrundprozesse zu vergeuden. So sieht nun einmal meine Lebensphilosophie aus.
Ich sehe mir Herrn Wans neueste Posts an, und plötzlich platzt die Teigtasche, und die Füllung spritzt heraus.
»Ich hab’s!«, schreie ich und schlage auf den Tisch, sodass alle um mich herum aus ihrem Dämmerzustand aufschrecken.
Ich halte Lao Xu mein Handy unter die Nase.
Unter seinem Profilbild hat Herr Wan ein Foto von einem Fluss und dazu den folgenden Kommentar gepostet:
An diesem Sonnabend, dem fünfzehnten Tag des sechsten Monats nach dem Mondkalender, werde ich am Ufer des Wenyu-Flusses Eier tragende Schnecken, Vögel, Reptilien, Fische und andere Kreaturen aus der Gefangenschaft herauskaufen und befreien. Durch diese barmherzige Tat will ich auf dem Pfad des Buddha wandeln und die Sünden früherer Leben abbüßen. Möge der Buddha meine gute Tat belohnen, indem er den Alten seinen Segen und ein langes Leben schenkt, der mittleren Generation ein glückliches Familienleben und den Kindern Weisheit und Gesundheit! Ich
wünsche allen einen segensreichen Sonnabend! (Wer mitmachen will, kann sich gern mit Spenden auf dieses Alipay-Konto beteiligen: XXXXXX. Je mehr Geld, desto mehr gutes Karma! Auch wer diesen Post teilt, erwirbt sich schon Verdienste.)
»Sind die jetzt schon so knapp bei Kasse?« Lao Xu macht große Augen. »Die Rechnung von diesem Moment haben sie auch noch nicht bezahlt!«
»Lies weiter.« Ich scrolle mit dem Finger über das Display. Auf der dynamischen Zeitleiste von Wans Thread lösen Hightech-Nachrichten und buddhistische Erbauungshäppchen einander ab – ein Gemisch aus Koffeintabletten und Hühnersuppe für die Seele. »Das scheint seine zweite Leidenschaft zu sein.«
»Na und?«
»Warum teilen jeden Tag so viele Leute diese Posts über irgendwelche guten Taten, mit denen man den Schutz des Buddha erlangt? Sind sie wirklich so gläubig? Das bezweifle ich. Seine Fotos fälschungssicher zu machen ist vielleicht kein menschliches Grundbedürfnis, aber das Gefühl
von Sicherheit ist etwas, das die Chinesen heutzutage dringender denn je brauchen. Also müssen wir nur zwischen unserem Produkt und diesem psychologischen Bedürfnis eine starke Verbindung schaffen.«
»Geht’s auch ein bisschen konkreter?«
»Überlegt doch mal: Was für Posts würdet ihr teilen, um euch sicherer zu fühlen?«, frage ich in die Runde.
»Mantras!« »Buddhabilder!« »Posts zu Buddhas Geburtstag und anderen Geburtstagsfesten!« »Weisheitssprüche von Gurus!«
»Und an was für Posts würdet ihr nicht nur glauben, sondern auch noch Geld dafür herausrücken?
«
Alle versinken eine Weile in Grübeln, bis sich ein Mädchen schüchtern zu Wort meldet: »Etwas, das mit dem göttlichen Licht ge… gesegnet ist …«
»Bingo!«
Stille senkt sich über den Raum. Lao Xu steht auf und tritt mit steinerner Miene hinter mich.
Ich höre ein lautes Klirren, und ein kalter Wind strömt in meinen Nacken und unter mein Hemd, als hätte man einen Eimer Eiswasser hineingeschüttet. Im Nu lösen sich die Dunstschwaden im Zimmer auf.
»Bist du jetzt wach?« Lao Xu schließt das Fenster wieder. »Und nun erklär es mir noch mal, aber red endlich Klartext!«
Ich blicke ihm in die Augen und betone jede Silbe. »Wir suchen uns einen großen Meister und bitten ihn, ›das Licht herabzuholen‹ auf die App, also sie zu segnen. Dann wird jedes Foto, das man damit macht, zu einem Schutzzauber. Wir schaffen eine Sharing Economy der Segnungen.«
Alle heben ihre Blicke vom Handydisplay zu mir, ich starre Lao Xu an, und der schweigt und starrt das Handy an.
Endlich atmet er tief aus. »Die siebenhundert Rinpoches im Chaoyang-Bezirk werden dir deswegen ganz schön auf die Pelle rücken.«
Ich habe keine Ahnung, was ich damit losgetreten habe.
10
Meine Frau ist eine Neoludditin. Als Jugendliche war sie eine so fanatische Computerspielerin, dass ihre Eltern sie in ein
Sommercamp für internetsüchtige Teenager schickten. Als sie wieder zurückkam, hatte sich ihre Einstellung um hundertachtzig Grad gewandelt.
Ich habe sie oft gefragt, was damals in diesem Camp namens »Nirvana-Plan« auf dem Phönixberg eigentlich geschehen ist.
Sie hat mir nie offen geantwortet.
Nirgends liegen unsere Ansichten so weit auseinander wie bei diesem Thema. Sie glaubt, die Hightech-Branche unterscheide sich ungeachtet ihrer äußeren umwälzenden Innovationskraft im Grunde nicht vom ältesten Geschäft der Welt: Sie nutze auch nur die Schwächen der geschundenen menschlichen Durchschnittsseele aus, um unter dem Vorwand von Fortschritt, Erhebung und Erlösung die Gefühle der Massen zu manipulieren. Egal, ob man die Bibel oder ein iPad in der Hand halte, man bete zum selben Gott.
»Wir geben den Leuten nur, was sie wollen: Trost, Freude und ein Gefühl von Sicherheit«, habe ich ihr immer widersprochen. »Die Leute träumen davon, sich zu verbessern und sich von der Masse abzuheben, und wir dürfen ihnen diese Sehnsucht nicht nehmen.«
»Ach, hör doch auf, dich so wichtig zu machen!«, erwiderte sie dann. »Ihr spielt doch nur mit den Leuten, um euren Wunsch nach Kontrolle zu befriedigen.«
»So ein Unsinn!«, konterte ich. »Das sind erwachsene Menschen, die haben ihren eigenen Kopf! Niemand kann hier irgendjemanden kontrollieren.«
»NPCs.«
»Was soll denn das jetzt sein?«
»Non-Player Characters. Nicht-Spieler-Figuren. Was, wenn
hinter den Kulissen alles von unsichtbaren Hintergrundprozessen gesteuert wird? Dann beeinflusst du mit allem, was du tust, die Spiellogik, und das System reagiert darauf mit NPCs, die gemäß ihren vorprogrammierten Routinen agieren.«
Ich starrte sie an und hatte das Gefühl, ich wüsste in Wahrheit nichts von ihr. Mich beschlich sogar der Verdacht, sie könnte irgendeiner neuen Sekte angehören.
»Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?«
»Ich gehe jetzt mit dem Hund Gassi. Um diese Uhrzeit sind die Straßen noch nicht so voller Hundescheiße.«
11
Jeden Morgen, wenn die Klosterglocke fünf Uhr schlägt, ist es für mich an der Zeit, aufzustehen und den Boden zu fegen – von der neuen Bibliothek die langen hölzernen Wandelgänge entlang zu den steinernen Treppenstufen und von dort weiter bis zum Eingangstor, vor dem der tausendjährige Schnurbaum seine knorrigen Äste reckt wie eine wilde Bestie ihre Klauen.
Ob ich dabei im Stillen das Surangama-Sutra
, das Lotos-Sutra
oder das Diamant-Sutra
rezitiere, hängt von der täglichen Feinstaubbelastung ab. Aber egal, wie sehr mein Rachen von der verschmutzten Luft schmerzt, ich konzentriere mich auf mein Sutra.
Jeder der Gläubigen, die das Kloster besuchen, kann mir auf den ersten Blick ansehen, dass ich kein Mönch bin. Genau wie die anderen Laienanhänger, die zu Wochenendseminaren hierherkommen, suche ich hier nur eine Zuflucht vor der Welt da draußen
.
Ich ähnle den Kunden in dem Laden, der vor dem Yonghe-Tempel elektronische »Buddha-Schatullen« und andere buddhistische Utensilien verkauft: Sie stellen die Schatulle, die sie dort erworben haben, bei sich zu Hause auf, damit sie auf Knopfdruck Sutras singt und zu jeder vollen Stunde (oder zu anderen festen Zeiten) ein Läuten von sich gibt, das so tief und andächtig tönt wie eine Tempelglocke. Anscheinend glauben die Käufer, sie könnten sich auf diese Weise von ihrem schlechten Karma reinwaschen. Ich stelle mir gern vor, wie in der U-Bahn-Linie 2, in deren Wagen all die Besucher des Yonghe-Tempels gequetscht sind wie Sardinen in der Dose, alle Buddha-Schatullen gleichzeitig erklingen. Vielleicht meint der Zustand der Zen-Meditation nichts anderes als einen solchen Moment der Loslösung vom realen Leben.
Jetzt, da ich zum Vegetarier geworden bin, wie es sich für einen Buddhisten gehört, vermisse ich das Restaurant nahe dem Yonghe-Tempel mit dem in scharfer Soße geschmorten Fleisch.
Mein Handy habe ich abgemeldet und alle meine Social-Media-Accounts gelöscht; meine Frau ist allein in ihre alte Heimat zurückgekehrt; ich habe sogar einen Ordensnamen angenommen: Chenwu (»Frei vom irdischen Staub«). Ich hoffe nur, dass diese Verrückten mich nicht mehr finden.
Ich habe die Nase voll.
Alles begann in der Nacht, in der ich auf meine verrückte Idee kam.
Herr Wan biss an. Noch in derselben Nacht trommelte er seine Ingenieure zusammen, damit sie das neue Produkt entwickelten. Lao Xu entwarf den Marketingplan und die Strategie, aber den entscheidenden Teil übertrug er wie selbstverständlich mir
.
Ich musste einen namhaften Mönch finden, der bereit war, unsere App einzusegnen.
Lao Xu verlangte, dass alles filmisch dokumentiert wurde, damit das Video viral gehen konnte. Ich versuchte mich mit allen möglichen Ausflüchten seinem Auftrag zu entziehen: Meine Familie sei seit drei Generationen christlich; meine Frau sei schwanger, und deshalb dürfe sie weder mit roher Nahrung oder Tierhaaren noch mit irgendwelchen okkulten Phänomenen in Berührung kommen.
Aber Lao Xu fertigte mich mit nur einem Satz ab: »Das war deine Idee – wenn du das jetzt nicht durchziehen willst, brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen, kapiert?«
Also klapperte ich alle bekannten alten Tempel weit und breit ab und besuchte jeden halbwegs angesehenen Mönch, den ich auftreiben konnte, sogar die Lamas, die in irgendwelchen verborgenen Winkeln der Stadt ein Eremitendasein führen. Aber jedes Mal, wenn wir uns über den Preis einig geworden waren und ich die Kamera herausholte, verfinsterte sich das Gesicht des jeweiligen Meisters, er murmelte ein paar Mal »Amitabha«, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und suchte das Weite.
Einige Male versuchten wir es auch mit versteckter Kamera, aber die Schwaden von abgebranntem Räucherwerk und das Kameragewackel machten die Ergebnisse unbrauchbar.
Als die Deadline näher rückte, konnte ich kaum noch ein Auge zutun und wälzte mich die ganze Nacht im Bett. »Was treibst du denn da?«, fragte mich meine Frau. – »Ich rolle einen Mehlfladen«, witzelte ich.
Sie gab mir einen Tritt. »Roll deinen Fladen auf dem Boden und hör gefälligst auf, hier im Bett das Nudelholz zu spielen.
«
Ihr Tritt weckte meine Lebensgeister, und prompt hatte ich eine Eingebung.
Wans neue App kam pünktlich auf den Markt. Lao Xu war so aufgedreht wie sein Land Rover und brachte uns alle auf Hochtouren. Wir entwickelten immer neue Videos, Konzepte und Kampagnen, und bald ging ein Video viral, das einen ehrwürdigen Mönch dabei zeigte, wie er ein Handy weihte. Unsere »Buddhagram«-App eroberte WeChat und Weibo wie im Sturm. Die Zahl der Downloads und der täglichen Useraktivitäten schoss in die Höhe wie eine Rakete, die mit Fluchtgeschwindigkeit auf die Wolken zusteuert.
Ich habe keine Ahnung, wie sich dieses Wachstum auf den langfristigen Markenwert auswirkte oder was es für die spätere Entwicklung und Anwendung der digitalen Wasserzeichentechnologie zu bedeuten hatte. Diese Fragen musste Herr Wan beantworten. Ich war nur ein verschrobener kleiner Stratege in einer drittklassigen Marketingfirma. Ich konnte mich nur Problemen widmen, die ich mit meinen eigenen Methoden lösen konnte.
Wir unterschätzten die Kreativität der User. Wie sich herausstellte, reichte bei Fotos, die mit »Buddhagram« aufgenommen waren, schon eine Kopie in niedriger Auflösung oder ein herausgeschnittenes Teilstück, um mithilfe des digitalen Wasserzeichens ein Foto wiederherzustellen, das qualitativ kaum vom Original zu unterscheiden war. Also konnte man die Fotos mit wenig Zeit und Mühe weiterverbreiten. Um die Gunst der Stunde zu nutzen, lancierten wir eine Reihe neuer Anzeigen, die diese unverhoffte Stärke unseres Produkts ins rechte Licht rückten.
Die Downloadkurve stieg wieder nach oben. Aber was dann geschah, übertraf alle Erwartungen
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Es begann mit dem Foto eines Apfels, das mit »Buddhagram« aufgenommen war. Eine Woche später postete derselbe User ein neues Foto von demselben Apfel: Anscheinend verfaulte er deutlich langsamer als andere Äpfel.
Kurz danach tauchten Fotos von kranken Haustieren auf, die auf wundersame Weise genesen waren, nachdem ihre Besitzer sie mit »Buddhagram« fotografiert hatten.
Dann behauptete eine alte Dame, nachdem sie ein Selfie mit »Buddhagram« gemacht habe, habe sie einen tödlichen Autounfall überlebt.
Gerüchte wie diese wirbelten immer mehr Staub auf. Für sich genommen, wirkte jedes von ihnen wie ein schlechter Aprilscherz, aber hinter jeder Geschichte stand ein Zeuge, der Stein und Bein schwor, dass sich alles genau so zugetragen hatte, und die Zahl der Gläubigen wuchs lawinenartig an.
Die Posts wurden immer absurder. Krebskranke im Endstadium posteten Selfies von ihren täglich schrumpfenden Tumoren; Paare mit unerfülltem Kinderwunsch machten mit Nacktselfies ihren Traum wahr; junge Wanderarbeiter gewannen dank Gruppenselfies in der Lotterie den Hauptgewinn.
Reißerische Nachrichten wie diese, die man sonst nur in der Revolverpresse erwarten würde, gab es in den Social-Media-Plattformen wie Sand am Meer, und alle Fotos wurden unter dem Hashtag »Buddhagram« hochgeladen. Wir alle glaubten, dahinter stünde bloß eine von der Firma bezahlte Meinungsmache.
Aber wir lagen falsch.
Angeblich hörte das Handy von Herrn Wan gar nicht mehr auf zu klingeln. Die Anrufer waren Investoren, und wenn sie
nicht nach einer Investitionsmöglichkeit fragten, dann fragten sie: Wer ist der Mönch, der die App geweiht hat?
Der Gedanke dahinter war simpel: Wenn schon die bloße Segnung einer App solche wundersamen Wirkungen zeitigte, welche weltbewegenden Wunder würden sich dann erst ereignen, wenn man den mysteriösen Mönch noch für andere Riten gewinnen könnte! Nicht nur die Investoren kamen auf diesen Gedanken, sondern auch Abermillionen von Usern.
In unserer Zeit macht sich die Wahrheit so rar wie die Tugend, aber was noch tragischer ist: Selbst wenn man den Leuten die Wahrheit direkt unter die Nase reibt, zweifeln die meisten lieber an ihrer Echtheit und glauben die Wahrheit, die sie sich selbst zusammengesponnen haben.
Bald sickerten meine Kontaktdaten an die Öffentlichkeit. Ob per E-Mail, Handy oder SMS, alle schrien mir dieselbe Frage entgegen: Wer ist denn nun dieser Mönch?
Mit der Antwort konnte ich unmöglich herausrücken. Aber ich wusste, dass sie früher oder später selbst darauf stoßen würden.
Massen von Usern spürten schließlich im Internet den vermeintlichen Mönch und seine Jünger aus dem viralen Video auf – ein Haufen Schauspieler, die ein Freund für mich unter der Masse von Komparsen ausgesucht hatte, die in den Hengdian World Studios auf ihren Einsatz gewartet hatten. Weil sie einfache Leute in der Qing-Dynastie darstellen sollten, waren ihre Köpfe schon so kahl geschoren wie die von Mönchen, was die Verhandlungen wesentlich erleichterte. Als Statisten, die von einer großen Schauspielerkarriere träumten, legten sie sich mächtig ins Zeug, und der Hauptdarsteller stritt sich sogar mit
der Maskenbildnerin darüber, wie sie die Brandnarben auf seinem Schädel, die seine Mönchsweihe anzeigten, anordnen sollte. All das steigerte meine Sorge nur noch.
Es waren anständige Jungs. Die Schuld lag allein bei mir.
Die Schauspieler hatten keine ruhige Minute mehr. Ein wütender Internetmob beschimpfte sie und ihre Familien auf das Übelste und zwang sie zu gestehen, was ohnehin offen zutage lag: Sie waren nichts als Laienschauspieler, die von unserer Firma angeheuert worden waren, um den Mönch und seine Jünger zu mimen.
Trotzdem hielten die Leute noch immer an ihrer eigenen Sicht der Dinge fest: Sie glaubten, die Firma oder ich würde den wahren Meister vor ihnen verbergen. Aus Egoismus oder Gier würde ich ihn der Öffentlichkeit vorenthalten und ihn daran hindern, seine magischen Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.
Nein, das tat ich wirklich nicht.
Lao Xu machte die Firma vorübergehend dicht, nachdem jeden Tag ein Haufen älterer Frauen vor unserem Gebäude aufmarschiert war und seine Protestbanner geschwenkt hatte. Wir hätten damit leben können, aber die Hausverwaltung konnte es nicht. Lao Xu schickte uns alle in einen bezahlten Urlaub in der Hoffnung, dass sich die Wogen bald wieder glätten würden. Mir gab er den guten Rat mit, ich solle am besten aus der Schusslinie verschwinden und mich ein paar Tage in meiner Heimatstadt verkriechen. Schließlich könne jeden Tag ein unheilbar Kranker, der vor Verzweiflung außer Kontrolle sei, mit seiner Familie im Schlepptau vor meiner Tür aufkreuzen und von mir verlangen, ich solle die WeChat-ID meines Meisters herausrücken
.
Ich denke, er hatte recht. Ich durfte meine Familie nicht in die Angelegenheit hineinziehen.
Also bin ich, nachdem ich alles geplant und arrangiert hatte, ein Kehrer in diesem alten Kloster geworden.
Die Glocke hat neun Mal geläutet – die Morgenandacht ist beendet. Jeder begibt sich an seinen Platz. Heute ist das Kloster für die Öffentlichkeit zugänglich, und der Abt, der ehrwürdige Meister Deta, wird eine Gruppe von VIP-Gläubigen aus der Internetbranche empfangen und einen Gesprächssalon zur Beziehung zwischen Buddhismus und Internet leiten.
Ich bin für die Anwesensheitsliste und die Namensschilder verantwortlich. Auf der Liste entdecke ich viele vertraute Namen, darunter auch den von Herrn Wan.
Trotz der Saunahitze von 38 Grad setze ich mir meinen medizinischen Mundschutz aus Baumwolle auf. Mein Schweiß fließt in Strömen, als wäre ich vom Regen durchnässt.
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In lehmgelben Mönchsroben und -schuhen treten die Gläubigen der Reihe nach durch das Tor. Als ich die bunten Namensschilder an ihrer Brust baumeln sehe, glaube ich für einen Moment, ich wäre in mein früheres Leben von vor ein paar Monaten zurückgekehrt – ins Nationale Kongresszentrum, JW Marriot Peking, 798 D Park … Wenn ich nicht gerade an einer Sitzung teilnahm, war ich auf dem Weg zu einer, verteilte Visitenkarten, sammelte WeChat-Kontakte, gab leeres Geschwafel von mir und beschwor großspurige Visionen, wobei ich es nie versäumte, mi
t Schlagwörtern aus dem Internetjargon um mich zu werfen – ähnlich wie ein Rotgardist sich in der Kulturrevolution an seine Mao-Bibel klammerte.
Die Gesichter, die ich nun vor mir sehe, sind immer noch dieselben, nur dass auf ihren Namensschildern nicht mehr die hochtrabenden Titel prangen: Aus »CO«, »Mitgründer« und »VP of investments« sind »Laienbruder«, »Gläubiger« und »Wohltäter« geworden. Ihr sonst so überhebliches Auftreten haben sie vorübergehend abgelegt und ihre Wampen eingezogen, während sie, Mantras vor sich hin murmelnd, ihre Plätze einnehmen und in frommer Ergebenheit ihre Handys, iPads, Google Glasses, intelligenten Armbänder und sonstigen Gadgets den jungen Novizen ringsum im Tausch gegen ein nummeriertes Schildchen aushändigen.
Ich sehe Herrn Wan. Sein Gesicht ist blass und eingefallen, aber sein Blick klar und sein Gang leicht. Ruhig und frei von seiner früheren herrischen Aura, verbeugt er sich mit vor der Brust gefalteten Händen vor seinen Nebenleuten. Als er an mir vorbeigeht, senke ich den Kopf, und er erwidert meinen Gruß.
In den letzten Monaten ist bestimmt viel geschehen.
Meister Deta war angeblich früher einmal ein hochbegabter Student an der Informatik-Abteilung der Tsinghua-Universität, aber nachdem er die Erleuchtung erlangt hatte, schlug er die Einladungen zu einem Graduiertenstudium aus, die er von Eliteuniversitäten wie Stanford, Yale und Berkeley erhalten hatte, kehrte dem irdischen Staub den Rücken und ließ sich zum Mönch weihen. Unter seiner Leitung als Abt sind zahlreiche Universitätsabsolventen in unser Kloster eingetreten, und wir
propagieren die Lehren des Buddha nun auch mit den Mitteln des Internets, um alle fühlenden Wesen vom Leid zu erlösen.
Der Abt spricht heute über so viele Themen, dass ich das meiste schon wieder vergessen habe. Umso lebhafter steht mir Herr Wan vor Augen, wie er eine andächtige Haltung einnimmt und immer wieder zustimmend nickt. Als der Meister darüber spricht, wie man mithilfe der Big-Data-Technologie reinkarnierte junge Trülkus aufspüren könne, glänzen seine Augen sogar von Tränen.
Ich versuche mich vor ihm zu verbergen, aber gleichzeitig spüre ich einen übermächtigen Drang, zu ihm hinzugehen und ihn zu fragen, ob sich die Wogen wieder geglättet haben. Mein früheres Leben vermisse ich nicht, aber meine Familie.
Nur Mönche, die einen höheren Rang bekleiden, haben hier Zugang zum Internet. Wie eine vielfache grüne Firewall trennt der alte Zypressenwald in den Bergen uns vom Lärm der Welt. Mein Alltag ist gleichförmig, aber nicht langweilig: Ich fege den Boden, arbeite, rezitiere Sutras, diskutiere und schreibe alte Schriften ab. Befreit von allem materiellen Ballast, habe ich allmählich wieder zu einem gesunden Rhythmus von Arbeit und Entspannung gefunden und lasse mich von keinem vibrierenden Handy mehr aus der Ruhe bringen. Manchmal spüre ich zwar noch einen Phantomimpuls im rechten Quadrizeps, aber mein Meister versichert mir, ich müsse nur jeden Tag die tausendachthundert Perlen meiner Gebetskette abzählen, hundertachtzig Tage lang, dann würde ich vollständig geheilt sein.
Vielleicht wollen wir einfach zu viel – mehr als das, was Körper und Geist verkraften können.
Früher bestand meine Arbeit darin, Bedürfnisse zu schaffen
und die Menschen zu einer hemmungslosen Jagd auf Dinge anzutreiben, die für ihr Leben bedeutungslos waren, damit ich mir mit dem Geld, das ich dabei verdiente, die Illusionen kaufen konnte, die andere für mich erzeugten. Und wir bekamen nie genug von diesem Spiel.
Da fallen mir die Worte meiner Frau wieder ein – ja, ich war wirklich ein verdammtes Baby.
Dies also ist meine Sünde, das schlechte Karma, von dem ich mich reinwaschen muss.
Ich beginne Herrn Wan zu verstehen.
Nach dem Vortrag umringen er und einige andere Gäste Meister Deta. Offensichtlich hat der Vortrag sie verwirrt, und ihnen schwirrt der Kopf von Fragen. Der Meister winkt mich herbei. Ich nehme meinen Mut zusammen und gehe zu ihm.
»Führe diese Wohltäter von uns bitte in den Meditationsraum Nummer drei. Ich komme gleich nach.«
Ich nicke und führe die kleine Gruppe von Besuchern in den Raum im hinteren Hof, in dem wir unsere VIP-Gäste empfangen.
Nachdem ich sie zu ihren Plätzen geleitet habe, schenke ich ihnen Tee ein. Sie nicken einander zu und lächeln sich an, wechseln aber nur ein paar höfliche Phrasen miteinander – vermutlich sind sie außerhalb des Klosters Rivalen.
Herr Wan blickt mich nicht an. Er nippt an seinem Tee und schließt die Augen, um seine Gedanken zu sammeln. Während er Mantras vor sich hin murmelt, lässt er seine Gebetskette aus Sandelholz unentwegt durch seine Finger gleiten. Als er beim neunundvierzigsten Durchlauf angelangt ist, halte ich es nicht länger aus. Ich trete zu ihm, beuge mich hinab und flüstere ihm ins Ohr: »Herr Wan, erinnern Sie sich noch an mich?
«
Er öffnet die Augen und mustert mich eine halbe Minute lang. »Sie sind doch Zhou …«
»Zhou Chongbai. Ihr Gedächtnis ist ausgezeichnet.«
Auf einmal verzerrt sich sein Gesicht zu einer Furcht einflößenden Grimasse, er schlingt mir die Gebetskette um den Hals und reißt mich zu Boden.
»Das ist alles nur deine Schuld, du Idiot!«, schreit er mich an und prügelt auf mich ein. Die beiden Gäste neben uns stehen bestürzt auf, wagen aber nicht einzugreifen und murmeln nur: »Amitabha, Amitabha …«
Ich halte meine Hände schützend vor das Gesicht, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll, und rufe nur in einem fort: »Gnade! Gnade!«
»Aufhören!«, befiehlt die Stimme von Meister Deta. »Dies ist eine heilige Stätte! Hier ist kein Platz für Gewalt.«
Die Faust von Herrn Wan erstarrt in der Luft. Während er mich anstarrt, strömen ihm die Tränen aus den Augen und tropfen auf mein Gesicht, als wäre er es, den man zu Unrecht geschlagen hat.
»Ich habe alles verloren … alles«, schluchzt er und sinkt auf seinen Sitz zurück.
Ich raffe mich hoch. Anscheinend kann ein Mann, der alles verloren hat, nicht einmal mehr hart zuschlagen, jedenfalls tut mir nichts weh.
»Amitabha.« Ich verbeuge mich mit vor der Brust gefalteten Händen vor ihm. Ich weiß, dass es ihm nicht viel besser geht als mir. Als ich mich gerade entfernen will, ruft Meister Deta mich zurück und versetzt mir mit dem Rohrstock zwei Hiebe auf die linke und einen auf die rechte Schulter. »Was hier heute geschehen
ist, darf nicht aus diesem Raum hinausdringen. Du hast deine Unbeherrschtheit noch nicht abgelegt und bist größeren Aufgaben noch nicht gewachsen. Du musst noch viel lernen und dich selbst eingehend erforschen.«
Ich will ihm schon widersprechen, da besinne ich mich eines Besseren: Wenn ich die cholerischen Ausbrüche von Lao Xu und Herrn Wan erduldet habe, dann sollte ich Meister Detas Launen erst recht ertragen können – schließlich ist er so etwas wie der CEO dieses Klosters.
Mit einer Verbeugung ziehe ich mich zurück.
An die hölzerne Wand des Wandelgangs gelehnt, betrachte ich die Bergwälder in der Abendsonne. Dahinter glänzt der Smog wie ein gefalteter Sari über der Stadt. Pünktlich zur vollen Stunde schlägt die Glocke, und aufgeschreckte Vögel flattern empor. Plötzlich durchzuckt mich ein Gedanke: Schlug nicht der Ahnherr Subhuti in der Reise in den Westen
dem Affenkönig Sun Wukong dreimal mit dem Stock auf den Schädel, ehe er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen davonschritt? Sun Wukong wusste die Botschaft richtig zu deuten und erschien zur dritten Nachtwache an der Hinterpforte des Meisters, um dessen Unterweisung zu empfangen.
Aber was haben zwei Schläge auf die linke und einer auf die rechte Schulter zu bedeuten?
101
Es ist neun Uhr abends – nach der alten Zeiteinteilung geht jetzt die erste Nachtwache in die zweite über. Auf einem kleinen
Bergpfad schleiche ich mich zum Zimmer des Abts. Rings um mich rauschen die Kiefern, aber die Vögel sind still.
Ich klopfe erst zweimal, dann noch ein drittes Mal an die Tür. Als sich dahinter etwas rührt, klopfe ich erneut, und die Tür öffnet sich von selbst.
Meister Deta sitzt mit dem Rücken zu mir, vor sich einen riesigen pechschwarzen Monitor. Im Raum scheint ein tiefes elektronisches Summen zu vibrieren. Der Meister stößt einen Seufzer aus.
»Euer Schüler bittet darum, Euch seine Aufwartung machen zu dürfen, Meister!« Ich falle auf die Knie, um einen Kotau zu machen.
»Du hast wohl zu viel Die Reise in den Westen
gelesen, was?« Der Meister erhebt sich langsam und mit missmutiger Miene. »Solltest du nicht um zehn Uhr eins kommen?«
Einen Moment bin ich wie vor den Kopf geschlagen – der Meister hat also das binäre System benutzt.
»Was heute Nachmittag angeht …«, setze ich an, um meine Verlegenheit zu überspielen.
»Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich kenne deine Geschichte. Als du die Schwelle dieses Klosters überschritten hast, wusste ich alles über dich.«
»Und Ihr habt mich trotzdem aufgenommen?«
»Zwar hast du dich nicht mit ganzem Herzen dem Buddha zugewandt, doch auch du trägst die Wurzel der Weisheit in dir. Wenn ich dich nicht aufgenommen hätte, hättest du womöglich Hand an dich gelegt.«
»Ich danke Euch, Meister, für Eure Güte.« Ich werde aus seinen Worten noch immer nicht schlau
.
»Du begreifst immer noch nichts, oder?« Eigentlich ist Meister Deta noch nicht alt, vielleicht gerade einmal Anfang vierzig. Wenn er mit seiner Brille auf der Nase lächelt, sieht er aus wie ein junger Professor.
»Vergebt mir meine Einfalt. Bitte klärt mich auf, Meister.«
Auf einen Wink seiner Hand hin leuchtet der Bildschirm hinter ihm auf – offensichtlich kann er den Monitor mit seinen Körperbewegungen steuern. Das Bild, das darauf erschienen ist, lässt sich nur schwer beschreiben: Es handelt sich um eine riesige, flach gepresste Ellipse; den Hintergrund bildet ein Blau von unterschiedlicher Helligkeit, das von unregelmäßig verteilten orangeroten Lichtpunkten übersät ist – aber vielleicht verhält es sich auch genau umgekehrt. Das Ganze sieht aus wie die farblich nachbearbeitete Höhenlinienkarte eines Planeten oder wie Schimmelpilze unter dem Mikroskop.
»Was ist das?«
»Das Universum oder, präziser gesagt, die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung. So hat das Universum ungefähr 380.000 Jahre nach dem Urknall ausgesehen. Dies hier ist die exakteste Aufnahme, die wir bis jetzt haben.« Die sichtliche Begeisterung, mit der er das äußert, passt nicht recht zu seiner würdigen Robe.
»Und weiter?«
»Dieses Bild wurde per Computer berechnet auf Basis der Daten, die das Planck-Weltraumteleskop der Europäischen Weltraumorganisation gesammelt hat. Schau mal hier und hier – siehst du, wie ungewöhnlich das Lichtmuster ist?«
Ich kann nur lauter Punkte erkennen, die wie orangerote oder kobaltblaue Schimmelpilze aussehen, sonst nichts
.
»Das bedeutet … den Buddha gibt es nicht?«, fragte ich vorsichtig.
»Dies hier ist der Trichiliokosmos, also die eine Milliarde Welten, von denen der Buddha gesprochen hat.« Sein Blick durchbohrt mich, als wollte er mich zwingen, seine Worte zu schlucken. »Dieses Bild beweist die vormalige Existenz eines Multiversums. Nach langjähriger Anstrengung hat die Menschheit endlich mithilfe der Technik die buddhistische Kosmologie verifiziert.«
Ich hätte es wissen müssen: Meister Deta ist auch nicht anders als die Typen, die in Zhongguancun ihr Netzwerk-Marketing betreiben. Die zusammenhanglosesten Dinge nehmen diese Leute als Beweis für ihren Standpunkt. Ich frage mich, was wohl ein Christ aus diesem Bild herauslesen würde.
»Amitabha.« Zum Zeichen meiner Frömmigkeit lege ich die Hände aneinander.
»Die Frage ist nur: Warum hat der Buddha gerade diesen Zeitpunkt gewählt, um der Menschheit die Wahrheit zu enthüllen?«, fährt er bedächtig und mit großem Nachdruck fort. »Ich habe lange darüber nachgedacht – bis ich dein Projekt gesehen habe.«
»Buddhagram?«
Meister Deta nickt. »Ich billige durchaus nicht die Methoden, die du benutzt, aber die Tatsache, dass du in dieses Kloster gekommen bist, beweist, dass meine Vermutung plausibel ist.«
Kalter Schweiß läuft mir über den Rücken – ähnlich wie in jener Nacht, die mir nun so unwirklich fern vorkommt.
»Die Welt hat sich von Grund auf gewandelt. Ihr Schöpfer – der Buddha, Gott, die Götter, nenn ihn, wie du willst – hat die Regeln geändert, nach denen die Welt funktioniert. Glaubst du
wirklich, eine Segnung hätte Buddhagram seine wundersamen Kräfte verliehen?«
Ich halte den Atem an.
»Angenommen, das Universum ist ein Programm – dann ist alles, was wir beobachten können, das Ergebnis einer Computercodierung, und die Hintergrundstrahlung könnte man als Aufzeichnung des Quellcodes einer früheren Version betrachten. Wenn wir diesen Code per Computer aufrufen können, bedeutet das auch, dass wir die gegenwärtige Version des Codes per Algorithmus umschreiben können.«
»Heißt das, der Algorithmus von Herrn Wan hat all das verursacht?«
»Ich wage keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, aber meine Vermutung läuft darauf hinaus.«
»Was Naturwissenschaften angeht, bin ich ein Analphabet, also nehmt mich bitte nicht auf den Arm, Meister.«
»Amitabha. Ich bin ein Technobuddhist. Mein Credo stammt von Arthur C. Clarke: ›Jede hinreichend fortschrittliche Technologie lässt sich auf den ersten Blick nicht von buddhistischer Magie unterscheiden.‹«
Vage fühle ich eine Ungereimtheit, aber ich kann sie nicht benennen. »Aber … aber das Projekt ist doch gescheitert! Ihr habt ja gesehen, in was für einem traurigen Zustand Herr Wan ist. Ich glaube nicht, dass ich noch irgendetwas damit zu tun habe.«
»Wo immer es sinnliche Eigenschaften gibt, da gibt es Täuschung; wer aber die eigenschaftslose Natur der Eigenschaften sieht, der sieht den Tathagata.«
»Meister, bitte erlaubt mir, ins weltliche Leben und zu meiner Familie zurückzukehren. Ich vermisse meine Frau.« Plötzlich
packt mich ein seltsames Grauen, als bräche ein bodenloser schwarzer Abgrund aus dem Monitor an der Wand empor, um mich zu verschlingen.
Meister Deta seufzt und ringt sich ein Lächeln ab, als hätte er all das längst vorhergesehen.
»Eigentlich hatte ich geglaubt, während ich dir hier die Lehren Buddhas nahebringe, könntest du in Ruhe abwarten, bis dieses Unheil vorübergegangen ist. Aber … wir sind eben beide im Kreislauf der Wiedergeburten gefangen, wir können unserem Schicksal nicht entgehen. Also gut, dann nimm dies, damit wir uns nicht umsonst begegnet sind.«
Er reicht mir eine golden funkelnde Buddhakarte. Auf die Rückseite sind eine gebührenfreie Vierhunderter-Nummer, eine VIP-Kartennummer und ein Sicherheitscode gedruckt.
»Meister, was ist das?«
»Verlier das nicht! Diese Karte hat einen Marktwert von 8888 Yuan. Ruf mich an, falls etwas ist.«
Mit diesen Worten wendet Meister Deta mir den Rücken zu, und auf einen Wink hin verwandelt sich der Monitor mit dem Bild, das mich an Schimmelflecken erinnert, wieder zurück in einen gewöhnlichen Fernsehschirm. Ein amerikanischer Quantenphysiker wird erschossen, aber bizarrerweise erklärt der Mörder, er habe sein Opfer mit jemand anderem verwechselt.
110
Ein halbes Jahr später begegne ich Lao Xu im Guanji Chiba, einer Grillstube in Zhongguancun, wieder
.
Er ist noch ganz der Alte und immer noch verrückt nach gegrillter Lammniere. Nachdem er ein paar Flaschen Bier geleert hat, hat sein Gesicht einen öligen Glanz angenommen, seine Backen schwabbeln vor Erregung, und er beginnt, mir wie ein typischer Nordostchinese sein Herz auszuschütten.
»He, Chongbai, warum kommst du nicht wieder zu mir? Du wirst es gut haben bei mir.«
Während er auf mich einredet, versprüht er seinen Speichel in die rauchgeschwängerte Luft. Nachdem er eine Weile zu Hause ausgesetzt hat, hat ihn ein Anruf in die Geschäftswelt zurückgeholt – aber nun betreibt er keine vor sich hin dümpelnde Marketingfirma mehr, sondern hat sich in einen »Unternehmensengel« verwandelt. Gestützt auf seine Kontakte in der Welt der Start-ups, gibt er jetzt fremdes Geld aus und verspricht den Leuten das Blaue vom Himmel.
Er glaubt, ich hätte Potenzial, und deshalb will er mich mit ins Boot holen.
»Wie geht es eigentlich Herrn Wan?«, wechsle ich das Thema. Meine Frau hat gerade erfahren, dass sie schwanger ist, und meine jetzige Arbeit ist zwar langweilig, aber dafür sicher. Lao Xu dagegen halte ich für wenig zuverlässig.
»Lange nichts mehr von ihm gehört …« Seine Augen trüben sich, und er zieht heftig an seiner Zigarette. »Das Glück ist eine launische Geliebte. Als Buddhagram boomte, wollten alle möglichen Unternehmen darin investieren. Ein amerikanisches Unternehmen wollte sogar über einen kompletten Kauf verhandeln. Aber im letzten Moment ist dann in den USA ein Kerl namens Cheng Yaojin aufgetaucht und hat Y beschuldigt, dass er den Schlüsselalgorithmus von einem seiner Kumpel im
Forschungslabor gestohlen hat. Dieser Cheng hat Y verklagt, und der Prozess hat sich ewig hingezogen. Die Patentrechte wurden fürs Erste ausgesetzt, und die Investoren sind alle abgesprungen. Wan musste seinen ganzen Besitz verkaufen, und auch das hat am Ende nicht gereicht …«
Ich leere mein Glas in einem Zug.
»Aber dich trifft keine Schuld, wirklich nicht! Ohne dich wäre es mit ihm doch nur noch schneller zu Ende gegangen!«
»Aber ohne Buddhagram hätte dieser Amerikaner wahrscheinlich gar nichts von dem gestohlenen Algorithmus gemerkt.«
»Ich habe es jetzt endlich kapiert: Wenn diese Sache nicht passiert wäre, wäre es eben eine andere gewesen. Das ist Schicksal. Später habe ich gehört, dass der Laborkollege, von dem Y geklaut hat, erschossen wurde. Deshalb ist das Patentverfahren jetzt immer noch in der Schwebe.«
Während Lao Xu mit seiner dröhnenden Stimme weiterpalavert, dringt mein Blick durch die Ritze zwischen den Fingern, mit denen er seine Zigarette hält. Die Zeit steht still, und die Rauchschwaden und lärmenden Gäste ringsum verschwimmen und rücken in die Ferne. Mir ist etwas eingefallen, etwas, das so wichtig ist, dass ich es bis eben erfolgreich verdrängt habe.
Ich habe geglaubt, alles wäre vorbei – dabei hat es gerade erst angefangen. Sobald ich mich von Lao Xu verabschiedet habe und nach Hause gekommen bin, stelle ich erst einmal die Wohnung auf den Kopf. Meine Frau baut sich mit ihrem dicken Bauch vor mir auf – sie glaubt, ich würde Radau machen, weil ich zu viel getrunken hätte. »Hast du eine goldene Karte gesehen?«, frage ich sie. »Vorn ist ein Buddhabild drauf und hinten eine Vierhunderter-Nummer.
«
Sie blickt mich nur mitleidig an, als wäre ich ein herrenloser Husky, eine Rasse, die unter Hundehaltern für ihre niedrige Intelligenz bekannt ist. Dann lässt sie mich stehen, um weiter ihr Schwangerenyoga zu praktizieren.
Endlich finde ich die Karte zwischen den Seiten einer Modezeitschrift im Klo. Auf der Seite darunter rekelt sich ein nacktes, mit Vaseline eingeriebenes Starlet zwischen einem Haufen Elektrogeräten, deren Monitore unterschiedliche Teile ihres glänzenden Körpers spiegeln.
Ich wähle die Nummer und gebe die VIP-Nummer und den Sicherheitscode ein. Eine vertraute, ein wenig müde klingende Stimme meldet sich.
»Meister Deta, ich bin’s, Chenwu!«
»Wer?«
»Chenwu! Zhou Chongbai! Der, dem Sie dreimal auf die Schulter geklopft haben, damit er um zehn Uhr eins zu Ihnen aufs Zimmer kommt, um sich mit Ihnen die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung anzusehen!«
»Ach ja … Aus deinem Mund klingt das so seltsam. Ich erinnere mich an dich. Wie ist es dir in letzter Zeit ergangen?«
»Sie hatten recht! Der Algorithmus ist die Wurzel des Problems!« Ich hole tief Luft und erzähle ihm so kurz und knapp wie möglich, was ich gehört habe und was ich davon halte: Jemand versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass der Algorithmus praktisch genutzt wird, und dieser Jemand geht über Leichen.
Am anderen Ende der Leitung bleibt es lange still. Endlich höre ich einen langen Seufzer.
»Du hast noch immer nichts begriffen. Spielst du Games?
«
»Früher schon, aber das ist lange her. Meinen Sie Arcade, Handheld oder PlayStation?«
»Egal. Wenn deine Figur einen Big Boss angreift, wird der Game-Algorithmus normalerweise alle verfügbaren Kräfte zu seiner Verteidigung mobilisieren, oder?«
»Sie meinen die NPCs?«
»Richtig.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan! Ich habe doch bloß ein bescheuertes Marketingkonzept entwickelt!«
»Du hast mich missverstanden.« Meister Detas Stimme wird so tief und dumpf, als könnte er jeden Moment die Geduld verlieren. »Du bist nicht der Held, der den Big Boss attackiert. Du bist nur ein NPC, ein Non-Player Character
.«
»Moment, Sie meinen …« Die Gedanken in meinem Kopf bewegen sich auf einmal so zähflüssig wie Brei.
»Ich weiß, das ist schwer zu akzeptieren, aber es ist die Wahrheit. Einer oder mehrere Personen haben irgendetwas getan, das vielleicht das gesamte Programm bedroht – die Stabilität unseres Universums. Deshalb hat das System gemäß seinen festgelegten Routinen die NPCs mobilisiert, damit sie auf seinen Befehl hin die Bedrohung eliminieren und die innere Konsistenz des Universums aufrechterhalten.«
»Aber ich habe das alles doch aus freiem Willen getan! Ich wollte doch nur meinen Job erledigen! Und ich dachte, ich würde ihm helfen.«
»Alle NPCs glauben das.«
»Was soll ich denn jetzt tun? Lao Xu will, dass ich wieder für ihn arbeite, aber wie soll ich wissen, ob das … – Hallo?«
Plötzlich dringen einige seltsame Geräusche aus dem Hörer,
als würden unzählige winzige Insektenbeine über das Mikrofon krabbeln.
»Wenn du verwirrt bist … sssss … hilft der Meister … Erleuchtung … sssss … hilf dir selbst. Du musst nur … sssss … und schon … sssss … Leider ist das Guthaben auf Ihrer VIP-Karte aufgebraucht. Bitte laden Sie Ihr Guthaben wieder auf und wählen Sie erneut. Sorry, your VIP …
«
»Scheiße!« Wütend lege ich auf.
»Was schreist du denn so? Wenn ich vor Schreck eine Fehlgeburt habe, bist du daran schuld.« Träge dringt die Stimme meiner Frau aus dem Schlafzimmer zu mir.
Ich sortiere meine Gedanken für einen Moment und beschließe, ihr alles zu erzählen – natürlich nur, soweit sie es verstehen kann.
»Sag Lao Xu, deine Frau möchte keine Missgeburt in die Welt setzen, nur weil sie dein schlechtes Karma ausbaden muss – deshalb darfst du nicht mehr mit ihm zusammen andere Leute übers Ohr hauen.«
Ich will ihr gerade widersprechen, da klingelt das Telefon. Es ist Lao Xu.
»Und? Hast du dir’s überlegt? Im Quantenlabor der USTC machen sie enorme Fortschritte! Ihre Computer sind schon dabei, das Problem der NP-Vollständigkeit zu knacken! Weißt du, was das bedeutet, wenn sie erst mal bewiesen haben, dass P gleich NP ist?«
Als ich zu meiner Frau hinüberblicke, wischt sie sich mit der Hand quer über die Gurgel und streckt dabei die Zunge raus.
»Weiß du, was das hei…« Ich lege auf. Lao Xus Stimme hallt mir noch in den Ohren nach
.
Kein Programm ist fehlerlos. In dem Universum, das ich bewohne, ist meine Frau bestimmt der fatalste Fehler von allen.
111
Ich erinnere mich noch an den Tag, als Lailai geboren wurde: Seine Haut schimmerte rosig, und sein Körper duftete nach Milch. Er ist das schönste Baby, das ich je gesehen habe.
Meine Frau, die von den Wehen noch geschwächt war, überließ es mir, einen guten Namen für ihn zu finden. Ich versprach es ihr, während ich im Stillen dachte: Es macht sowieso keinen Unterschied mehr, wie wir ihn nennen.
Ich bin kein Held, ich bin nur ein NPC. Tief im Innern glaube ich nicht daran, dass ich an allem schuld bin – nur weil ich nicht mehr für Lao Xu gearbeitet habe, nur weil ich mit keiner schrägen Idee das Projekt zum Scheitern gebracht und den verdammten Quantencomputer daran gehindert habe, diese beschissene Gleichung P gleich N zu beweisen – ich weiß bis heute noch nicht mal, was das verdammt noch mal bedeuten soll.
Wenn deshalb das Universum zusammenbricht, ist der Programmierer ein ganz schöner Stümper. Einer solchen Welt braucht man keine Träne hinterherzuweinen.
Aber wenn ich dann Lailai in den Armen halte und sein winziges Händchen in meiner Hand liegt, wünschte ich mir, dieser Moment würde ewig dauern.
Und ich bereue alles, was ich getan oder nicht getan habe.
In diesen letzten Minuten kommt mir wieder jene ferne
Nacht in den Sinn, als der Kerl im Armeemantel auf der Fußgängerbrücke stand.
Er starrte meine Frau und mich an und wiederholte wie ein kaputter Anrufbeantworter immer wieder: »Am 4. Januar fällt der Meteorschauer der Quadrantiden auf die Erde, das dürfen Sie nicht verpassen …«
Niemand wird diese große Zeremonie, in der wir alle offline gehen werden, verpassen.
Ich spiele mit meinem Sohn und versuche ihn zum Lachen zu bringen oder ihm sonst irgendeine Reaktion zu entlocken. Da sehe ich auf einmal, wie sich in seinen Augen etwas spiegelt, das rasch anschwillt.
Das ist das Licht in meinem Rücken.