Mingwei Song
Ein neuer Kontinent für Literaturwissenschaftler: Studien zur chinesischen Science-Fiction
Aus dem Englischen von Kristof Kurz
Vor sieben Jahren nahm ich an einer großen Tagung zur chinesischen Gegenwartsliteratur in Shanghai teil, ausgerichtet von den Universitäten Harvard und Fudan (eine der renommiertesten Hochschulen Chinas). Geladen waren Chinas wichtigste Romanschriftsteller, Lyriker, Essayisten und Literaturkritiker. Zu den Ehrengästen gehörten der spätere Nobelpreisträger Mo Yan, Dutzende anderer angesehener Autoren, die Chefredakteure der größten Literaturmagazine, berühmte Professoren und mehrere beliebte jüngere Schriftsteller. Vor dieser Tagung hatte so gut wie niemand von chinesischer Science-Fiction auch nur gehört, doch als die Veranstaltung nachmittags mit einer Gesprächsrunde zu Ende ging, bekamen zwei SF-Autoren, Han Song und Fei Dao, zehn Minuten lang Gelegenheit, über ihr Genre zu sprechen. Han Song, ein bedeutender Autor der chinesischen Science-Fiction, und Fei Dao, sein vielversprechender junger Kollege, hatten sich – wie ich später erfuhr – lange und sorgfältig auf ihre zehnminütige Rede vorbereitet. Ich weiß noch, dass ich vor Yu Hua und Su Tong saß, zwei literarischen Schwergewichten, die sich mit leiser Stimme unterhielten. Doch dann verstummten sie plötzlich und lauschten gespannt, als Han Song auf die erstaunlichen Entwicklungen zu sprechen kam, die es in den letzten zehn Jahren in der Science-Fiction gegeben hatte. In einem strategisch geschickten Schachzug nannte Fei Dao die SF-Autoren der Gegenwart in einem Atemzug mit Lu Xun, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die moderne chinesische Literatur begründet hatte und außerdem als früher Verfechter der »Science Fiction« (kexue xiaoshuo) gilt. Das versammelte Publikum hörte Han Song und Fei Dao zehn Minuten lang mit großem Interesse zu.
Das war am 13. Juli 2010 um 15.30 Uhr.
Dieser Moment veränderte alles.
Zwei Tage vorher hatte ich Han Song und Fei Dao kennengelernt und mich gut mit ihnen unterhalten. Vor dem Treffen hatte ich alles von ihnen gelesen, was ich auftreiben konnte. Drei Jahre zuvor hatte mir mein Freund Yan Feng (ein Professor an der Fudan-Universität) ein Manuskript mit dem Titel Santi geschickt (das später als Die drei Sonnen veröffentlicht werden sollte). Damals hatte ich so viel zu tun gehabt, dass ich nicht einmal über das zweite Kapitel hinauskam (die Kapitelreihenfolge war dieselbe wie in Ken Lius englischer Übersetzung). Erst 2008 warf ich einen weiteren Blick hinein – mir verschlug es regelrecht die Sprache, und schon bald war ich geradezu besessen von dieser neuen Ära der chinesischen Science-Fiction: Cixin Liu, Han Song, Wang Jinkang, He Xi, La La, Zhao Haihong, Qiufan Chen, Xia Jia, Fei Dao, Hao Jingfang, Chi Hui etc.: Ich las alles, was ich in die Finger bekommen konnte, und empfahl den Organisatoren der Literaturtagung in Shanghai, auch Liu Cixin einzuladen. Dieser war jedoch bedauerlicherweise verhindert, dafür sprangen Han Song und Fei Dao ein; auf eine bescheidene und zugleich wirkmächtige Weise gelang es ihnen, Science-Fiction als das Thema der Tagung zu etablieren. Als Han Song und Fei Dao ihren Vortrag beendeten, hatte mich sozusagen eine Offenbarung ereilt: Die chinesische Science-Fiction hatte bereits zehn Jahre ihres Goldenen Zeitalters hinter sich: von 1999 bis 2010. Bedauerlicherweise wussten das nur eingefleischte Fans. Die meisten Literaturwissenschaftler ahnten nichts davon.
In seiner Rede verglich Fei Dao diese neue Generation chinesischer Schriftsteller mit einer einsamen, verborgenen Armee, die womöglich untergegangen wäre, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Und tatsächlich: Wenn sich niemand aus dem literarischen Establishment die Mühe gemacht hätte, einen Blick in Die drei Sonnen zu werfen oder Han Songs bizarre, mäandernde Geschichte über Chinas unsichtbare Realität zu lesen, wäre das Phänomen Science-Fiction wohl weiterhin ein exotisches Hobby für Genre-Autoren und ihre Fans geblieben. Doch Han Song und Fei Dao ist es zu verdanken, dass im Juli 2010 diese einsame, verborgene Armee ins Scheinwerferlicht der Literaturszene rückte .
Kurz nach dieser Tagung spielte der von mir hochverehrte Theodore Huters (UCLA) mit dem Gedanken, eine Anthologie mit diesen neuen chinesischen Autoren herauszugeben. Er beauftragte mich damit, eine Sonderausgabe des Literaturmagazins Renditions zusammenzustellen, in dem die berühmtesten Autoren vorgestellt wurden. Dafür brauchte ich zwei Jahre und die Unterstützung vieler Schriftsteller und Übersetzer. 2012 dann wurde die Renditions-Sonderausgabe mit zehn Geschichten moderner chinesischer SF-Autoren veröffentlicht. Ungefähr zur selben Zeit nahm Ken Liu, der wohl engagierteste Übersetzer chinesischer Science-Fiction, die Arbeit auf. Auch andere Magazine wie beispielsweise Pathlight brachten Sonderausgaben mit Übersetzungen chinesischer Science-Fiction. Ähnliche Aktivitäten in Ländern wie Italien und Japan beweisen, dass dieses Phänomen nicht auf den englischsprachigen Raum beschränkt ist.
Als Ken Lius 2014 erschienene Übersetzung von Cixin Lius Die drei Sonnen 2015 den Hugo Award gewann, wurde die chinesische Science-Fiction endgültig zu einer weltweiten Sensation. Dass sowohl Barack Obama als auch Mark Zuckerberg den Roman lobten und es sein Nachfolgeband Der dunkle Wald auf die Bestsellerliste der New York Times schaffte, dürfte den meisten Lesern wohl bekannt sein.
Normalerweise reagiert die Literaturwissenschaft ja eher verspätet auf neue Trends. Doch diesmal konnte sie die ungeheure Popularität der chinesischen Science-Fiction unmöglich ignorieren. In nur drei, vier Jahren wurde die chinesische Science-Fiction zu einem der bedeutendsten Forschungsgegenstände in diesem Bereich, zu dem auch wichtige akademische Institutionen wie MLA, AAS, ACLA, ACCL und viele weitere Podiumsdiskussionen, Gespräche und Workshops veranstalten. Als einer der ersten chinesischen Literaturwissenschaftler, der sich mit dem Thema beschäftigt hat, wurde ich regelmäßig von amerikanischen, chinesischen, aber auch französischen und deutschen Fachorganen um Gastbeiträge, die Erstellung von Sonderausgaben und sogar um die Organisation von Tagungen und Workshops gebeten. Selbstverständlich bin ich mit diesen Bemühungen nicht allein, sondern habe tapfere Mitstreiter wie Hua Li, der mehrere Artikel über zeitgenössische Science-Fiction geschrieben hat, oder Nathaniel Isaacson, dessen Celestial Empire: Emergence of Chinese Science Fiction – die erste Monografie, die sich mit der frühen chinesischen Science-Fiction beschäftigt – vor Kurzem erschienen ist. Noch wichtiger scheint mir jedoch, dass sich eine ganze Generation jüngerer Wissenschaftler ernsthaft mit dem Thema beschäftigt, systematische Forschung betreibt und neue, provokante Argumente in den Raum wirft. Es ist beinahe ein Wunder: Vor unseren Augen entsteht ein völlig neuer Kontinent, auf dem es viele literaturwissenschaftliche Abenteuer zu erleben gibt.
Und doch darf man angesichts der momentanen, bisher ungekannten Begeisterung die geschichtliche Entwicklung nicht aus den Augen verlieren. Ebenso wie die SF der Gegenwart hat auch die aktuelle Forschung ihre historischen Bezugspunkte. Die asiatische Science-Fiction erlebte im zwanzigsten Jahrhundert mehrere Höhenflüge, die jedoch nur von kurzer Dauer waren: So etwa im China der Fünfziger und Sechziger im Bereich der Kinderliteratur, in den Siebzigern und Achtzigern in Taiwan und dann noch einmal massiv in der Volksrepublik im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik. Allerdings weist die chinesische Science-Fiction keine lückenlose Geschichte auf. Veränderungen in politischen und kulturellen Paradigmen haben des Öfteren für Unterbrechungen gesorgt, sodass sich praktisch jede Generation neu erfinden musste. Nur selten hatte sie Zugriff auf die Werke früherer Autoren, und nur selten übten diese einen offensichtlichen oder substanziellen Einfluss aus.
Uns Literaturwissenschaftler interessiert weniger, wie groß der Einfluss einer Generation auf die nächste war oder wie man eine einigermaßen kohärente und zusammenhängende Literaturgeschichte schreiben könnte. Unser Hauptaugenmerk liegt auf Text und Kontext, daher will ich an dieser Stelle drei Wissenschaftlern meine Ehrerbietung erweisen, die sich lange vor dem aktuellen Boom mit dem Genre beschäftigten. In den frühen Achtzigern veröffentlichte der deutsche Sinologe Rudolf Wagner einen längeren Artikel mit dem Titel »Lobby Literature: Archaeology and Present Functions of Science Fiction in China«, der hauptsächlich die SF der frühen Phase der Reform- und Öffnungspolitik behandelt. Wagner definiert sie als Interessenvertretungsliteratur, ohne sie explizit als Propaganda zu bezeichnen, schließt jedoch eine feinsinnige und einfühlsame Analyse dieses widersprüchlichen Genres an einem Wendepunkt der chinesischen Politik an. Ein inspirierender Artikel, der die zukunftsorientierte SF in Verbindung mit historischen und gegenwärtigen Herausforderungen setzt.
Ende der Achtzigerjahre veröffentlichten Wu Dingbo und Patrick Murphy unter dem Titel Science Fiction from China (New York, Praeger 1989) die erste Anthologie mit Übersetzungen chinesischer SF aus den Achtzigerjahren. Wus Einleitung stellt einen knappen Abriss der chinesischen Science-Fiction vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bis Anfang der Achtzigerjahre unter Erwähnung aller relevanten Autoren und Vorkämpfer des Genres und mit besonderer Berücksichtigung der frühen Reformphase dar. Zum damaligen Zeitpunkt war sie die umfassendste Darstellung des Genres in englischer Sprache.
1997 erschien schließlich David Der-wei Wangs bahnbrechendes Werk Fin-de-siecle Splendor: Repressed Modernities of Late Qing Fiction 1848 – 1911 (Stanford 1997). Das Kapitel »Confused Horizons: Science Fantasy« stellt die maßgebliche Analyse zur Science-Fiction der späten Qing-Zeit dar, die nach der Pionierarbeit von Liang Qichao eine etwa zehn Jahre währende Blütezeit erlebte (von 1902 bis 1911). Wang kombiniert Textanalyse mit Kulturgeschichte und legt besonderes Augenmerk auf den narrativen Einfallsreichtum und die Epistemologie seiner Quellen. Diese Studie hatte großen Einfluss auf die nachfolgende Forschung zum Thema, und es lässt sich ohne Übertreibung feststellen, dass Wangs Buch geradezu eine Wiederentdeckung der späten Qing-Literatur (und auch ihrer Science-Fiction) als Forschungsgegenstand zur Folge hatte.
Der Pionier der Science-Fiction-Forschung in China selbst ist zweifellos Wu Yan, der sich jahrzehntelang praktisch im Alleingang wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigte. Neben mehreren akademischen Schriften veröffentlichte Wu 2011 auch eine Monografie mit dem Titel Kehuan wenxue lungang (»Grundzüge der Science-Fiction-Literatur«). Im Gegensatz zu Rudolf Wagner, Wu Dingbo oder David Der-wei Wang konzentriert sich Wu Yan auf die Gegenwartsliteratur, vergleicht sie mit westlichen Werken und analysiert sie unter Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte (Kybernetik, Feminismus, Globalisierung). Heute ist Wu Yan der Einzige, der Doktorarbeiten zur Science-Fiction betreuen darf, und gilt unbestritten als der führende Wissenschaftler auf diesem Gebiet.
Als die chinesische Science-Fiction internationale Beachtung erfuhr, gab Wu Yan eine Sonderausgabe von Science Fiction Studies mit etwa zehn wissenschaftlichen Artikeln zur Geschichte dieser Literatur von der späten Qing-Zeit über Lao Shes Stadt der Katzen und die Achtzigerjahre bis hin zum Siegeszug des Genres nach 2000 heraus. Diese Sonderausgabe, die einen Meilenstein in der Herausbildung dieses Wissenschaftsgebiets darstellt, enthielt unter anderem auch Beiträge von Liu Cixin und Han Song.
Meine eigene Forschung zu chinesischer Science-Fiction beschränkt sich auf zeitgenössische Autoren, insbesondere die der chinesischen New Wave (ein Begriff, den ich aus der britischen SF-Geschichte entlehnt habe, um dieser neuen Entwicklung des Genres mit seinem sozialen Engagement und künstlerischen Innovationsdrang einen Namen zu geben). Dass es sich hierbei um eine provokante Definition handelt, ist mir bewusst. Ich habe vier Artikel auf Englisch (von denen zwei ins Französische und Deutsche übersetzt wurden) sowie eine Vielzahl von Abhandlungen und Essays auf Chinesisch verfasst. In einem meiner letzten Artikel, »Representations of the Invisible: Poetics and Politics of Contemporary Chinese Science Fiction«, legte ich dar, dass diese sogenannte New Wave ein Resultat der politischen Kultur nach 1989 ist und nicht nur das Genre wiederbelebt hat, sondern auch seine eigenen Bedingungen unterwandert, die in der Volksrepublik beinahe das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch von politischem Utopismus und technologischem Optimismus diktiert wurden. Die gegenwärtige Science-Fiction verleiht dem Genre neuen Schwung, indem sie eine Vielzahl von Genrekonventionen, kulturellen Elementen und politischen Visionen neu denkt – von Space Opera über Cyberpunk bis zur Utopie und Posthumanismus, von der Parodie auf den Aufstieg Chinas bis zur Dekonstruktion des nationalen Mythos. In gewisser Weise hat die chinesische Science-Fiction ihr Goldenes Zeitalter im selben Augenblick eingeläutet, in dem diese New Wave sich daranmachte, die Konventionen des Genres zu unterlaufen. Diese dunkle, subversive Seite dieser neuen Science-Fiction postuliert sowohl eine »unsichtbare« Dimension der Wirklichkeit als auch die Unmöglichkeit, sich auf eine bestimmte, vom Realismus des Mainstreams definierte »Wirklichkeit« einzulassen. In ihren radikalsten Ausprägungen fordert die New Wave den Leser in schönster Avantgarde-Manier dazu heraus, über die konventionelle Wahrnehmung der Realität hinauszublicken und herkömmliche Vorstellungen von Fortschritt, Entwicklung, Wirtschaftswunder, Nation und Volk infrage zu stellen.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur Autoren aus der Volksrepublik, sondern auch aus Taiwan und Hongkong insbesondere auf dem Gebiet der experimentellen Literatur wichtige Beiträge geliefert haben – wie etwa Lo Yi-chin, Dung Kai-cheung und Ng Kim-chew, die Elemente der Science-Fiction in komplexe literarische Experimente zu den Themen Heterotopie, Posthumanität und Identitätsmetaphern einbetten. Chinesische Science-Fiction ist eine Goldmine, die nur darauf wartet, entdeckt und der Weltöffentlichkeit vorgestellt zu werden .
Durch meine Tätigkeit als Redakteur verschiedener Sonderausgaben zum Thema und als Organisator diverser Fachtagungen lernte ich eine Reihe von Wissenschaftlern mit interessanten Spezialgebieten kennen. Adrian Thieret beispielsweise schreibt über den Kosmopolitismus bei Liu Cixin; Cara Healey forscht über Genreüberschreitung und Transnationalismus in der Science-Fiction; Hua Li beleuchtet verschiedene Aspekte des Politischen, Ökologischen und Metaphorischen in der chinesischen SF; Jiang Jing beschäftigt sich mit der Science-Fiction der späten Qing-Zeit und der sozialistischen SF der Fünfziger- bis Achtzigerjahre als Ursprung der modernen chinesischen Literatur. Nachdem Nathaniel Isaacson sein Buch über die Qing-Zeit veröffentlichte, behandelt er nun die Science-Fiction der chinesischen Republik und der frühen Volksrepublik. Ich selbst bereite eine Arbeit über die Heterotopien bei einer Reihe von Autoren aus Taiwan und Hongkong vor. Wissenschaftler wie Li Guangyi, Ren Dongmei, Liang Qingsan und Zhang Feng (Sanfeng) haben wichtiges Material zur weiteren Erforschung des Genres beigetragen, sodass wir hoffentlich bald mit einer umfassenderen Bibliografie und einfacher zugänglichen Quellen rechnen dürfen.
Dieser neue, faszinierende Kontinent wird zusehends größer. Ich bin mir sicher, dass die chinesische Science-Fiction demnächst das am stärksten wachsende Forschungsgebiet der chinesischen Literaturwissenschaft sein wird, wenn sie es nicht schon ist. Und damit ändert sich auch die Forschung selbst, unser Verständnis der chinesischen Literatur, sowohl was ihre Geschichte als auch was ihr Potenzial zur künftigen Entwicklung angeht.